Unzulässiger Vollstreckungsbescheid
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Gegen einen Mahnbescheid legt B am 01.06. verspätet Widerspruch ein. Der Rechtspfleger übersieht diesen und erlässt am 04.06. den Vollstreckungsbescheid. B legt dagegen Einspruch ein. Im Einspruchstermin ist B allerdings säumig.
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Einordnung des Falls
Unzulässiger Vollstreckungsbescheid
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Da B zu spät Widerspruch eingelegt hat, musste dieser nicht beachtet werden und der Vollstreckungsbescheid erging zulässigerweise.
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Unzulässigkeit des Vollstreckungsbescheids führt dazu, dass dieser im Einspruchstermin aufzuheben ist (§ 700 Abs. 6 ZPO), auch wenn B säumig ist.
Ja, in der Tat!
3. Zwar wird der unzulässige Vollstreckungsbescheid aufgehoben, allerdings führt die Säumnis des B im Einspruchstermin dazu, dass er durch ein (erstes) Versäumnisurteil zur Zahlung verurteilt wird.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Geithombre
28.10.2023, 08:49:00
Kurze Verständnisfrage, warum treffen den K die Kosten für den ungesetzlich ergangenen VB? Dies beruhte ja auf dem Fehler des Rechtspflegers. Trägt K zunächst die Kosten und muss gegen das Land prozessieren oder gibt es eine Möglichkeit, diesen Teil direkt der Staatskasse aufzuerlegen? Oder habe ich hier am frühen Morgen einen Denkfehler?
Aleks_is_Y
6.5.2024, 14:46:50
Ich habe mir dieselbe Frage gestellt :)
Sebastian Schmitt
9.11.2024, 11:20:50
Hallo @[Geithombre](138034), hallo @[Aleks_is_Y](225618), zunächst zum einfachen, ersten Teil der Frage von Geithombre: Ob dem Gericht oder dem Rechtspfleger ein Fehler vorzuwerfen ist, ist für die Kostenentscheidung irrelevant. Die Prüfung ist hinsichtlich der Frage des Ergehens "in gesetzlicher Weise" nach ganz hM rein objektiv, auf ein Verschulden kommt es nicht an (BGH NJW 1961, 2207; MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl 2020, § 344 Rn 15). Dementsprechend ist die Kostentscheidung zwingend und es ergeht für den Fall des Ergehens in UNgesetzlicher Weise nach §§ 90, 91 ZPO eine einheitliche Kostenentscheidung (BeckOK-ZPO/Toussaint, 54. Ed, Stand 1.9.2024, § 344 Rn 1). Der zweite Teil der Frage ist deutlich schwieriger: (Wie) kommt der Kläger hier an sein Geld? Auch die großen ZPO-Kommentare geben hierauf nicht wirklich eine Antwort, deswegen sind das nachfolgend nur meine Vermutungen. Ich stimme Geithombre darin zu, dass der Kläger wertungsmäßig eigtl nicht ohne Weiteres auf den kompletten Kosten sitzenbleiben darf. Das gilt jedenfalls dann, wenn er den Fehler des Gerichts nicht ebenfalls kannte oder zumindest hätte erkennen können (wovon wir hier mal nicht ausgehen wollen). Dann sehe ich allerdings in der Tat nicht, wie der Kläger ohne einen Schadensersatzanspruch gegen den Staat an die Mehrkosten herankommt. Die Kostengrundentscheidung ist wie gesagt fix und iRd Kostenfestsetzungsverfahrens sehe ich ebenfalls keine Möglichkeit, das als Verschuldens- oder Billigkeitserwägung zu erfassen. Die andere Frage ist, wie praktisch relevant das alles ist. "[D]ie durch die Säumnis veranlassten Kosten" iSd § 344 ZPO sind deutlich weniger umfangreich und deutlich seltener überhaupt gegeben, als man das bei oberflächlicher Lektüre vermuten würde (Überblick zB bei Saenger/Kießling, ZPO, 10. Aufl 2023, § 344 Rn 4 ff). Das dürfte auf den Einspruchstermin auf einen VB hin noch mehr zutreffen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
ehemalige:r Nutzer:in
8.11.2023, 11:23:53
ich hätte eine kurze Verständnisfrage: wann ist ein VU denn in gesetzlicher und wann in ungesetzlicher Weise ergangen?
