Ausnutzungsbewusstsein bei Heimtücke

25. November 2024

4,6(18.781 mal geöffnet in Jurafuchs)

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

M stellt seine Frau F wegen anzüglicher SMS an einen anderen Mann zur Rede. F antwortet, er solle verschwinden. Dabei äußert sie sinngemäß, alles wäre ok, wenn sie ihn nun umbringe. Als F aufstehen will, hält M sie mit dem Arm zurück, um ihr den Weg zu einem nahegelegenen Messer zu versperren. M greift wütend selbst danach und ersticht sie.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Ausnutzungsbewusstsein bei Heimtücke

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M könnte sich wegen Mordes strafbar gemacht haben (§ 211 StGB).

Ja, in der Tat!

Den Tatbestand des Mordes verwirklicht, wer (1) einen anderen Menschen tötet und dabei (2) mindestens ein Mordmerkmal erfüllt. M hat F mit dem Messerstich getötet. Ob er den Tatbestand des Mordes verwirklicht hat, hängt davon ab, ob er zusätzlich ein Mordmerkmal verwirklicht hat. Anders als beim Totschlag besteht beim Mord kein Spielraum im Hinblick auf die Bestrafung des Täters. Das Gesetz sieht ausschließlich die lebenslange Freiheitsstrafe vor. Aufgrund dieses Umstandes ist das Vorliegen von Mordmerkmalen - und damit die Abgrenzung zum Totschlag - besonders gründlich zu prüfen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. M könnte das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht haben (§ 211 Abs. 2 Var. 5 StGB).

Ja!

Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Wehrlos ist, wer infolge der Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder in seinen Verteidigungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist aufgrund seiner hohen praktischen Bedeutung und der vielen verschiedenen möglichen Fallkonstellationen besonders beliebt. Hier solltest du dich gut auskennen.

3. Unterstellt, Fs Äußerung war ernst gemeint, muss man starke Zweifel an ihrer Arglosigkeit erheben.

Genau, so ist das!

Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Irrelevant ist, ob das Opfer gerade einen Angriff gegen das Leben erwartet oder es die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt. Laut BGH könnte die Äußerung der F nahelegen, dass sie ihrerseits von einer drohenden schweren tätlichen Auseinanderausetzung ausging. Ihre Aufstehbewegung könnte dann darauf hindeuten, dass sie M selbst angreifen wollte. Dies sei aber vom Landgericht nicht genügend aufgeklärt worden (RdNr. 9).

4. Zumindest fehlt M aber der Vorsatz bezüglich Fs Arglosigkeit (sog. Ausnutzungsbewusstsein).

Ja, in der Tat!

Subjektiv erfordert der Heimtückemord neben dem Tötungsvorsatz auch ein Ausnutzungsbewusstsein. Der Täter muss die Arglosigkeit des Opfers erkennen und bewusst ausnutzen. Ein Ausnutzungsbewusstsein kann aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt. BGH: M streckte seinen Arm aus, um F daran zu hindern, nach dem Messer zu greifen. Daraus sei aber zu schließen, dass er sie nicht für gänzlich arglos gehalten habe (RdNr. 11). Auch die Plötzlichkeit des Angriffes hat der BGH nicht ausreichen lassen, um von einem geplanten Ausnutzen der Arg-und Wehrlosigkeit auszugehen. Vielmehr sei dies mit Ms Annahme vereinbar, sich ohne einen wirkungsvollen ersten Angriff in eine Auseinandersetzung mit der dann abwehrbereiten F begeben zu müssen (RdNr. 12).

5. M handelte jedoch wütend und daher tötete er F aus niedrigen Beweggründen ( § 211 Abs. 2 Var. 4 StGB).

Nein!

Niedrige Beweggründe sind ein Auffangmerkmal, das neben den tatbestandlich konkretisierten Mordmotiven entwickelt wurde, um sonstige, höchst strafwürdige Tötungsantriebe aufzufangen. Sie liegen vor, wenn das Motiv des Täters zur Tötung nach allgemeiner Anschauung verachtenswert ist und sittlich auf tiefster Stufe steht. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Hass, Eifersucht und Rachsucht stellen nur niedrige Beweggründe dar, wenn sie nicht menschlich verständlich sind. Zwar war M wütend, jedoch geht der Unrechtsgehalt seines Handelns nicht über die reine Tötung eines Menschen hinaus. Auch subjektiv fehlt ihm die niedrige Gesinnung. Dieses Mordmerkmal ist aufgrund seiner Unbestimmtheit mit Vorsicht zu genießen. Der Unrechtsgehalt muss über die reine Tötung eines Menschen hinausgehen. Je nach Sachverhaltsangaben ist hier auch ein anderes Ergebnis vertretbar (Stichwort: übersteigertes Besitzdenken).

