„Kartoffelpülpe-Fall“

9. Mai 2023

32 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Kartoffelpülpe-Fall (BGH, 20.11.1984): Ein Landwirt verfüttert "Kartoffelpülpe" in großen Mengen an seine Bullen, woraufhin ein Großteil verendet.
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streitig (Rechtsprechung vs. Lehre)
Examensklassiker

A stellt Kartoffelchips her. Er schenkt dem Landwirt B bei der Produktion angefallene flüssige „Kartoffelpülpe“. B verfüttert diese in großen Mengen an seine Bullen, woraufhin ein Großteil verendet. Normalerweise ist Kartoffelpülpe für Bullen verträglich, nicht jedoch in großen Mengen, wenn sie mit Enzymen versetzt ist. Auf die Enzymbehandlung hatte A leicht fahrlässig nicht hingewiesen.

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Einordnung des Falls

Im Kartoffelpülpe-Fall ging es um einen Landwirt, der Schadensersatz von einer Kartoffelchips-Herstellerin verlangte, nachdem 40 seiner Bullen erkrankten oder getötet werden mussten, weil sie mit Enzymen behandelte Kartoffelpülpe gefressen hatten. Die Parteien waren durch einen Schenkungsvertrag über die Kartoffelpülpe verbunden, und es wurde diskutiert, ob die Haftungsprivilegierung des § 521 BGB auch bei der Verletzung von Schutzpflichten im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Schenkung greift. Der Bundesgerichtshof entschied, dass die Beklagte gemäß § 521 BGB nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haftet und die Privilegierung auch bei der Verletzung von Schutzpflichten greift, sofern diese im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Schenkung stehen. Die Haftungsprivilegierung müsse zudem auch auf konkurrierende deliktische Ansprüche aus § 823 BGB analog angewandt werden, um zu verhindern, dass sie im Ergebnis leerläuft.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Haben A und B einen Schenkungsvertrag geschlossen (§ 516 Abs. 1 BGB)?

Ja!

Die Schenkung ist eine unentgeltliche Zuwendung. Das Gesetz unterscheidet zwei Arten der Schenkung: die Handschenkung (§ 516 Abs. 1 BGB) und das Schenkungsversprechen (§ 518 Abs. 1 BGB). Die Handschenkung setzt eine Einigung zwischen dem Zuwendenden und dem Zuwendungsempfänger über die Unentgeltlichkeit einer bereits vollzogenen oder gleichzeitig erfolgenden Zuwendung voraus. Beim Schenkungsversprechen verpflichtet sich der Schenker, dem Beschenkten eine unentgeltliche Zuwendung zu machen. Hierbei handelt es sich um einen einseitigen Schuldvertrag. Hier ist nicht ersichtlich, dass sich A bereits vorab vertraglich verpflichtete dem B die Kartoffelpülpe zu schenken. Demnach liegt eine Handschenkung nach § 516 Abs. 1 BGB vor.
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2. Ist die Kartoffelpülpe mangelhaft? Hat B einen Schadensersatzanspruch aus § 524 Abs. 1 BGB?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Sachmängelhaftung gilt auch im Schenkungsrecht, allerdings nur bei arglistigem Verschweigen des Schenkers (§ 524 Abs. 1 BGB). Die Sachmangelhaftigkeit bestimmt sich (analog) § 434 BGB. Da hier keine vertragliche Absprache über die Beschaffenheit der Kartoffelpülpe erfolgt ist (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB) und genauere Angaben zu einer vertraglich vorausgesetzten Verwendung (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) fehlen, ist auf den objektiven Mangelbegriff des § 434 Abs. 3 S. 1 BGB (analog) abzustellen. Das Versetzen der Pülpe mit Enzymen stellt eine übliche Beschaffenheit von Kartoffelpülpe zur Tierfütterung dar und eignet sich zur gewöhnlichen Verwendung. Sie ist daher nicht sachmangelhaft, sondern nur bei fehlerhafter Dosierung schädlich. Ein Sachmangel liegt schon nicht vor. Daher kommt es auf die fehlende Arglist (= Vorsatz) des A für den Anspruch aus § 524 Abs. 1 BGB gar nicht mehr an.

