Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Anfechtung der Willenserklärung

Thonet-Stühle (Unterscheidung zw. Wert und Eigenschaft, Urheberschaft als verkehrswesentliche Eigenschaft)

Thonet-Stühle (Unterscheidung zw. Wert und Eigenschaft, Urheberschaft als verkehrswesentliche Eigenschaft)

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S schenkt ihrer Freundin F Stühle aus dem Nachlass ihrer Oma, die sie für wertlosen Ramsch hält. Als sich herausstellt, dass es sich um sehr teure „Thonet 214“-Designer-Stühle handelt, verlangt sie die Stühle sofort zurück.

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Einordnung des Falls

Thonet-Stühle (Unterscheidung zw. Wert und Eigenschaft, Urheberschaft als verkehrswesentliche Eigenschaft)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S und F haben einen Schenkungsvertrag über die Stühle geschlossen (§ 516 BGB).

Ja!

Ein Vertrag kommt zustande durch zwei inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen: Angebot und Annahme (§§ 145, 147 BGB). Diese liegen hier vor. Dass der Schenkungsvertrag nicht wie grundsätzlich erforderlich notariell beurkundet wurde (§§ 516 Abs. 1, 128 BGB) ist bei einer hier vorliegenden Handschenkung unschädlich. Denn der Formmangel wird durch Bewirkung der Leistung in Form der Übereignung der Stühle (§ 929 S. 1 BGB) sofort geheilt (§ 518 Abs. 2 BGB).
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2. S kann ihr Schenkungsangebot anfechten, weil sie sich über den Hersteller der Stühle geirrt hat (§§ 142 Abs. 1, 119 Abs. 2 BGB).

Genau, so ist das!

Der Eigenschaftsirrtum stellt eine Ausnahme von der Regel dar, dass die Motive, die den Erklärenden zum Vertragsschluss bewegen, nicht zur Anfechtung berechtigen. Dazu muss der Erklärende jedoch über verkehrswesentliche Eigenschaften der Sache geirrt haben. Eigenschaft einer Sache sind alle wertbildenden Faktoren. Sie sind verkehrswesentlich, wenn sie von der Verkehrsanschauung oder der Parteienabrede als wesentlich anzusehen sind. Der Hersteller von Möbeln stellt eine solche verkehrswesentliche Eigenschaft dar, da er immense Auswirkungen auf deren Wert hat. Da S hierüber irrte, ist sie gem. § 119 Abs. 2 BGB zur Anfechtung berechtigt.

3. S hat die Anfechtung ihrer Willenserklärung gerichtet auf Abschluss des Schenkungsvertrages innerhalb der Anfechtungsfrist erklärt (§§ 143, 121 BGB).

Ja, in der Tat!

Die Anfechtung muss bei einem Inhalts-, Erklärungs-, Eigenschafts- oder Übermittlungsirrtum ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat. Die Anfechtung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner. Bei einem Vertrag ist das der andere Teil. Dabei muss das Wort „Anfechtung“ nicht benutzt werden, solange sich aus den Umständen der eindeutige Wille des Erklärenden ergibt, an den Vertrag nicht mehr gebunden sein zu wollen (§§ 133, 157 BGB). In dem sofortigen Zurückverlangen der S nach Erkennen des Irrtums liegt eine fristgerechte Anfechtungserklärung.

4. S kann Rückgabe und -übereignung der Stühle verlangen (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB).

Ja!

F hat Eigentum und Besitz an den Stühlen durch Leistung der S erlangt. Durch die Anfechtung wird der Schenkungsvertrag als Rechtsgrund von Anfang an (ex tunc) nichtig, sodass er nie bestanden hat. Nach hM kann S somit nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB Übergabe und Übereignung der Stühle verlangen (nicht nach § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB wegen Wegfall des rechtlichen Grundes).

5. S kann auch ihre Willenserklärung gerichtet auf Übereignung der Stühle anfechten (§§ 142 Abs. 1, 119 Abs. 2 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Grundsätzlich ist auch eine Anfechtung der Übereignungserklärung möglich, wenn ein Anfechtungsgrund vorliegt, auf dem die abgegebene Willenserklärung kausal beruht. Allerdings hat S die Stühle nicht übereignet, weil sie sie für wertlos hielt oder sich über den Hersteller irrte, sondern um ihre Verpflichtung aus dem Schenkungsvertrag zu erfüllen. Der Eigenschaftsirrtum war also nicht kausal für die Abgabe der Übereignungserklärung.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LER

Lernfuchs

1.3.2020, 14:26:37

Im sachverhalt steht doch, dass S die Stühle für wertlos hielt. Dann ist doch die Antwort der letzten Frage, dass sie die Stühle nicht für wertlos hielt falsch, oder nicht? Denn sie hielt diese ja für wertlos.

Marilena

Marilena

2.3.2020, 12:17:46

In der letzten Antwort geht es um die WE bzgl der dinglichen Einigung, nicht bzgl des Schenkungsvertrags (

Trennungsprinzip

). Wegen des Abstraktionsprinzips sind das Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft in ihrer Wirksamkeit voneinander unabhängig. Ob ein

Eigenschaftsirrtum

auch das

Verfügungsgeschäft

betrifft (dann läge

Fehleridentität

vor), muss gesondert festgestellt werden. Maßgeblich ist der Inhalt des dinglichen Vertrags. Dieser beschränkt sich idR auf die Herbeiführung der Verfügungswirkungen (Rechtsübertragung) sowie die Bestimmung des Verfügungsgegenstandes und der Parteien (= dinglich-abstrakter Minimalkonsens). Die Parteien machen sich über die Eigenschaften der Sache in diesem Stadium grds keine Gedanken mehr, sodass diese nicht Inhalt des dinglichen Vertrags werden.

Marilena

Marilena

2.3.2020, 12:19:11

Mit entsprechender Begründung ist aber sicherlich auch ein anderes Ergebnis vertretbar.

Isabell

Isabell

23.4.2020, 17:08:57

Dann ist ja eine Anwendung auf das dingliche Geschäft quasi nie möglich. Die Annahme dahinter - derjenige der übereignet hat dabei das Motiv, den Vertrag zu erfüllen - für konstruiert.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

31.5.2020, 10:18:17

Deswegen ist ja auch sehr strittig, ob es

Fehleridentität

bei 119 II BGB überhaupt gibt.

PSR

PSR

19.11.2020, 14:25:19

Die Gegenansicht verweist auf den sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Wenn die Eigenschaften einer Sache nicht Gegenstand der dinglichen Einigung werden, dann wüsste man nicht worauf sich die Einigung beziehe. Eine Sache ist schließlich durch ihre Eigenschaften von anderen Sachen abgrenzbar. In den meisten Examensklausuren, die ich geschrieben hab, hat die Lösungsskizze die Anwendbarkeit des

Eigenschaftsirrtum

s auf die dingl. Einigung nicht einmal problematisiert. Deswegen sollte meiner Ansicht nach diese Ansicht nicht so apodiktisch hingestellt werden.

Pilea

Pilea

7.10.2022, 09:18:37

Die notarielle Beurkundungspflicht ergibt sich aus §518, nicht §516 I; Die Verlinkung ist falsch. LG

SS

Strand Spaziergang

25.3.2023, 10:31:20

Könnt ihr mir bitte erklären, warum sich das Recht auf

Rückübereignung

nicht aus §812 I S1 Alt 2 ergibt? Ich hätte gedacht, dass es gerade Alt 2 sein muss, weil durch die Anfechtung die Rechtsgrundlage nämlich das Verpflichtungsgeschäft, weggefallen ist. Danke :-)

SE.

