Ausreißer

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Omi O kauft bei Verkäufer V einen neuen E-Scooter des Herstellers H. Bei der ersten Fahrt bricht die Achse am Vorderrad. O stürzt und bricht sich den kleinen Finger. Ursache für den Achsenbruch sind kleine Risse im Material, die aber bei keinem anderen Scooter dieser Serie des H aufgetreten sind. Einen solchen "Ausreißer" konnte H auch trotz Anwendung der zumutbaren Sicherheitsvorkehrungen und Befundsicherung nicht verhindern.

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Einordnung des Falls

Ausreißer

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Hersteller einer Ware hat bestimmte Verkehrspflichten.

Genau, so ist das!

Wer Waren herstellt und in den Verkehr bringt, muss alle erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um Schädigungen durch sein Produkt zu vermeiden (herstellerspezifische Verkehrspflicht). Den Hersteller treffen dabei vor allem vier verschiedene Verkehrspflichten: (1) Konstruktions-, (2) Fabrikations-, (3) Instruktions- und (4) Produktbeobachtungspflicht. Die Verletzung einer dieser Pflichten wird grundsätzlich nicht vermutet, sondern ist vom Geschädigten darzulegen und zu beweisen. Eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Verkehrspflichtverletzung tritt grundsätzlich nur dann ein, wenn der Geschädigte beweisen kann, dass (1) das Produkt einen Fehler hatte, der für die Rechtsgutsverletzung kausal war (Fehlernachweis) und (2) dieser Fehler schon beim Inverkehrbringen der Sache bestand und dem Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers entstammt (Fehlerbereichsnachweis).
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2. Der E-Scooter hat einen Konstruktionsfehler.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt seiner Konstruktion oder Zusammensetzung nach nicht diejenige Beschaffenheit hat, die man zur Vermeidung einer Gefahr für andere erwarten muss. Der Konstruktionsfehler ist ein Serienfehler, wenn das Produkt in Serie hergestellt wird. Hier ist nicht die ganze Serie des E-Scooters betroffen, sondern ein einzelnes Exemplar.

3. Der E-Scooter hat einen Fabrikationsfehler.

Ja!

Ein Fabrikationsfehler liegt vor, wenn bei der Fertigung eines (ordnungsgemäß konstruierten) Produkts eine planwidrige Abweichung von der Sollbeschaffenheit eintritt. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass es bei der Herstellung einzelner Stücke zu einer planwidrigen Abweichung kommt. Hier weist ausschließlich der Scooter der O eine Beschaffenheitsabweichung in Form kleiner Risse auf.

4. H hat seine Fabrikationspflicht verletzt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Steht fest, dass die Istbeschaffenheit des Produkts von der vom Hersteller selbst angestrebten Sollbeschaffenheit abweicht, ist die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB nicht automatisch begründet. Das Deliktsrecht verpflichtet den Hersteller nicht dazu, eine Fehlerquote von Null zu garantieren. Absolute Sicherheit ohne Rücksicht auf die technischen Möglichkeiten und die Kosten von Sicherungsmaßnahmen ist nicht geschuldet, denn auch bei noch so sorgfältiger Produktion und Qualitätskontrolle lässt sich nicht ausschließen, dass einzelne Stücke (Ausreißer) mit Fabrikationsfehlern in den Verkehr gebracht werden. Bei den kleinen Rissen im Material handelt es sich um einen unvermeidbaren Ausreißer. Es liegt keine Pflichtverletzung vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CR7

CR7

6.7.2023, 10:27:32

Wäre hier ein Anspruch aus § 1 Abs. 1 ProdHaftG gegeben?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

7.7.2023, 10:57:48

Hallo (af), danke für deine Frage. Es liegen alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen vor. Damit besteht ein Anspruch aus § 1 ProdHG. Insbesondere ist ein Schaden durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht worden. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Dogu

Dogu

6.8.2024, 15:03:23

Sollte hier nicht eher das Verschulden verneint werden, da nicht einmal Fahrlässigkeit vorliegt, oder wird bei Verkehrssicherungspflichten nicht zwischen Pflichtverletzung und Verschulden unterschieden?

LS2024

LS2024

28.8.2024, 10:10:52

Bin auch darüber gestolpert und habe nachgeschaut. Für eine Verortung des Ausreißereinwands beim Verschulden: BeckOGK/T. Voigt, 1.7.2024, BGB § 823 Rn.

657

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Dogu

Dogu

28.8.2024, 11:11:16

Danke : )

Juraddicted

Juraddicted

9.10.2024, 11:31:47

Mir ist leider noch nicht ganz klar, wie sich das bedingt. Wegen der Gefährdungshaftung im ProdhaftG prüft man diesen AS besser vor § 823. Kann sich der Hersteller bei § 1 ProdhaftG auch iwie indirekt über eine "Beweislast" exkulpieren? Könnte er also jemanden gefährden und wenn derjenige nicht die Verletzung einer Pflichten darzulegen und beweisen kann, ist der Hersteller "raus"? Scheitert dann auch immer der § 823 oder kann das "Verschulden" den Geschädigten noch "retten"? Vielen Dank :)

LELEE

Leo Lee

13.10.2024, 06:30:33

Hallo Juraddicted, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Der Produzent kann selbstverständlich - vor allem bzgl. der Ausschlusstatbestände - die nötigen Beweise erbringen, damit er den Tatbestand "rauskicken" kann, dann muss er eben die Tatsachen vortragen, die ihn entlasten. Da diese Beweissituation dann auch die des 823 entsprechen wird, würde bei entsprechender Entlastung auch der 823 ausscheiden. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Wagner § 1 ProdHaftG Rn. 78 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Juraddicted

Juraddicted

14.10.2024, 17:01:10

Super, vielen Dank! :) Das habe ich nachgeschaut und verstehe es jetzt. Liebe Grüße Für alle, das steht in der Fundstelle: "Nach allgemeinen Grundsätzen wäre der Geschädigte mit der Darlegung und dem Nachweis der Haftungsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1, also Vorliegen eines Produktfehlers im Zeitpunkt der Inverkehrgabe, Rechtsgutsverletzung, Schaden, haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität belastet. Damit entspräche die Beweissituation im Wesentlichen derjenigen bei der deliktischen Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB (→ BGB § 823 Rn. 1136 ff.). Diese Allokation der Beweislast beim Geschädigten wird in § 1 Abs. 2 und 3 zum Teil korrigiert, um dem Prinzip der Waffengleichheit zu entsprechen. Das Ergebnis dieses Kompromisses ist ein differenziertes System, das zudem noch durch die allgemeinen, richterrechtlichen Institute zur Korrektur gesetzlicher Beweislastregeln ergänzt werden kann."


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