3. Kommt wegen der Schutzpflichtverletzung eine Haftung des A aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB) und Verletzung vertraglicher Nebenpflichten (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB) in Betracht?

Ja, in der Tat!

Die Rücksichtnahmepflichten (Schutzpflichten / Nebenpflichten) zielen auf die Beachtung und Rücksichtnahme der Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teiles (§ 241 Abs. 2 BGB) ab. Dabei geht es um den Schutz des Erhaltungsinteresses (Integritätsinteresses) des Gläubigers, nicht um sein Interesse an der vertraglichen Leistung. Die culpa in contrahendo schützt gerade nur vor Pflichtverletzungen nach § 241 Abs. 2 BGB (vgl. § 311 Abs. 2 BGB). A hat es unterlassen, den B auf die Enzymbehandlung der Pülpe und über die daraus resultierende Notwendigkeit einer geringeren Dosierung hinzuweisen. Er hat seine Aufklärungspflicht (Nebenpflicht) leicht fahrlässig verletzt. Fraglich ist aber, ob A hier die leichte Fahrlässigkeit zu vertreten hat (§ 276 Abs. 1 BGB).

4. Findet die Haftungsprivilegierung des § 521 BGB auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nach hM nur Anwendung auf die Verletzung von Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB)?

Nein!

Der Schenker haftet nach § 521 BGB – abweichend vom allgemeinen Grundsatz (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB) – nicht für (normale oder leichte) Fahrlässigkeit, sondern nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. § 521 BGB findet für die Verletzung der dem Schenker obliegenden Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) unstrittig Anwendung. A hat hier aber keine Leistungspflicht verletzt. Ob bei der Verletzung vorvertraglicher oder vertraglicher Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) die Haftungsprivilegierung des § 521 BGB eingreift, ist umstritten. Die h.M. (BGH und Teile der Lehre) stellt darauf ab, ob die verletzte Schutzpflicht (Nebenpflicht) im Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand (hier: der geschenkten Kartoffelpülpe) steht. Für solche sogenannten leistungsbezogenen Nebenpflichten soll die Haftungsprivilegierung des § 521 BGB ebenfalls gelten. Hier stand die Aufklärungspflicht des A über die Menge, die gefüttert werden darf, im Zusammenhang mit der Leistung (Kartoffelpülpe). Daher greift nach h.M. die Haftungsprivilegierung des § 521 BGB auch für die Ansprüche aus §§ 280 Abs. 1, (311 Abs. 2), 241 Abs. 2 BGB wegen der verletzten Aufklärungspflicht. Nach einem T.d.L. gilt die Haftungsprivilegierung uneingeschränkt für die Haftung wegen vertraglicher oder vorvertraglicher Schutzpflichtverletzung, weil die selbstlosen Motive des Schenkers zu einer weitreichenden Begünstigung führen müssten. Eine weitere, allerdings ältere und heute kaum mehr vertretene a.A. möchte umfassend den üblichen Haftungsmaßstab des § 276 BGB anwenden, weil der Beschenkte sonst unzureichend geschützt sei.

5. Hat B gegen A jedoch einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Haftungsmilderung des § 521 BGB muss nach der ganz h.M., wenn und soweit sie dem A bei der Verletzung seiner vertraglichen und vorvertraglichen Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) zugute kommt, auch auf Ansprüche des B aus unerlaubter Handlung durchschlagen. Anderenfalls würde die Wertung des § 521 BGB durch das Deliktsrecht unterlaufen werden. Der Anspruch des B gegen A aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Eigentumsverletzung scheitert daher am fehlenden (vorsätzlichen oder grob fahrlässigen) Verschulden des A.
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