+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
C ist Chefredakteur eines Politmagazins. Er veröffentlichte einen Artikel, der Informationen und Zitate aus einem streng geheimen Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) enthielt. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen C wegen Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses (§§ 353b, 27 StGB).
Diesen Fall lösen 83,2 % der 15.000 Nutzer:innen
unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Klassiker: Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei Presseangehörigen ("Cicero") (BVerfG, 27.02.2007)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Im Ermittlungsverfahren ordnete das AG die Durchsuchung von Cs Redaktionsräumen und die Beschlagnahme einer Festplatte an. C erhob hiergegen erfolglos Beschwerde zum LG. Kann C Verfassungsbeschwerde erheben?
Ja!
Der Rechtsweg zum BVerfG richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG. Er ist für Individualverfassungsbeschwerden eröffnet. Jedermann (jede grundrechtsfähige Person) kann Verfassungsbeschwerde gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt erheben.
C ist eine natürliche Person, also grundrechtsfähig und damit tauglicher Beschwerdeführer. Er wendet sich vor dem BVerfG gegen die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen des AG, die er für verfassungswidrig hält. Beide sind Akte der öffentlichen Judikativgewalt und damit taugliche Beschwerdegegenstände. Für Cs Individualverfassungsbeschwerde ist der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.
2. C muss als Beschwerdeführer beschwerdebefugt sein.
Genau, so ist das!
Die Verfassungsbeschwerde ist ein subjektiviertes Rechtsverletzungsverfahren. Folglich ist die Beschwerdebefugnis Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. C ist beschwerdebefugt, wenn er geltend machen kann, zumindest möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in eigenen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Er ist selbst beschwert, wenn der Akt öffentlicher Gewalt ihn in eigener Person betrifft. Er ist gegenwärtig beschwert, wenn die Maßnahme ihn schon und noch betrifft. Er ist unmittelbar beschwert, wenn die Maßnahme selbst und nicht erst ein Umsetzungsakt die Verletzung herbeiführt.
3. C hält die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen des AG für verfassungswidrig und rügt seine Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Ist er beschwerdebefugt?
Ja, in der Tat!
Es erscheint zumindest möglich, dass die AG-Anordnungen C selbst als Chefredakteur in seiner freien Redaktionsarbeit, die durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützt ist, verletzen. Die Verletzung ergibt sich auch unmittelbar aus den Anordnungen und nicht erst aus der tatsächlichen Durchsuchung und Beschlagnahme, da schon die Anordnung den Schutz der sensiblen Pressearbeit aufhebt und den Ermittlungsbehörden den Zugang zu Recherchen und Unterlagen ermöglicht (RdNr. 45). C ist durch die Anordnungen auch gegenwärtig betroffen, da sie trotz Cs Beschwerde nicht durch das LG aufgehoben wurden und daher weiterhin gegenüber C Rechtswirkung entfalten.
Gerichtsentscheidungen (Urteile und Beschlüsse) betreffen die Adressaten oder Verfahrensbeteiligten immer selbst, gegenwärtig und unmittelbar, da sie ihnen gegenüber (bis sie aufgehoben werden) verbindlich sind. 4. Das LKA hatte von der beschlagnahmten Festplatte eine Datenkopie gemacht, diese aber später gelöscht. Das LG, das über Cs Beschwerde entschied, hielt diese wegen der Löschung für erledigt. Beschwerdebefugnis?
Ja!
Es erscheint zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen, dass C durch den LG-Beschluss in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz und wirksame gerichtliche Kontrolle (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt wurde. Der Beschluss richtet sich gegen C, sodass er unmittelbar und selbst betroffen ist. Solange der Beschluss nicht berichtigt wird, ist die Beschwer auch gegenwärtig, da sie weiterhin Rechtswirkung gegenüber C entfaltet.
Insgesamt ist C also beschwerdebefugt, da Verletzungen in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht von vornherein ausgeschlossen sind. Die Verfassungsbeschwerde ist insgesamt zulässig. Die Zulässigkeit kannst Du ruhig kurz fassen – das BVerfG hatte die Zulässigkeit überhaupt nicht thematisiert.
5. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die Anordnungen des AG und / oder der LG-Beschluss verfassungswidrig sind.
Genau, so ist das!
Eine Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Akt öffentlicher Gewalt verfassungswidrig war, da er den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
C hat mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg, wenn die AG-Anordnungen ihn in seiner Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 2 S. 1 GG) verletzen und/oder der LG-Beschluss ihn in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt. Das ist der Fall, wenn jeweils der Schutzbereich der Grundrechte eröffnet ist, die Gerichtsentscheidungen in die Schutzbereiche eingreifen und diese Eingriffe nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind.
6. Durch die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen hat das AG in den Schutzbereich von Cs Pressefreiheit eingegriffen.
Ja, in der Tat!