se.si.sc

26.3.2023, 10:12:50

Zunächst: Du schreibst "812 I 1, 2. Alt.", meinst aber vermutlich "812 I 2, 1. Alt.", weil du dich auf den Wegfall des rechtlichen Grunds beziehst, oder? Zur Sache: Tatsächlich wird beides vertreten, das ist auch so ein ewiger Streit. Mit deiner Ansicht dürftest du mittlerweile vermutlich (deutlich?) in der Minderheit sein. Für diese Ansicht ließe sich anführen, dass uns irgendwelche anfechtungsrechtlichen Rückwirkungsfiktionen im Bereicherungsecht nicht zu interessieren brauchen und rein von der zeitlichen Abfolge her der Rechtsgrund eben erst bestand und anschließend durch Anfechtung der darauf gerichteten Willenserklräung beseitigt worden ist. Für die meines Erachtens überzeugendere Gegenansicht spricht § 142 I BGB, wonach ein Rechtsgeschäft, das auf einer angefochtenen Willenserklärung beruht, als von Anfang an (fiktiv rückwirkend) nichtig anzusehen ist. Dementsprechend "fällt hier nichts weg", sondern es "besteht schon von Anfang an nicht" und die Rückabwicklung machen wir deswegen über § 812 I 1, 1. Var. BGB. In der Praxis hat der Streit übrigens keine Auswirkungen.

SS

Strand Spaziergang

4.4.2023, 20:52:29

Vielen Dank für deine ausführliche Erklärung. Leuchtet mir ein.

REUS04

Reus04

19.4.2023, 12:07:15

Könnte S hier auch wegen eines Inhaltsirrtums anfechten?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.4.2023, 13:47:19

Hallo Reus04, danke für deine Frage. Ein Inhaltsirrtum liegt vor wenn der Erklärende weiß was er sagt, aber nicht weiß was er damit sagt - er irrt also über den Sinn des Erklärungszeichens. Hätte S also "Stuhl" gesagt in dem Glauben, es würde Tisch bedeuten läge ein Inhaltsirrtum vor. Sie hat aber "Stuhl" gesagt und meinte auch genau das Objekt zum drauf sitzen, mit einer über dem Boden erhobenen Sitzfläche und Rückenlehne. Sie hat also nicht über den Sinn dessen geirrt, was sie gesagt hat. Ihr Irrtum bezog sich auf das Objekt ihrer Erklärung, mithin liegt lediglich ein

Eigenschaftsirrtum

vor. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

B🐝

Bienenschwarmvereinigung 🐝🐝🐝

8.8.2024, 10:33:19

so ganz verstehe ich aber den Unterschied zu dem Salami-Fall nicht, bei welchem ihr zugleich neben dem

Eigenschaftsirrtum

auch einen Inhaltsirrtum angenommen habt - wie bei der Wurst irrt hier die Person subjekitv über den Inhalt ihrer Erklärung "ich schenke dir hier diesen "ramsch-stuhl" weil sie eigentlich objektiv damit erklärt "ich schenke dir diesen XY Stuhl(der einen viel höheren Wert hat)"

SI

silasowicz

7.8.2023, 21:06:27

Führt die Nicht

anfechtbarkeit

der ursprünglichen

Übereignung

s-WE der S folglich zum Ausschluss von EBV-Ansprüchen gegen F und wäre das quasi eine Art Kompensation dafür, dass F die Stühle wieder zurückübereignen muss?

LELEE

Leo Lee

9.8.2023, 17:27:46

Hallo silasowicz, genauso ist es. Für die §§ 987 ff. würde es somit am Punkt "Eigentümer" fehlen. Ebenfalls ist richtig, dass die Tatsache, das die F die Stühle zurückgeben muss (obwohl sie selbst nichts falsch gemacht hat sondern die S, die sich eben geirrt hat), durch das Nichtgreifen der EBV-Pflichten "kompensiert" wird :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

QUIG

QuiGonTim

13.9.2023, 21:01:58

Der Schenkungsvertrag wurde aufgrund der verletzten Formvorschrift aus § 518 Abs. 1 BGB erst mit Heilung des Formfehlers nach § 518 Abs. 2 geheilt. Indem Moment, in dem S die

Übereignung

serklärung abgab, verpflichtete der Schenkungsvertrag demnach noch nicht. Sie konnte also gar nicht übereignen, um die Verpflichtung aus dem Schenkungsvertrag zu erfüllen.

MAT

Matteo10

19.10.2023, 11:41:40

ich bin mir nicht sicher aber ich würde hier zumindest darauf abstellen, dass S auf den „vermeintlichen“ Schenkungsvertrag hin übereignet hat. Weil würde man das konsequent weiterdenken, fiele ja durch die Anfechtung rückwirkend der Schenkungsvertrag weg und sie hätte wieder nicht die Verpflichtung aus dem Schenkungsvertrag erfüllen können.


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