+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der Verein „Radikale Nationale“ (RN) meldet eine Versammlung unter dem Motto „Stunkstädter gegen die Islamisierung des Abendlandes“ an. Oberbürgermeisterin OB spricht sich in einer Rede bei einer gemeindlichen Veranstaltung im Rathaus für mehr Offenheit aus und sagt, RN und ihre Versammlung erzeugten "Ängste und Ressentiments". Auf der offiziellen Gemeindewebite ruft OB außerdem dazu auf, „für Demokratie und Vielfalt sowie gegen Ausgrenzung und Hass“ an einer Gegendemonstration teilzunehmen.
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Einordnung des Falls
Äußerungsbefugnis des Bürgermeisters - "StugIdA"
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die OB hat sich als Privatperson und nicht in amtlicher Funktion als Oberbürgermeisterin geäußert.
Nein, das ist nicht der Fall!
Der amtliche Charakter der Äußerung erschließt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Äußerung. Ein starkes Indiz dafür ist die Inanspruchnahme amtlicher Ressourcen (Amtsblätter, gemeindliche Website oder Mail-Adresse, Nutzung von Amtsräumen oder Symbolen).
Die erste Äußerung (Rede) erfolgte auf einer gemeindlichen Veranstaltung in den gemeindlichen Räumen (Rathaus). Die zweite Äußerung (Aufruf zur Teilnahme an der Gegendemonstration) erfolgte auf der offiziellen Gemeindewebsite. Anhaltspunkte für eine rein private Willensäußerung gibt es hingegen jeweils nicht. Beide Äußerungen haben daher amtlichen Charakter.
Liegen wie hier verschiedene Äußerungen vor, achte darauf, jede separat zu untersuchen.
Ein Amtsträger kann sich nur auf Grundrechte, wie die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG), berufen, soweit er als Privatperson und nicht in amtlicher, also hoheitlicher, Funktion agiert. Denn ein Hoheitsträger kann nicht gleichzeitig Träger und Adressat eines Grundrechts sein („Konfusionsargument“).
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2. Für die Rechtmäßigkeit von Äußerungen öffentlicher Amtsträger gegenüber politischen Parteien hat die Rechtsprechung drei Voraussetzungen aufgestellt.
Nein, das trifft nicht zu!
Die Rechtsprechung hat hierfür vier Voraussetzungen entwickelt: Es bedarf (1) einer Ermächtigungsgrundlage für die Äußerung. Darüber hinaus muss die Äußerung (2) neutral, (3) sachlich und (4) verhältnismäßig sein.
Da diese Rechtsprechung nicht aus geschriebenen Normen abgeleitet werden kann, solltest Du Dir diese vier Voraussetzungen einprägen.
3. Müssen öffentliche Äußerungen, die in Grundrechte eingreifen, auf eine besondere Ermächtigungsgrundlage gestützt werden?
Nein!
Eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für öffentliche Äußerungen von Amtsträgern existiert nicht (vgl. aber § 40 Abs. 1 LFGB). Diese ist aber eigentlich nach dem Vorbehalt des Gesetzes erforderlich. Nach der Rechtsprechung genügt aber eine Aufgabenzuweisungsnorm, soweit der Hoheitsträger im Rahmen der ihm zugewiesenen Aufgaben handelt.
Diese (vielfach kritisierte) Rechtsprechung darf nicht auf andere Konstellationen übertragen werden. Es ist ein schwerer Fehler, einen Grundrechtseingriff auf eine bloße Aufgabenzuweisungsnorm anstelle einer Befugnisnorm zu stützen!
4. Eine Ermächtigungsgrundlage für die Äußerungen der OB liegt vor.
Genau, so ist das!
Eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für amtliche Äußerungen von Bürgermeistern existiert nicht. Die Befugnis der Gemeinde, sich zu Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu positionieren, folgt nach der Rechtsprechung aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG. (Ober)Bürgermeister sind als Vertreter der Gemeinde nach Außen (§§ 38 Abs. 2 S. 1 KV MV, 86 Abs. 1 S. 2 KomVG NI, Art. 38 Abs. 1 S. 1 GO BY) jedenfalls auch befugt, sich im Rahmen ihres Aufgabenbereichs hierzu öffentlich zu äußern.
Die Äußerungen von OB haben einen spezifisch örtlichen Bezug. Die Äußerungen richteten sich an die Bürger von Stunkstadt. Anlass war eine in Stunkstadt stattfindende Versammlung. Auch das Motto der gegenständlichen Versammlung stellt einen ausdrücklichen Bezug zur Gemeinde her.
5. Bezüglich Äußerungen gegenüber politischen Parteien muss das Neutralitätsgebot, das Sachlichkeitsgebot und das Verhältnismäßigkeitsgebot beachtet werden. Ist dieser Prüfungsmaßstab auf Äußerungen gegenüber politischen Vereinigungen wie RN übertragbar?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Wahrung strikter Neutralität gegenüber politischen Parteien ergibt sich aus dem Anspruch auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Staatsorgane dürfen im politischen Meinungskampf daher nicht ihre Amtsautorität oder amtliche Ressourcen in Anspruch nehmen (Neutralitätsgebot). Vereinigungen wie RN stehen allerdings mangels Eigenschaft als politische Partei nicht im Wettstreit um die öffentliche Gunst der Wähler. Daher entfällt die Grundlage der Gewähr von Chancengleichheit. Neutralität muss daher bei Äußerungen gegenüber Vereinigungen nicht gewahrt werden.
6. Die Äußerungen der OB in der Rede im Rathaus sind sachlich.
Ja!