Die Pressefreiheit ist ein demokratiekonstituierendes Grundrecht mit besonderer Bedeutung für den freien Staat (RdNr. 42). Sie schützt die freie und vertrauliche Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen und alle mit der Pressearbeit zusammenhängenden Tätigkeiten wie die Vertraulichkeit der Reaktionsarbeit, die Kontakte zwischen den Medien und ihren Informanten sowie die durch diese Kontakte erlangten Informationen (RdNr. 41). Ein Eingriff in die Pressefreiheit ist jede dem Staat zurechenbare Verkürzung des Schutzbereichs.
C ist als Chefredakteur eines Politmagazins Träger der Pressefreiheit von der Beschaffung bis zur Verbreitung von Informationen (RdNr. 43). Das Magazin und Cs Arbeit an diesem unterfallen dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Durch die Anordnungen im Ermittlungsverfahren, in dem C Beschuldigter ist, dringt der Staat in die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit ein (RdNr. 44). Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt vor.
7. Der Eingriff ist nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Pressefreiheit einschränkbar ist („Schranke“). Kann die Pressefreiheit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden?
Nein!
Es ist zu unterscheiden zwischen dem einfachen Gesetzesvorbehalt (jedes Gesetz kann das Grundrecht beschränken), dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt (Gesetze, die bestimmten Anforderungen genügen, können das Grundrecht beschränken), verfassungsimmanenten Schranken (nur kollidierendes Verfassungsrecht kann das Grundrecht beschränken) und verfassungsunmittelbaren Schranken (die Grundrechtsbeschränkungen stehen im Grundgesetz).
Gemäß Art. 5 Abs. 2 S. 2 GG ist die Pressefreiheit durch allgemeine Gesetze beschränkbar. Die Pressefreiheit unterliegt also einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt und nicht verfassungsimmanenten Schranken. 8. Ist § 353b StGB (die Strafrechtsnorm zur Verletzung von Dienstgeheimnissen, wegen der gegen C ermittelt wird) ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 S. 2 GG?
Genau, so ist das!
Allgemeine Gesetze sind solche, die nicht eine bestimmte Meinung als solche verbieten, sondern ohne Rücksicht auf bestimmte Meinungen dem Schutz eines Rechtsguts dienen. Ein die Pressefreiheit beschränkendes Gesetz kann ein allgemeines Gesetz sein, wenn das Rechtsgut, welches es schützt, gegenüber der Pressefreiheit vorrangig ist (RdNr. 47).
§ 353b StGB dient dem Schutz vor unbefugter Offenbarung von Dienstgeheimnissen und Verletzung besonderer Geheimhaltungspflichten (RdNr. 48). Dabei richtet sich § 353b StGB nicht gegen eine Meinung als solche, sondern schützt sein Rechtsgut unabhängig von einer ausgedrückten Meinung. Auch Presseorgane unterfallen diesem strafrechtlichen Verbot (RdNr. 48). Es handelt sich um ein allgemeines Gesetz.
Das BVerfG stellte auch kurz fest, dass auch die strafprozessualen Normen der Durchsuchung und Beschlagnahme (§§ 94, 98, 102, 105 StPO) allgemeine Gesetze sind, da sie jeden Staatsbürger unabhängig von seiner Meinung betreffen (RdNr. 49). 9. Für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung müssen die „Schranken-Schranken“ gewahrt sein. War die Beschlagnahmeanordnung verfassungswidrig, weil C unter das Beschlagnahmeverbot § 97 Abs. 5 S. 2 StPO fällt?
Nein, das trifft nicht zu!
Unter den „Schranken-Schranken“ wird geprüft, ob die Maßnahme öffentlicher Gewalt den Anforderungen der Schranke genügt. Falls C unter den Beschlagnahmeschutz für Mitarbeiter von Presse und Rundfunk (§ 97 Abs. 5 S. 2 StPO) fällt, durfte die Beschlagnahme nur unter besonderer Beachtung der Verhältnismäßigkeit durchgeführt werden (RdNr. 52). Das AG hatte keine besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen, sodass seine Anordnung dann nicht den Anforderungen der Schranke genügt hätte.
Der presserechtliche Beschlagnahmeschutz gilt in demselben Umfang wie ein Zeugnisverweigerungsrecht. Er ist daher nicht anwendbar für Journalisten, die selbst Beschuldigte einer Straftat sind, sondern nur für Zeugen (RdNr. 53). Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG bleibe für die Durchführung der Durchsuchung und Beschlagnahme bedeutsam, aber die Anordnung der Beschlagnahme war zunächst ohne besondere Voraussetzungen möglich. 10. Der Tatverdacht gegen C war stark genug, um die Durchsuchung und Beschlagnahme anzuordnen.
Nein!
Die Stärke des Tatverdachts muss unter Berücksichtigung der Pressefreiheit mit den von § 353b StGB geschützten Interessen abgewogen werden. Nur wenn der Tatverdacht groß genug ist, war die AG-Anordnung verfassungsgemäß.
