Zurechnung von Mitverschulden über Treu und Glauben


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Ehemann M und Ehefrau F machen mit von V gemieteten Fahrrädern eine Tour durch die Alpen. V hatte fahrlässig die Bremsen am Rad des M nicht richtig eingestellt. M fährt schnell einen Berg hinab und holt dabei sein Handy raus. Plötzlich sieht M einen Stein auf der Straße; er versucht noch mit einem Arm zu bremsen, die Bremse funktioniert aber nicht richtig. Ausweichen kann er einhändig nicht mehr. M stürzt und stirbt; F erleidet jetzt eine behandlungsbedürftige Depression.

Einordnung des Falls

Zurechnung von Mitverschulden über Treu und Glauben

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F hat gegen V einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB.

Ja!

In Schockschadenfällen, wenn also die Verletzung des Anspruchsstellers eine eigene psychische Reaktion auf das Erlebte darstellt, müssen zwei Besonderheiten vorliegen: (1) Die eigene Körper- oder Gesundheitsverletzung muss Krankheitswert haben und nach Art und Schwere über die normalen gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Tod eines Angehörigen hinausgehen; (2) die Rechtsgutsverletzung ist dem Schädiger nur zurechenbar, wenn der Schockgeschädigte direkt am Schädigungsgeschehen beteiligt ist oder als naher Angehöriger vom Tod erfährt. F hat eine Depression mit Krankheitswert entwickelt und war direkt am Unfall beteiligt.

2. Das Mitverschulden des M kann der F in ihrem Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB analog § 846 BGB zugerechnet werden.

Nein, das ist nicht der Fall!

Direkt gilt § 846 BGB nur für die Fälle der §§ 844, 845 BGB. Nach hM ist § 846 BGB mangels vergleichbarer Interessenlage auch nicht analog auf den Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB anwendbar. Denn bei § 846 BGB geht es (in Verbindung mit § 844 Abs. 3 BGB) darum, dass sich derjenige, dessen eigener Anspruch auf der Rechtsgutsverletzung eines anderen beruht (Tötung des M), ein Mitverschulden dieses anderen zurechnen lassen muss. Im Fall des § 823 Abs. 1 BGB (Schockschaden) wird jedoch ein eigenes Rechtsgut der betroffenen Person verletzt (psychische Gesundheit der F).

3. Das Mitverschulden des M kann der F hier direkt gem. § 254 II 2, 278 BGB zugerechnet werden.

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß § 254 Abs. 2 S. 2 BGB kann dem Geschädigten ein Mitverschulden Dritter bei der Schadensentstehung nach Absatz 1 oder Schadensabwendung nach Absatz 2 zugerechnet werden. Dabei findet „die Vorschrift des § 278 entsprechende Anwendung“. Nach hM ist dies eine Rechtsgrundverweisung, sodass nach hM die Voraussetzungen des § 278 S. 1 BGB vorliegen müssen. Hier ist M weder Erfüllungsgehilfe noch gesetzlicher Vertreter der F, sodass eine Zurechnung nach § 254 Abs. 2 S. 2 BGB ausscheidet.

4. Im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB wird das Mitverschulden des getöteten M der F überhaupt nicht zugerechnet.

Nein!

BGH: Zwar lägen die Voraussetzungen von § 254 Abs. 2 S. 1, 278 BGB nicht vor. Allerdings sei § 254 BGB eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Insofern sei zu berücksichtigen, dass die Verbindung zwischen der Gesundheitsverletzung der F und dem Unfalltod des M gerade dadurch entstanden sei, dass F infolge ihrer engen persönlichen Beziehung zu M durch das ihr zugestoßene Unglück emotional besonders belastet worden sei. Gerade in dieser persönlichen Nähe liege ein wesentlicher Umstand der Zurechnung der Schäden. Wenn aber die enge persönliche Beziehung der ausschlaggebende Grund für den Eintritt der Gesundheitsverletzung der F gewesen sei, dann könne ihr Schadensersatzanspruch vom Verschulden des M billigerweise nicht unberührt bleiben. Das Mitverschulden wird der F daher entsprechend §§ 254, 242 BGB zugerechnet.

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JO

JonasRehder

16.2.2023, 16:37:13

Wie bereits zum vorherigen Fall kommentiert, ergibt sich mMn kein Unterschied mehr zwischen beiden Konstellationen seit der Rechtsprechungsänderung.

DAV

david1234

21.1.2024, 20:34:53

Die Konstellation der Schockschäden war ein Stufenverhältnis. Der Krankheitswert die 1. Stufe, 2. dann, ob es über die Regel hinausgeht. Nach der Änderung der Rsp. gibt es keine 2. Stufe mehr, die 1., den Krankheitswert, benötigst es aber nach wie vor.


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