Zivilrecht
Schuldrecht Allgemeiner Teil
Unmöglichkeit (§ 275 BGB) (Leistungsstörungsrecht)
Wirtschaftliche Unmöglichkeit
Wirtschaftliche Unmöglichkeit
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
V handelt mit OP-Masken. Sie verkauft Krankenhausbetreiberin K 100.000 Masken für €0,10/Stück. V selbst kauft die Masken für €0,05/Stück ein. Plötzlich setzt die Corona-Pandemie ein und der Einkaufspreis steigt auf €0,30 an. V will K die Masken nun nicht mehr liefern.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Wirtschaftliche Unmöglichkeit
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K hatte nach Abschluss des Kaufvertrages einen Anspruch darauf, dass V ihr die Masken übergibt und übereignet (§ 433 Abs. 1 BGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Einkaufspreis für V ist sechsmal teurer geworden. Die Beschaffung ist für sie damit unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Die Übergabe und Übereignung der OP-Masken stellen für V einen unverhältnismäßigen Aufwand (§ 275 Abs. 2 BGB) dar.
Nein, das trifft nicht zu!
4. V kann die Übergabe und Übereignung der OP-Masken wegen unverhältnismäßigen Aufwandes verweigern (§ 275 Abs. 2 BGB).
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Helena
20.12.2021, 16:57:07
Ich verstehe, dass wirtschaftliche Interessen kein Grund für
Unverhältnismäßigkeitsind. Jedoch würde hier V ja einen relativ großen Verlust machen. Würde die Möglichkeit der Insolvenz (in einem sehr extremen Fallbeispiel)
Unverhältnismäßigkeitbedeuten?
Lukas_Mengestu
21.12.2021, 09:34:15
Hallo Helena, auch dies wäre letztlich keine Frage des § 275 Abs. 2 BGB. Was man sich hier wirklich klar machen muss, ist der Umstand, dass es nicht um ein grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung geht, sondern um ein Missverhältnis zwischen dem Wert, den die Leistung für den Gläubiger hat (hier: Erhalt der Masken) und dem Aufwand den der Schuldner betreiben muss, um die Leistung zu erbringen. Schulbeispiel ist hier auch der Ring, der ins Meer fällt. Während sich der Wert des Ringes nicht erhöht hat, sind die Kosten der Leistungserbringung exorbitant gestiegen und stehen nicht mehr im Verhältnis zu dem Wert des Ringes für den Gläubiger. § 275 Abs. 2 BGB ist insofern ultima ratio. Denn hier gibt es keine Grautöne, sondern es gibt nur entweder die volle Leistung oder gar keine Leistung. Der Bereich der wirtschaftlichen Unmöglichkeit (zB die drohende Insolvenz) ist insofern ein Anwendungsfeld der
Störung der Geschäftsgrundlage(
§ 313 BGB). Hier reichen die möglichen Maßnahmen von der Anpassung des Vertrages bis zum Rücktritt bzw. der Kündigung, weshalb dies wesentlich zielgenauer ist, als § 275 Abs. 2 BGB. Ein schönes aktuelles Beispiel für steigende Marktpreise ist derzeit die Belieferung mit Gas. Zahlreiche Unternehmen kündigen jetzt ihren Kunden den Vertrag mit der Begründung, der Marktpreis habe sich um 200%-300% verteuert. Das stellt keinen Fall des § 275 Abs. 2 BGB dar, denn wenn die Kunden sich bei anderen Versorgern Gas besorgen werden sie dort auch die neuen, höheren Preise zahlen müssen. Sofern hier keine wirksame Kündigungsregelung in den Verträgen getroffen wurde, ist vor allem
§ 313 BGBin den Blick zu nehmen (
Störung der Geschäftsgrundlage). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
NikoAuli
16.1.2022, 12:44:25
100.000 * 0,10€ = 10.000€ 100.000 * 0,30€ = 30.000€ Ich sehe hier doch ein Missverhältnis. Das Interesse der K (10.000€) steht hier doch im klaren Missverhältnis zur Beschaffung (30.000€) der V. Müsste ein Rechenfehler sein, oder irre ich mich da?
Victor
16.1.2022, 19:44:40
Grundsätzlich ist für das Interesse der K die aktuelle Marktlage zu berücksichtigen. Auf dem Markt müsste sie auch zum gesteigerten Preis sich eindecken. Nichtsdestotrotz kommt gerade aufgrund des tatsächlichen Ungleichgewichts
§ 313 BGBin Betracht. Somit könnte es dennoch zu einer Anpassung kommen.
Lukas_Mengestu
17.1.2022, 11:15:13
Hallo NikoAuli, vielen Dank für Deine Nachfrage! Für die Frage, ob
Unverhältnismäßigkeitnach § 275 Abs. 2 BGB vorliegt, kommt es allerdings nicht darauf an, ob die Leistung (Lieferung der Masken=€30.000) und die Gegenleistung (ursprünglicher Kaufpreis=€10.000) in einem angemessenen Verhältnis stehen. Vielmehr geht es darum, ob das Interesse an dem Erhalt der Leistung mit dem Aufwand, den V betreiben muss, in einem angemessenen Verhältnis stehen. Wie Victor schon ausgeführt hat, kommt es dabei auch auf die aktuelle Marktlage an. Das Interesse des K an dem Erhalt hat nun ebenfalls einen Wert von €30.000, da er sich auch anderweitig nur zu diesem Preis mit Masken eindecken könnte. Somit scheidet § 275 Abs. 2 BGB aus und allein
§ 313 BGBkommt in Betracht. Beste Grüße, Lukas
QuiGonTim
7.12.2023, 21:00:25
Bei § 275 Abs. 2 BGB handelt es sich also um ein Leistungsverweigerungsrecht? Die Norm ist also unter „ Anspruch durchsetzbar“ zu prüfen?
Nora Mommsen
8.12.2023, 11:18:51
Hallo QuiGonTim, danke für deine Frage! Genau - bei § 275 Abs. 2 BGB handelt es sich um eine Einrede. Diese muss auch geltend gemacht werden und ist unter der Durchsetzbarkeit eines Anspruchs zu prüfen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Bastian P.
17.4.2024, 15:27:41
Hi, ihr habt in einem vorherigen Beispiel (mit dem Gemälde zum Rückkauf von 30.000€) den § 275 II BGB bejaht. Mir erschließt sich nicht ganz, weshalb das Verweigerungsrecht hier angelehnt wurde. In beiden Fällen hat sich der Beschaffungspreis des Schuldners um ein vielfaches erhöht. Könntet ihr das noch einmal erläutern?
Lukas_Mengestu
19.4.2024, 14:28:35
Hallo Bastian, vielen Dank für die gute Rückfrage. Der zentrale Unterschied der beiden Fälle ist das Interesse des Gläubigers am Erhalt der Leistung. Im Falle des Bildes hatte K ein Interesse daran ein Gemälde im Wert von €5.000 zu kaufen. Ohne weitere Anhaltspunkte kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie das Gemälde auch für den 6fachen Preis kaufen würde. Anders ist dies im gegenwärtigen Fall. Ungeachtet des höheren Preises ist K hier weiterhin auf die Masken angewiesen und würde sie auch zu dem höheren Preis kaufen. Ihr Leistungsinteresse steht zu dem Aufwand also gerade nicht in einem groben Missverhältnis, weswegen kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 BGB besteht, sondern allenfalls ein Anpassungsrecht wegen
Störung der Geschäftsgrundlage. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team