Einrede der Unverhältnismäßigkeit (§ 275 Abs. 2 BGB)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

V verkauft K das Ölgemälde „Klimawandel“ (Wert: €5000). K will es am nächsten Tag abholen. Vs Angestellter A verkauft - ohne Kenntnis des Verkaufes an K - das Gemälde noch am selben Tag wirksam für €4000 an Sammlerin S. Auf Nachfrage ist S bereit, das Gemälde für €30.000 zurückzugeben.

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Einordnung des Falls

Einrede der Unverhältnismäßigkeit (§ 275 Abs. 2 BGB)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K hatte nach Abschluss des Kaufvertrages einen Anspruch darauf, dass V ihr das Ölgemälde übergibt und übereignet (§ 433 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Bei Abschluss eines Kaufvertrages ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen (§ 433 Abs. 1 BGB). V und K haben einen Kaufvertrag über das Ölgemälde "Klimawandel"geschlossen. V war somit verpflichtet, dieses zu übergeben und zu übereignen.
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2. Da A das Gemälde „Klimawandel“ an S wirksam übereignet hat, ist die Übergabe und Übereignung an K für V subjektiv unmöglich (§ 275 Abs. 1 Alt. 1 BGB).

Nein!

Subjektive Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Leistungspflicht ein dauerhaftes und unüberwindbares Hindernis entgegensteht, das der Schuldner nicht überwinden kann. Neben der physischen Unmöglichkeit besteht ein solches Hindernis auch dann, wenn dem Schuldner die Herbeiführung rechtlich unmöglich ist, zB weil ihm die Rechtsmacht fehlt, die Leistung herbeizuführen. Es darf allerdings keine Möglichkeit geben, das Hindernis zu beseitigen. Zwar ist V nicht mehr Eigentümerin des Gemäldes. Durch Rückkauf des Gemäldes könnte sie diese Stellung allerdings wiedererlangen. Sie kann somit die fehlende Rechtsmacht überwinden.

3. Da die Leistung für V nicht unmöglich geworden ist, besteht für sie keine rechtliche Möglichkeit, die Leistung zu verweigern.

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch wenn keine Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB vorliegt, so kann der Schuldner die Leistung verweigern, wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem Aufwand des Schuldners und dem Leistungsinteresse des Gläubigers besteht(§ 275 Abs. 2 BGB). § 275 Abs. 2 BGB ist als Ausnahmeregelung für Extremfälle zu verstehen. Der bloße Umstand, dass der Schuldner gewisse Mehrkosten hat, genügt regelmäßig nicht, um die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit zu überschreiten.

4. V kann die Übergabe und Übereignung des Gemäldes „Klimawandel“ wegen unverhältnismäßigem Aufwandes verweigern (§ 275 Abs. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 2 BGB setzt ein grobes Missverhältnis zwischen Aufwand des Schuldners und dem Leistungsinteresse des Gläubigers voraus. Die Leistung darf von keinem Gläubiger ernsthaft verlangt werden können. Dabei ist auch ein Vertretenmüssen des Schuldners zu berücksichtigen.Ks Interesse an dem Erhalt des Bildes (€5.000) bleibt deutlich hinter dem Aufwand zurück, den V betreiben müsste, um dieses zu erlangen (€30.000). Auch wenn V im Hinblick auf die Veräußerung Fahrlässigkeit trifft, also die Nichtbeachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB), liegt ein starkes Missverhältnis vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Erhan

Erhan

23.5.2022, 22:20:24

ab wann ist es eigentlich eine Unmöglichkeit über 275 II und ab wann nur „

wirtschaftliche Unmöglichkeit

“? Gibt diesbezüglich eine Grenze?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.5.2022, 10:05:20

Hallo Erhan, schau Dir hierzu gerne auch noch die weiteren Fälle und die Fälle zur