Das Sachlichkeitsgebot erfordert, dass Tatsachen nicht unzutreffend wiedergegeben werden, Werturteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten und die demokratische Willensbildung nicht lenkend beeinflussen.
Die Äußerung der OB, RN und ihre Versammlung erzeugten "Ängste und Ressentiments", ist von einer sachlichen Auseinandersetzung mit ihrer Forderung nach mehr Offenheit geprägt. Die Äußerung fügt sich in den politischen Meinungsbildungsprozess ein, ohne absolute Wahrheitsansprüche zu erheben oder pauschal zu sein. Zwar ist ihre Haltung erkennbar ablehnend, aber ohne Stigmatisierung oder Verachtung. Neutral muss OB gerade nicht sein. Auch wird der Wettstreit der politischen Meinungen durch eine bloße Wertung der OB in einer Rede noch nicht gelenkt.
Hier musst Du den jeweiligen Sachverhalt sorgfältig auswerten. Ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot dürfte jedenfalls bei besonders abwertenden und inhaltsleeren Äußerungen anzunehmen sein.
7. Die Äußerungen der OB in der Rede im Rathaus sind verhältnismäßig.
Ja, in der Tat!
Die Äußerungen sind verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgen und hierfür geeignet, erforderlich und angemessen sind.
Die OB verfolgt bei Äußerungen im Rahmen der ihr zugewiesenen Aufgabe den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, sich zu Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu positionieren. Die Äußerung ist hierfür auch geeignet und erforderlich. Sie ist in Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern auch angemessen. OB hat als Vertreterin der Gemeinde eine besondere Repräsentations- und Integrationsfunktion, die eine strikte politische Neutralität nicht zulässt. Demgegnüber steht eine Äußerung geringer Intensität, die kaum eine abschreckende Wirkung bezüglich der Teilnahme an Demonstrationen der RN entfaltet. Die Versammlungsfreiheit gewährt insoweit keinen Schutz vor der bloßen politischen Bewertung einer Versammlung. Vielmehr positioniert sich OB mit objektiv vertretbaren Erwägungen und inhaltlicher Kritik gegen die Versammlung.
8. Die Äußerungen der OB in der Rede sind rechtmäßig, die Äußerungen auf der Gemeindewebsite dagegen rechtswidrig.
Ja!
OB kann sich jeweils auf eine Ermächtigungsgrundlage für die Äußerung stützen. Nur die Äußerungen in der Rede sind aber sachlich und verhältnismäßig. Der Aufruf auf der Gemeindewebsite ist dagegen rechtswidrig.
In der Prüfung kann dieser Fall in ein Eilrechtsschutzverfahren (§ 123 Abs. 1 VwGO) oder in einen öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch eingekleidet werden.
9. Gegenüber politischen Vereinigungen bestehen daher für Äußerungen öffentlicher Amtsträger keine Beschränkungen.
Nein!
Amtsträger sind in amtlicher Funktion umfassend an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). In subjektivrechtlicher Hinsicht streiten insbesondere Art. 5 GG und Art. 8 GG für politische Vereinigungen. Staatlichen Äußerungen kommt nach dem modernen Eingriffsbegriff (mittelbar-faktische) Eingriffsqualität zu. In objektivrechtlicher Hinsicht ist das Rechtsstaatsgebot, Art. 20 Abs. 3 GG, zu beachten. Rechtsstaatliches Verhalten setzt die Beachtung des Willkürverbots und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes voraus. Aus dem Willkürverbot wiederum lässt sich das Sachlichkeitsgebot ableiten, in dessen Rahmen auch das Demokratieprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG, zu beachten ist: Tatsachen dürfen nicht unzutreffend wiedergegeben werden, Werturteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten und die demokratische Willensbildung nicht lenkend beeinflussen.
Damit ist zwar nicht das Neutralitätsgebot, aber das Sachlichkeitsgebot und das Verhältnismäßigkeitsgebot zu beachten. Im Rahmen des Sachlichkeitsgebots spielt auch das Demokratieprinzip eine Rolle.
Das Demokratieprinzip ist hier betroffen, da die freie Bildung der öffentlichen Meinung Ausdruck des demokratischen Staatswesens ist, in dem sich die Willensbildung des Volkes frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich „staatsfrei“ vollzieht. Der Staat muss daher im Willensbildungsprozess Zurückhaltung walten lassen.
10. Die Äußerungen der OB auf der Gemeindewebsite sind sachlich.
Nein, das ist nicht der Fall!
Das Sachlichkeitsgebot erfordert, dass Tatsachen nicht unzutreffend wiedergegeben werden, Werturteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten und die demokratische Willensbildung nicht lenkend beeinflussen (Demokratieprinzip).
Der Aufruf zur Teilnahme an der Gegendemonstration erfolgte zwar nicht in abwertender oder inhaltsleerer Form. Er verfolgte aber das Ziel, die Versammlung der RN in ihrer Wirkung zu schwächen und die Gegendemonstration zu stärken. Damit nimmt OB lenkenden Einfluss auf die Grundrechtsausübung der Bürgerinnen und Bürger. Der Wettbewerb zwischen gegenläufigen friedlichen Versammlungen ist im Rahmen staatsfreier Meinungsbildung von der Bevölkerung auszutragen und darf nicht staatlich beeinflusst werden.
Das OVG Münster als Vorinstanz war hier noch anderer Auffassung: Der Aufruf zur Teilnahme an der friedlichen Gegendemonstration sei als Identifikation mit dem Motto der Gegendemonstration und als legitime inhaltliche Auseinandersetzung zu verstehen. Eine solche sei Teil des öffentlichen politischen Diskurses. Das BVerwG war hier enger und betonte die Bedeutung des Demokratieprinzips.