Der Tatverdacht gegen C stütze sich allein auf die Artikelveröffentlichung in seinem Magazin: da aus dem BKA-Bericht zitiert wurde, musste der Verfasser im Besitz des Berichts sein. Allerdings setzt eine Beihilfe zur Geheimnisverletzung die (vorsätzliche, rechtswidrige) Haupttat eines Geheimnisträgers voraus. Es ist aber auch möglich, dass der Bericht (1) versehentlich oder (2) durch einen Nicht-Geheimnisträger zu C gelangte (RdNr. 56). Außerdem sei denkbar, (3) dass ein Geheimnisträger nur Hintergrundinformationen liefern wollte, nicht aber die Veröffentlichung im Magazin vorhersah, sodass die Haupttat (Weitergabe vertraulicher Informationen) bei Artikelveröffentlichung schon beendet, also nicht beihilfefähig war. Mangels konkreter Anhaltspunkte bestand gegen C kein ausreichender Tatverdacht.
Ob eine sukzessive Beihilfe des C in Betracht kommt, hat das BVerfG kurz angesprochen, dann aber als unerheblich verworfen (RdNr. 59f). 11. Mangels konkreter Anhaltspunkte für eine Straftat des C und wegen der demokratiekonstitutiven Bedeutung der Pressefreiheit waren die Anordnungen des AG verfassungswidrig.
Genau, so ist das!
Die Anordnungen waren verfassungswidrig, wenn sie den Informationsschutz aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG bei der Auslegung und Anwendung der StGB- und StPO-Normen nicht hinreichend berücksichtigten (RdNr. 60). Dazu gehört, dass Ermittlungen gegen Presseangehörige nicht durchgeführt werden dürfen, nur um die Person des Informanten zu ermitteln (RdNr. 61): dann könnten Ermittlungsbehörden den besonderen Schutz der Presseangehörigen und ihren Informanten ausschalten (RdNr. 62). Die strafprozessualen Normen müssen mit Blick auf die Pressefreiheit so ausgelegt werden, dass nur durch eine Veröffentlichung von Dienstgeheimnissen kein genügender Tatverdacht vorliege.
Nach diesen Maßstäben ordnete das AG die Durchsuchung und Beschlagnahme an, ohne dass Anhaltspunkte für eine Straftat des C vorlagen (RdNr. 64). Außerdem sollte die Durchsuchung vornehmlich dazu dienen, den Informanten aus dem BKA zu ermitteln (RdNr. 65). Folglich wurde Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG bei der Anordnung nicht hinreichend berücksichtigt, die Maßnahme ist nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. C wurde in seiner Pressefreiheit verletzt. 12. Durch den Beschluss des LG, die Beschwerde des C habe sich nach Löschung des Festplatteninhalts erledigt, griff das LG in den Schutzbereich von Cs Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) ein.
Ja, in der Tat!
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet allen Bürgern effektiven Rechtsschutz und wirksame gerichtliche Kontrolle hoheitlicher Maßnahmen. Die Möglichkeit, gegen gerichtliche Entscheidungen Rechtsmittel einzulegen, dürfe nicht leerlaufen. Zulässig ist es aber, Rechtsschutz nur so lange zu gewähren, wie ein Rechtsschutzinteresse - zum Beispiel eine gegenwärtige Beschwer - besteht (RdNr. 68f).
Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen und dortige Beschlagnahmen sind typischerweise schnell beendet und daher auch ihre Anordnungen gegenstandslos. Finden die Maßnahmen aber in Presseräumen statt, muss die Presse das Recht haben, die Rechtswidrigkeit der Eingriffe feststellen zu lassen, da die redaktionelle Arbeit und die Kontakte zu Informanten gefährdet werden (RdNr. 70). C ist also noch immer beschwert. Der ablehnende Beschluss greift in Cs Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG ein.
13. Das LG wägte die widerstreitenden Interessen ab, genügte damit den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG und handelte verfassungsgemäß.
Nein!
Das LG stellte korrekt fest, dass sich der Beschlagnahmebeschlusses erledigt hatte. Es berücksichtigte aber nicht, dass die Maßnahme aufgrund der Bedeutung der Pressefreiheit Folgewirkungen hat (RdNr. 73): eine erledigte Beschlagnahme stellt einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar, wenn sie erheblich in die Pressefreiheit eingreift, weil sie zum Beispiel die Kenntnisnahme wichtiger Materialien ermöglicht (RdNr. 74f.). Da die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen verfassungswidrig waren (s.o.), stellt die Verweigerung von Rechtsschutz durch das LG – trotz Erledigung – einen Verstoß gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes dar und ist ebenfalls verfassungswidrig. Cs Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich. Er wurde sowohl in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG als auch in Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
Für die Prüfung des Art. 19 Abs. 4 GG musstest Du auf die Wertungen und Dein Ergebnis aus der Prüfung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zurückgreifen.