Störung der Geschäftsgrundlage

an. Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 BGB setzt voraus, dass der Aufwand des Schuldners (Beschaffungskosten) deutlich höher ist, als der Wert, den die Sache für den Gläubiger hat (Paradebeispiel: Ring am Meeresgrund). Bei der wirtschaftlichen Unmöglichkeit stehen zwar Aufwand des Schuldners und Interesse des Gläubigers nicht in einem unverhältnismäßigen Verhältnis. Hier kommt es eher darauf an, dass die Leistung des Schuldners (zB Lieferung/Beschaffung des Kaufgegenstandes) und die Gegenleistung (zB Zahlung des vereinbarten Kaufpreises) außer Verhältnis stehen. Denn die ursprünglich vereinbarte Gegenleistung (Kaufpreis), muss eben nicht identisch sein mit dem Wert, den die Leistung für den Schuldner hat (zB in Fällen, in denen nach Abschluss des Kaufvertrages eine starke Inflation einsetzt). Feste Wertgrenzen, wann eine grobe

Unverhältnismäßigkeit

vorliegt, gibt es nicht. Allerdings ist die Norm sehr restriktiv auszulegen und im Zweifel abzulehnen. Im Schrifttum heißt es hierzu, die

Unverhältnismäßigkeit

soll so eklatant/offensichtlich sein, dass von einer "faktischen" oder "praktischen" Unmöglichkeit gesprochen werden kann (vgl. Ernst, in: MüKo-BGB, 9.A. 2022, § 275 RdNr. 84). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LENS

LENS

14.10.2023, 15:39:08

Moin, ich empfinde die Verwendung des Wortes „verkauft“ gegenüber der S als ungenau bzw. falsch. Ich verstehe das Wort so, wie ihr es im ersten Satz benutzt: Es wird ein Kaufvertrag geschlossen. Wenn gleichzeitig ausgedrückt werden soll, dass die dingliche Übereignung stattgefunden hat, könnte man hier das Wort „veräußert“ verwenden.

Josef K.

Josef K.

8.1.2024, 12:30:08

Irritierend im Vergleich zur darauffolgenden Aufgabe scheint mir, dass hier der "Wert" des Gemäldes (

Stückschuld

) auf 5.000 fixiert werden kann, obwohl der erfolgreiche Zweitkäufer 30.000 Euro (immerhin 600% des vormaligen Wertes) verlangen kann, ohne dass dieses neuere Angebot am Markt irgendeine Auswirkung auf den "objektiven" Wert hätte. Ist die Festlegung des Wertes bei

Stückschuld

en per se unabhängig vom Marktwert? Denn bei Gattungsschullden im folgenden Fall, wird das Interesse mit dem Marktwert gleichgesetzt. Oder ist dieses Korrelation zu schematisch, vorschnell von den beiden Fällen verallgemeinert? Womöglich führte eine Differenzierung von Wert, Marktwert und Preis zu weit in die Untiefen der politischen Ökonomie, allerdings wäre ich für eine Leitlinie zur Handhabung sehr dankbar. Mit Gruß

QUIG

QuiGonTim

6.2.2024, 10:34:37

Der Marktwert des Gemäldes ist für die

Unverhältnismäßigkeit

der Leistungserbringung (§ 275 Abs. 2 BGB) völlig irrelevant. Wie du bereits richtig angemerkt hast, handelt es sich bei dem Gemälde um eine

Stückschuld

. V kann also nur leisten, indem er das stoffgleiche Gemälde „Klimawandel“ an K übergibt und übereignet. Das Gemälde wurde aber bereits an S wirksam übereignet. Eine Leistungserbringung wäre für V nur möglich, wenn er das Gemälde von S rückkaufen würde. S kann als Eigentümer aufgrund seiner Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) völlig frei entscheiden, ob und zu welchem Preis er das Gemälde an V (rück-)verkaufen will. Aufgrund der

Relativität der Schuldverhältnisse

und des Trennungsprinzip- sowie des Abstraktionsprinzips ist S von dem zwischen V und K bestehenden Kaufvertrag rechtlich nicht betroffen. ——— (Absatz) ——— Dass es im Falle einer Gattungsschuld auf den (aktuellen) Marktwert ankommen kann, liegt daran, dass der geschuldete Gegenstand nicht konkretisiert ist und (regelmäßig verhältnismäßig einfach) am Markt beschafft werden kann. Wenn der vereinbarte Kaufpreis (bzw. Je nach Vertragstyp das vereinbarte Entgelt) nur einen Bruchteil des zur Beschaffung des geschuldeten Gegenstandes notwendigen Aufwandes ausmacht, kann es auf aktuelle Marktpreise (als Teil des Aufwandes) ankommen.

