Lebensgefahr für zweimonatigen Säugling/ Inobhutnahme bei dringender Gefahr (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Eltern ernähren Jannis (2 Monate alt) nur unzureichend. Er droht auszutrocknen oder zu verhungern. Die Eltern reagieren nicht, als das Jugendamt versucht, Kontakt aufzunehmen.

Einordnung des Falls

Lebensgefahr für zweimonatigen Säugling/ Inobhutnahme bei dringender Gefahr (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Inobhutnahme ist auch möglich, wenn der Minderjährige nicht selbst darum bittet.

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Genau, so ist das!

Ja, das ist möglich! Dies setzt im Kern voraus, dass eine dringende Gefahr für das Wohl des Minderjährigen besteht (Kindeswohlgefährdung, § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Zweck der Jugendhilfe ist der Schutz des körperlichen, geistigen und seelischen Wohls des Minderjährigen.

2. Es besteht eine "Gefahr" für das "Wohl" des Jannis (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII).

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Ja, in der Tat!

Eine Gefahr besteht, wenn im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung konkrete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für das Wohl des Minderjährigen eintritt. Je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Das "Wohl" des Minderjährigen umfasst das physische und psychische Wohl, z.B. die Rechtsgüter Leib und Leben. Hier sind beide betroffen: Jannis ist durch Unterernährung bereits in seinem Rechtsgut "Leib" verletzt. Und sein Leben ist aufgrund konkreter Umstände gefährdet. Denn bei ungehindertem Geschehensablauf droht er auszutrocknen oder zu verhungern. Da das Rechtsgut Leben eines der höchsten ist, sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Verletzung sehr niedrig.

3. Die Gefahr für das Wohl des Jannis ist auch "dringend" (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII).

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Ja!

Die Gefahr ist dringend, wenn es sich bei dem gefährdeten Rechtsgut des Minderjährigen um ein besonders wichtiges Rechtsgut handelt, konkret: Leib oder Leben. Genau das ist hier der Fall: Jannis ist durch Unterernährung bereits in seinem Rechtsgut "Leib" verletzt. Und sein Leben ist aufgrund konkreter Umstände gefährdet.

4. Die Inobhutnahme von Jannis durch das Jugendamt ist "erforderlich" (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII).

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Genau, so ist das!

Die Inobhutnahme ist erforderlich wenn die Kindeswohlgefährdung nicht durch andere öffentliche Hilfen oder Maßnahmen (z.B. Hilfen des Jugendamts oder eine familiengerichtliche Entscheidung) gleich wirksam abgewendet werden kann. Das Jugendamt muss prüfen, ob andere rechtmäßige Hilfen zur Abwendung der Kindeswohlgefahr in Betracht kommen und rechtzeitig angeboten werden können (z.B. nach § 8a SGB VIII). Bei unterversorgten Säuglingen kommt es auf die schnelle Sicherung der Basisbedürfnisse an. Die Abwendung der Gefahr durch Zusammenarbeit mit den Eltern führte nicht zum Erfolg. Andere Hilfen können aufgrund des lebensbedrohlichen Zustands von J auch nicht mehr rechtzeitig erfolgen.

5. Das Jugendamt muss vor der Inobhutnahme von Jannis eine Entscheidung des Familiengerichts einholen (§ 8a Abs. 2, 42 Abs. 1 Nr. 2 b) SGB VIII).

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Nein, das trifft nicht zu!

Fehlt es an der erforderlichen Zustimmung der Eltern, ist eine eigenmächtige Inobhutnahme durch das Jugendamt nur zulässig, wenn eine Entscheidung des Familiengerichts nicht mehr rechtzeitig einholbar ist. Das Familiengericht befasst sich mit allen etwaig notwendigen Maßnahmen und Hilfen aus Anlass der Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII). Familiengerichte verfügen über einen Bereitschaftsdienst und Eilverfahren werden beschleunigt behandelt (§ 157 Abs. 3 FamFG). Dennoch ist je nach Einzelfall mit einer Bearbeitungszeit von einigen Stunden/Tagen bis Wochen zu rechnen. Jannis ist stark unterversorgt und in Lebensgefahr. Das Jugendamt kann und darf eine familiengerichtliche Entscheidung nicht mehr abwarten.

6. Vor einer Inobhutnahme muss das Jugendamt versuchen, die Personensorgeberechtigten des Minderjährigen zu kontaktieren. Diese können der Inobhutnahme widersprechen (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 a) SGB VIII).

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Ja!

Bei der Inobhutnahme wegen Kindeswohlgefahr muss das Jugendamt die Personensorgeberechtigten vor der Entscheidung über die Inobhutnahme kontaktieren. Das ergibt sich nicht ganz offensichtlich aus dem Wortlaut des § 42 Abs. 1 Nr. 2 a) SGB VIII. Die Rechtsprechung schließt daraus, dass die Norm eine nummerierte Reihenfolge enthält (Buchstabe a: Eltern widersprechen nicht, Buchstabe b: familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig möglich), dass das Jugendamt vorrangig immer zunächst versuchen muss, die Eltern zu erreichen, Hilfen (§§ 27 ff. SGB VIII) anzubieten. Dies soll das vorrangige Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) schützen. Hier hat das Jugendamt dies versucht, konnte die Eltern jedoch nicht erreichen.

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