Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Radfahrerfall (Pflichtwidrigkeitszusammenhang)

Radfahrerfall (Pflichtwidrigkeitszusammenhang)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

LKW-Fahrer L lässt nur einen Abstand von 0,75m zum Radfahrer R. R ist betrunken (1,96 Promille). Als L überholt, erschrickt sich R, gerät unter die Räder und ist tot. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre dies auch bei einem angemessenen Abstand von 1-1,5m passiert.

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Einordnung des Falls

Radfahrerfall (Pflichtwidrigkeitszusammenhang)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L hat den Tod des R kausal verursacht.

Ja, in der Tat!

Nach der Äquivalenztheorie (= conditio-sine-qua-non-Formel) ist eine Handlung kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte L nicht mit zu geringem Abstand überholt, wäre R nicht unter die Räder gekommen und gestorben. Dass L den R wahrscheinlich auch beim Überholen mit genügend Abstand überfahren hätte, ist als hypothetischer Kausalverlauf unbeachtlich. Im Rahmen der Kausalität kommt es nur auf das tatsächliche Geschehen an.
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2. L hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten.

Ja!

Der einschlägige Sorgfaltsmaßstab ergibt sich seit April 2019 aus § 5 Abs. 4 S. 3 StVO. Danach muss beim Überholen der Seitenabstand zum Überholten mindestens 1,5m betragen. L überholt den R indes mit einem Abstand von nur 0,75m.Zum Zeitpunkt der Entscheidung gab es die Norm noch nicht. Der BGH hat damals aus dem allgemeinen Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 1 StVO) abgeleitet, dass ein Abstand von 1-1,5 m angemessen wäre.

3. Der Tod des R war auch objektiv vorhersehbar.

Genau, so ist das!

Die objektive Vorhersehbarkeit setzt voraus, dass der Erfolgseintritt sowie Kausalverlauf für einen Durchschnittsmenschen des jeweiligen Verkehrskreises absehbar gewesen ist. Für einen durchschnittlichen LKW-Fahrer ist es nicht unvorhersehbar, dass bei einem Überholvorgang mit zu geringem Seitenabstand der Überholte erschrickt, infolgedessen nach links ausschert und es so mitunter zu tödlichen Unfällen kommen kann.

4. Der Tod des R ist dem L nach der Vermeidbarkeitstheorie objektiv zuzurechnen.

Nein, das trifft nicht zu!

Bei Fahrlässigkeitsdelikten muss im Rahmen der objektiven Zurechnung auch ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser ist nach der Vermeidbarkeitstheorie gegeben, wenn der konkrete Erfolg bei pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wäre. Der Unfalltod des R wäre trotz genügend Sicherheitsabstand als rechtmäßigem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten.

5. Der Tod des R wäre dem L aber nach der Risikoerhöhungslehre objektiv zuzurechnen.

Ja!

Nach der Risikoerhöhungslehre ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben, wenn das pflichtwidrige Verhalten das Risiko verglichen mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten erhöht hat.Der zu geringe Abstand des L beim Überholen hat das Risiko eines Unfalls mit R deutlich erhöht. R's Tod wäre hiernach trotz der Zweifel hinsichtlich des hypothetischen Geschehens dem L zurechenbar. Für die Risikoerhöhungslehre sprechen in Bezug auf rechtsgutskritische Fälle, bei denen sich die Vermeidbarkeit nicht sicher nachweisen lässt, kriminalpolitische Erwägungen.Gleichwohl steht sie in Widerspruch zum Grundsatz in dubio pro reo und deutet die Verletzungsdelikte contra legem in Gefährdungsdelikte um.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dave K. 🦊

Dave K. 🦊

8.1.2022, 11:10:28

Guten Morgen liebes Jurafuchs-Team, leider finde ich die Lösung wenig „überzeugend“. 1. ist eine hohe Wahrscheinlichkeit nicht die vorausgesetzte „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“. Bsp: Das die Zahl 1-5 bei einem 🎲 erscheinend, ist hoch, aber deshalb noch lange nicht (mit an-) sicher(heit grenzend). Oder wie seht ihr das? 2. für das rechtmäßige Alternativverhalten spielen die 1-1,5m doch keine Rolle, da der geforderte Abstand *mindestens* 1,5m betragen muss. Wenn man jetzt sehr genau ist, könnte man natürlich sagen, die 1-1,5m enthält eben die mindestens 1,5m, aber ob das wirklich überzeugend ist und man deshalb den

Pflichtwidrigkeitszusammenhang

verneint, darf man wohl in Frage stellen. Zumal „mindestens“ eben auch mehr bedeuten kann. LG 😊

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.1.2022, 12:27:13

Hallo Dave, vielen Dank für Deinen Hinweis bzw. Deine Rückfrage. zu 1: Die kleine Strafkammer (LG) hat als Berufungsinstanz in dem zugrundeliegenden Ausgangsfall in der Tat die "hohe" Wahrscheinlichkeit genügen lassen. Dass dies durchaus nicht umstritten ist, zeigt sich bereits daran, dass das als Revisionsinstanz angerufene OLG die Sache dem BGH vorgelegt hat. Dieser hatte es indes nicht beanstandet, dass hier "lediglich" eine hohe Wahrscheinlichkeit als gegeben erachtet wurden. Der BGH hat insoweit zudem klargestellt, dass es hierfür keine "absolute", d.h. denkgesetzlich zwingende Sicherheit bedarf. Insofern kann man hier durchaus etwas großzügiger sein. Da es aber so vage ist, kannst Du Dich in der Klausur letztlich oftmals in beide Richtungen entscheiden.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.1.2022, 12:30:27

zu 2: Sehr guter Einwand. Die Regelung mit den 1,5m gibt es allerdings erst seit

Apr

il 2020. Der BGH hat damals - ohne Rückgriff auf das allgemeine Rücksichtnahmegebot - 1 - 1,5 m als pflichtgemäßen Abstand erachtet. Wir haben das nun in der Antwort noch präzisiert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ALE

alexd.227

21.1.2024, 01:05:19

auf die Frage, ob der lkw fahrer damit hötte rechnen müssen, ist die antwort ja, in der erklärung steht aber, dass die lösung nein ist, oder verstehe ich da was falsch?

Gruttmann

Gruttmann

21.1.2024, 14:52:32

In der Lösung steht, es ist nicht unvorhersehbar für einen …. dass sowas passieren kann. Also es ist objektiv vorhersehbar. Schau nochmal nach, du wirst es bestimmt verstehen. LG


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