6. M hat sich aber wegen Totschlags strafbar gemacht (§ 212 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

M hat F vorsätzlich mit dem Messerstich getötet. Mangels Ausnutzungsbewusstsein war dieser aber nicht heimtückisch. Er hat auch kein anderes Mordmerkmal erfüllt. M ist wegen Totschlags strafbar (§ 212 Abs. 1 StGB). M verwirklichte durch den Messerstich auch §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Jedoch tritt diese gefährliche Körperverletzung im Wege der Subsidiarität hinter dem Tötungsdelikt zurück.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

IS

IsiRider

28.10.2023, 13:20:43

Was ist mit Notwehr?

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

28.10.2023, 13:28:28

Der Fall gibt zu wenig her, um einen Angriff zu bejahen.

ICAU

iniusta causa

28.10.2023, 13:48:48

Es dürfte wohl auch am

Verteidigungswille

n scheitern.

LELEE

Leo Lee

29.10.2023, 08:02:54

Hallo IsiRider, eine Notwehr dürfte bereits daran scheitern, dass hier überhaupt kein Angriff vorliegt seitens der F, gegen den sich der M verteidigen könnte. Vielmehr ist es der M, der die F zunächst zurückhält, um sodann nach dem Messer zu greifen und die F zu erstechen. Wenn man in der Aussage „er sollte verschwinden“, einen Angriff sehen will, so dürfte es daran scheitern, dass I. diese Aussage überhaupt keinen Angriff (auf die

Ehre

) darstellt und zudem II. wenn ein Angriff vorläge, dieser bereits beendet wäre :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

IS

IsiRider

12.11.2023, 11:18:25

Achso, ich hatte den Eindruck, ein Angriff stünde unmittelbar bevor. Aber da habe ich wohl zu viel hineininterpretiert.

Eileen 🦊

Eileen 🦊

9.8.2024, 15:50:59

Müsste man dann nicht aus der subjektiven Perspektive des Täter begutachten, ob aus seiner Sicht ein Angriff vorlag (ggf. in Irrtumskonstellation)?

GVE

gottloser Vernunftsjurist

25.11.2023, 23:48:07

Hallo, In der zweiten oder dritten Erklärung ist von "Tatoper" die Rede :D Außerdem ist die Rede von einem bewussten Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit. Bedeutet das für euch, einen dolus eventualis ausreichen zu lassen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.11.2023, 16:33:53

Danke Luk7_8, das haben wir korrigiert. Im Hinblick auf die subjektive Seite: Grundsätzlich bedarf es des bedingten

Vorsatz

es hinsichtlich sämtlicher objektiver Tatbestandsmerkmale. Nach herrschender Auffassung genügt das aber nicht, sondern es bedarf zusätzlich eines Ausnutzungsbewusstseins. Voraussetzung hierfür ist das Erkennen der Tatsituation in dem Sinne, dass dem Täter bewusst ist, einen durch Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Was darunter genau zu verstehen ist, ist im einzelnen streitig. Während ein Teil der Literatur darin lediglich eine andere Wendung für den

Eventualvorsatz

sieht (vgl. MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl. 2021, StGB § 211 Rn. 187), so sieht die Rspr. darin ein Mehr gegenüber dem reinen

Eventualvorsatz

. Gerade das geforderte planvollen Ausnutzen hat der BGH hier abgelehnt, sodass dann eine Heimtückestrafbarkeit ausscheidet. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MWA

mwally

27.11.2023, 11:31:36

Wie wären die subsidiären Tatbestände im Gutachten anzubringen? Müssen diese auch durchgeprüft werden oder reicht es, deren Vorliegen anzunehmen und in rinem Prüfungspunkt Konkurrenzen (?) / Subsidiarität (?) darauf hinzuweisen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.11.2023, 16:42:53

Hallo mwally, im Einzelfall hängt das natürlich ein wenig von der Sachverhaltsgestaltung und dem Bearbeitervermerk ab. Grundsätzlich ist im ersten Examen ein vollständiges Gutachten gefordert, sodass zB die subsidiäre gefährliche Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB) kurz geprüft werden kann, um sie dann auf Konkurrenzebene zurücktreten lassen. Vor dem Hintergrund, dass die Norm ohnehin zurücktritt, solltest Du Dich dabei aber kurz fassen und nach Möglichkeit auf den Feststellungsstil ausweichen. Beste Grüße, Lukas für das Jurafuchs-Team

Eileen 🦊

Eileen 🦊

9.8.2024, 15:53:39

Wäre es hier auch vertretbar, die Heimtücke daran scheitern zu lassen, dass die Wehrlosigkeit nicht auf der Arglosigkeit beruht? Hier fehlt m.E. der Zusammenhang, weil die Wehrlosigkeit auf dem Festhalten durch den M beruht. LG

CLA

Claire

18.11.2024, 14:49:04

direkt bei der prüfung des merkmals heimtücke oder im subj. tb beim

Vorsatz

?

Amelie

Amelie

24.11.2024, 09:50:10

Im subj. TB bei “

Vorsatz

bzgl. der objektiven Mordmerkmalen”


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen