Öffentliches Recht

Verwaltungsrecht AT

Nichtigkeit von Verwaltungsakten

Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG, bei einschlägigem § 44 Abs. 3 plus besonderer Umstände

Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG, bei einschlägigem § 44 Abs. 3 plus besonderer Umstände

10. Dezember 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Sachbearbeiter S ist seit Jahren zutiefst zerstritten mit seiner Mutter M. Um M eins auszuwischen, erlässt S gegenüber M einen Gebührenbescheid für Müllgebühren, der die gesetzlich vorgesehenen Gebühren deutlich überschreitet. M fragt sich, ob sie gegen die Höhe des Bescheids vorgehen muss.

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Einordnung des Falls

Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG, bei einschlägigem § 44 Abs. 3 plus besonderer Umstände

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wird durch einen Gebührenbescheid mehr verlangt, als es die gesetzliche Grundlage vorsieht, ist dieser materiell rechtswidrig.

Ja, in der Tat!

Die Verwaltung kann nur Gebühren in der Höhe festsetzen, die von der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Gebührenbescheids (= Verwaltungsakts) vorgesehen ist. Werden zu hohe Gebühren verlangt, ist der Bescheid materiell rechtswidrig, weil die gewählte Rechtsfolge gegen geltendes Recht verstößt. S hat zu hohe Gebühren angesetzt, als gesetzlich vorgesehen. Der Bescheid ist damit materiell rechtswidrig. Vor der Prüfung, ob die richtige Rechtsfolge gewählt wurde, musst du grundsätzlich prüfen, ob die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage überhaupt vorliegen. Dies wurde hier aus didaktischen Gründen weggelassen.
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2. Ist der Verwaltungsakt auch deswegen rechtswidrig, weil S ihn gemäß § 20 Abs. 1 S.1 Nr. 2, Abs. 5 S.1 Nr. 3 VwVfG nicht erlassen durfte?

Ja!

Gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 VwVfG darf in einem Verwaltungsverfahren für eine Behörde nicht tätig werden, wer Angehöriger eines Beteiligten ist. Wer Angehöriger im Sinne der Vorschrift ist, regelt § 20 Abs. 5 VwVfG. Danach sind u.a. die Verwandten in gerader Linie Angehörige (§ 20 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 VwVfG). Ein Verstoß gegen die Vorschrift führt zur formellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns. M ist als Mutter in gerade Linie mit S verwandt. Der Verwaltungsakt ist (auch) rechtswidrig aufgrund des Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 VwVfG.

3. Allein der Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten muss dazu führen, dass der Verwaltungsakt nichtig ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 44 Abs. 3 VwVfG enthält Konstellationen, die für sich genommen nicht zur Nichtigkeit eines Verwaltungsakts führen, darunter auch ein Verstoß gegen § 20 Satz 1 Nr. 2 - 6 VwVfG (§ 44 Abs. 3 Nr. 2 VwVfG). Eine Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG kann in diesem Fall nur bejaht werden, wenn noch weitere besondere Umstände hinzukommen. Allein der Umstand, dass M die Mutter von S ist, führt nicht zur Nichtigkeit des Gebührenbescheids.

4. Liegen hier weitere Umstände vor, die eine Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG begründen?

Ja, in der Tat!

Liegen Fehler nach § 44 Abs. 3 VwVfG vor, so kann der Verwaltungsakt dennoch nach § 44 Abs. 1 VwVfG (relative Nichtigkeit) nichtig sein, wenn weitere Umstände vorliegen. Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG setzt voraus, das der Verwaltungsakt an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Es kommt auf eine Gesamtschau an, d.h. auch die unter § 44 Abs. 3 VwVfG fallenden Umstände werden mit in die Bewertung einbezogen. Der Bescheid ist zum einen in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig. Er verstößt gegen ein Mitwirkungsverbot und gegen die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage. Zum anderen hat S ihn aus Wut absichtlich fehlerhaft erlassen. Der Verwaltungsakt verstößt in erheblichen Maße gegen die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Aus der Sicht eines verständigen, objektiven Bürgers ist es unerträglich, wenn der Bescheid (vollständig) Rechtswirkung entfalten würde. Hier wäre daran zu denken, dass der Bescheid nur teilnichtig in der Höhe des Betrages sein könnte, der im Bescheid zu viel verlangt wird (§ 44 Abs. 4 VwVfG).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

SN

Sniter

13.6.2023, 20:50:50

Hi, ich glaube der Verweis auf § 44 III VwVfG im allerletzten Vertiefungshinweis ist falsch. Da sich die Nichtigkeit des VA im vorliegenden Fall aus § 44 I VwVfG ergibt, folgt die Rechtsfolge der grds Teilnichtigkeit bereits im § 44 I VwVfG ("soweit"). § 44 IV VwVfG besagt dagegen gerade das Gegenteil dessen, was -so habe ich den Fall verstanden- Ihr mit dem Hinweis andeuten wollt: § 44 IV VwVfG besagt mE, dass wenn ein VA nur teilnichtig ist, er unter zus. VSS "gesamt"-nichtig sein kann. Im vorliegenden Fall geht es aber doch darum, dass nur der "überschießende" Teil des VA, dh bzgl. der zu hohen Gebühren, nichtig ist.

SN

Sniter

15.6.2023, 16:08:51

Hi, warum führt ein Verstoß gegen § 20 VwVfG zur materiellen und nicht zur formellen Rechtswidrigkeit des VA?

MLENA

MLena

2.10.2023, 15:09:48

Das würde mich auch interessieren, vllt könnte ja noch jemand antworten, bitte? :)

Nedjem

Nedjem

24.1.2024, 13:34:08

Hey ihr zwei, ich verstehe das so: es ist zu unterscheiden zwischen rechtswidrigem und nichtigen VA, die unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen. Die Begriffspaare „rechtmäßig/rechtswidrig“ und „rechtswirksam/-unwirksam“ sind daher grundsätzlich streng voneinander zu trennen! Wir prüfen die Nichtigkeit des VA. Zuerst wird geprüft, ob der Gebührenbescheid

formell rechtmäßig

ist. M war nach § 13 I Nr. 2 Alt. 2 VwVfG an dem auf Erlass des Gebührenbescheids gerichteten Verwaltungsverfahren beteiligt. S ist als Sohn gem. § 1589 S. 1 BGB mit M in gerader Linie verwandt, mithin Angehöriger i.S.d. § 20 I 1 Nr. 2, V Nr. 3 VwVfG und durfte deshalb in diesem Verwaltungsverfahren nicht für die

Behörde

tätig werden. Schon deshalb ist also der VA formell rechtswidrig. ABER: § 44 III Nr. 2 VwVfG bestimmt ausdrücklich, dass der Umstand allein, dass an dem Verfahren eine nach § 20 I Nr. 2 VwVfG ausgeschlossene Person mitgewirkt hat, gerade nicht zur Nichtigkeit des VA führt. Wegen eines formellen Rechtsfehlers ist der Verwaltungsakt somit nicht nichtig. Sodann wird die

materielle Rechtmäßigkeit

des VA geprüft: die Voraussetzungen der EGL sind hier aufgrund der zu hohen Gebührenforderung nicht erfüllt, damit ist der VA

materiell rechtswidrig

. Fraglich ist, ob der VA deswegen auch nichtig nach

§ 44 VwVfG

ist. Die speziellen Nichtigkeitsgründe des § 44 II VwVfG greifen nicht; es bleibt die Generalklausel des § 44 I VwVfG. Diese ist erfüllt, damit ist der VA (teil-) nichtig.


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