Sebastian Schmitt
9.11.2024, 10:15:36
Hallo @[ehemalige:r Nutzer](214994), vorab: Meinst Du wirklich ein Versäumnisurteil (VU)? In unserem Fall ging es immerhin um einen Vollstreckungsbescheid (VB). Das "in gesetzlicher Weise" ist nach § 344 ZPO eine wesentliche Weichenstellung für die Kosten. Gemeint ist damit, dass die entsprechende Entscheidung eben "zu Recht" ergangen ist, also die gesetzlichen Voraussetzungen der ZPO zum Erlass eines VU (zB gegen den Beklagten unter anderem (!): dessen Säumigkeit, § 331 I 1 ZPO; keine Unzulässigkeit nach § 335 ZPO etc) bzw hier in unserem Fall eines VB (zB unter anderem (!) kein rechtzeitiger Widerspruch, § 699 I 1 ZPO) gegeben waren. Sämtliche Voraussetzungen hier noch einmal abstrakt aufzulisten, ist mE wenig zielführend, zumal wir bei einem VU noch zwischen einem gegen den Kläger und gegen den Beklagten unterscheiden müssten. Dazu möchte ich Dich auf Deine Vorlesungs-/AG-Unterlagen und/oder auf entsprechende Lehrbücher oder Skripten verweisen. Falls Du konkrete Fragen zu bestimmten Punkten hast, kannst Du die natürlich gerne hier stellen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Denislav Tersiski
31.12.2023, 22:37:56
Ist hier ein Fall von 694 II 1 ZPO gegeben oder meint dieser eher den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt wurde und erst dann der Widerspruch beim Mahngericht eingeht?
Timurso
28.1.2024, 13:10:16
694 II 1 ZPO meint den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt wurde, ja. Insofern ist die Sachverhaltsangabe, dass er "verspätet" Widerspruch einlegt, imo irreführend, da verspätet im Sinne des 694 II ZPO nur ist, wenn der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt ist.
Sebastian Schmitt
9.11.2024, 10:02:58
Hallo @[Denislav Tersiski](209599), @[Timurso](197555) hat Deine Frage im Kern schon völlig richtig beantwortet. § 694 II 1 ZPO meint nur den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid (VB) zum Zeitpunkt des Widerspruchs schon verfügt wurde, was in unserem Fall noch nicht so ist. Mit dem Wort "verspätet" in unserer Sachverhaltsdarstellung wollten wir nur herausheben, dass die 2-Wochen-Frist des § 692 I Nr 3 ZPO schon abgelaufen ist. Wegen § 694 I ZPO kommt es für die Abgrenzung zwischen Widerspruch und Einspruch aber nicht (allein) auf den Fristablauf an, sondern eben (auch) darauf, dass der VB schon verfügt ist. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Entenpulli
27.1.2024, 16:23:41
Welche Überschrift verwendet man dann (VU oder Urteil), wen beide vorliegt?
Timurso
28.1.2024, 11:40:59
Ich hatte das jetzt so verstanden, dass es zwei separate Urteile gibt, ein Endurteil zur Aufhebung des VB und ein VU. Ansonsten würde man wahrscheinlich einfach "End- und Versäumnisurteil" drüberschreiben.
Sebastian Schmitt
9.11.2024, 09:58:04
Hallo @[Entenpulli](169608), ich sehe hier keinen Grund, warum man nicht beides in einer Entscheidung verbinden könnte. In der Praxis wird das (anscheinend, ich bin kein Zivilrichter) auch so gehandhabt und würde dann wohl in der Tat mit "End- und Versäumnisurteil" überschrieben (vgl Pukall/Pukall/Kießling, Der Zivilprozess in der Praxis, 7. Aufl 2013, Rn 1618). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team