Josef K.

Josef K.

6.2.2024, 12:03:51

Ich danke für die Antwort, die daran erinnert, dass der Marktwert ein Aspekt , häufig wohl der wesentliche, bei der Bemessung des Schuldneraufwands im Rahmen der Gattungsschuld ist. Meine Argumentation stellte allerdings infrage, wie realitätsgerecht der Sachverhalt von einem "Wert" von 5.000 Euro eines, wie auch Du richtig feststellst, individuellen Exemplars ausgeht, obwohl dasselbe am Markt nur einmal für 30.000 Euro angeboten wird. Dies hätte sehr wohl Relevanz für den Vergleich des Schuldneraufwands und des Gläubigerinteresses, wobei Letzteres höheres ausfiele. Insofern sieht es mir danach aus, als würde das Gläubigerinteresse bei der

Stückschuld

auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses fixiert, nicht aber bei der Gattungsschuld. Aber ich kann mich auch täuschen.

Juratiopharm

Juratiopharm

11.4.2024, 14:35:00

Das Interesse von K ist auf den Erhalt des Bildes gerichtet und nicht zwingend auf den Erhalt eines Bildes mit einem 5k Wert. Möchte K sich das Bild beschaffen, dann kann er dies nur bei der Zweitkäuferin machen - zum Preis von 30.000 EUR. Das Interesse dürfte doch daher auch 30.000 EUR betragen. Dass es für den Verkäufer unzumutbar sein dürfte, diese 30.000 EUR aufzutreiben, würde ich lieber über

§ 313 BGB

lösen.

Juratiopharm

Juratiopharm

11.4.2024, 14:36:14

Würde es sich nicht um ein Gemälde, sondern um ein Massengut handeln, wäre sicher § 275 BGB einschlägig, weil hier das Interesse des Käufers niedrig bleibt - er kann sich das Massengut ja auch woanders beschaffen. Für ein Gemälde dürfte dies aber grade nicht gelten.

NI

Niro95

13.4.2024, 21:05:20

Müsste man hier nicht, da A Angestellter von V ist, eine Wissenszurechnung annehmen, weshalb das in die Abwägung der Unzumutbarkeit wie Vorsatz einginge mit entsprechend höherer Grenze, bevor Unzumutbarkeit eintritt?

LELEE

Leo Lee

14.4.2024, 10:54:03

Hallo Niro95, vielen Dank für die sehr gute Frage! Beachte insoweit jedoch, dass § 275 I und II unabhängig von einem Vertretenmüssen (i.R.d. auch eine Wissenszurechnung erfolgen kann) greifen. Denn die Unmöglichkeit bzw. die

Unverhältnismäßigkeit

stellen eine tats. Lage fest (dass der Schuldner nicht mehr leisten kann bzw. nur unter unzumutbaren Verhältnissen leisten kann), die allerdings auch dann noch besteht, wenn der Schuldner diese nicht zu vertreten hatte! Somit spielt die Wissenszurechnung bei den allg. Erwägungen um 275 II erstmal keine Rolle. Beim Schadensersatz AUFGRUND Unmöglichkeit hingegen (wie etwa 311a II oder 283) können Vertretenmüssen und somit auch Wissenszurechnung sehr wohl eine Rolle spielen! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Ernst § 275 Rn. 86 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

NI

Niro95

14.4.2024, 10:56:36

Danke für die Antwort, ich spiele auf 275 II S 2 an; „Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat.“ Spielt das da keine Rolle?


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