Unzulässiger Vollstreckungsbescheid

22. November 2024

4,9(4.293 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Gegen einen Mahnbescheid legt B am 01.06. verspätet Widerspruch ein. Der Rechtspfleger übersieht diesen und erlässt am 04.06. den Vollstreckungsbescheid. B legt dagegen Einspruch ein. Im Einspruchstermin ist B allerdings säumig.

Diesen Fall lösen 74,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Unzulässiger Vollstreckungsbescheid

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da B zu spät Widerspruch eingelegt hat, musste dieser nicht beachtet werden und der Vollstreckungsbescheid erging zulässigerweise.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Gericht erlässt auf Antrag einen Vollstreckungsbescheid auf der Grundlage des Mahnbescheids, wenn der Antragsgegner nicht rechtzeitig Widerspruch erhoben hat (§ 699 Abs. 1 S. 1 ZPO). Der Antragsgegner kann innerhalb von zwei Wochen seit der Zustellung des Mahnbescheids dem dort geltend gemachten Anspruch widersprechen (§ 692 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Aber auch ein verspäteter Widerspruch ist nach § 694 Abs. 1 ZPO ausnahmsweise zu beachten, wenn dieser erhoben wird, solange der Vollstreckungsbescheid nicht verfügt ist. Bs Widerspruch bei Gericht einging, war der Vollstreckungsbescheid noch nicht verfügt. Ein Vollstreckungsbescheid hätte somit nicht ergehen dürfen (§ 699 Abs. 1 S. 1 ZPO). Beachte: Auch ein unzulässiger Vollstreckungsbescheid entfaltet Rechtswirkung, sofern er nicht aufgehoben wird.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Die Unzulässigkeit des Vollstreckungsbescheids führt dazu, dass dieser im Einspruchstermin aufzuheben ist (§ 700 Abs. 6 ZPO), auch wenn B säumig ist.

Ja, in der Tat!

Wenn der Einspruchsführer im Einspruchstermin säumig ist, wird der Einspruch gegen das Versäumnisurteil verworfen (Zweites Versäumnisurteil, § 345 ZPO). Auch ein Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid kann bei Säumnis nach §§ 700 Abs. 1, 345 ZPO verworfen werden. Die Verwerfung des Einspruchs setzt allerdings voraus, dass der Vollstreckungsbescheid in gesetzmäßiger Weise ergangen und damit zulässig ist (§ 700 Abs. 6 ZPO). Ist dies nicht der Fall, wird der Vollstreckungsbescheid durch Endurteil aufgehoben. Hier ist der Vollstreckungsbescheid nicht ordnungsgemäß ergangen, weil der Rechtspfleger den Widerspruch übersehen hat (vgl. § 699 Abs. 1 S. 1 ZPO). Der unzulässige Vollstreckungsbescheid muss im Einspruchstermin aufgehoben werden.

3. Zwar wird der unzulässige Vollstreckungsbescheid aufgehoben, allerdings führt die Säumnis des B im Einspruchstermin dazu, dass er durch ein (erstes) Versäumnisurteil zur Zahlung verurteilt wird.

Ja!

Es ergeht ein erstes Versäumnisurteil, wenn der unzulässige Vollstreckungsbescheid im Einspruchstermin aufgehoben wird, der Beklagte aber säumig ist. Hier ergeht also ein End- und Versäumnisurteil: (1) die Unzulässigkeit des Vollstreckungsbescheids führt dazu, dass er durch Endurteil aufzuheben ist, (2) die Säumnis des Beklagten führt dazu, dass er durch (erstes) Versäumnisurteil zur Zahlung von €XY zu verurteilen ist. Beachte: Die Kosten für den Erlass des Vollstreckungsbescheids hat der Kläger zu tragen, da der Vollstreckungsbescheid ungesetzlich erging, vgl. §§ 91, 344 ZPO.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

GEI

Geithombre

28.10.2023, 08:49:00

Kurze Verständnisfrage, warum treffen den K die Kosten für den ungesetzlich ergangenen VB? Dies beruhte ja auf dem Fehler des Rechtspflegers. Trägt K zunächst die Kosten und muss gegen das Land prozessieren oder gibt es eine Möglichkeit, diesen Teil direkt der Staatskasse aufzuerlegen? Oder habe ich hier am frühen Morgen einen Denkfehler?

ALE

Aleks_is_Y

6.5.2024, 14:46:50

Ich habe mir dieselbe Frage gestellt :)

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

9.11.2024, 11:20:50

Hallo @[Geithombre](138034), hallo @[Aleks_is_Y](225618), zunächst zum einfachen, ersten Teil der Frage von Geithombre: Ob dem Gericht oder dem Rechtspfleger ein Fehler vorzuwerfen ist, ist für die Kostenentscheidung irrelevant. Die Prüfung ist hinsichtlich der Frage des Ergehens "in gesetzlicher Weise" nach ganz hM rein objektiv, auf ein Verschulden kommt es nicht an (BGH NJW 1961, 2207; MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl 2020, § 344 Rn 15). Dementsprechend ist die Kostentscheidung zwingend und es ergeht für den Fall des Ergehens in UNgesetzlicher Weise nach §§ 90, 91 ZPO eine einheitliche Kostenentscheidung (BeckOK-ZPO/Toussaint, 54. Ed, Stand 1.9.2024, § 344 Rn 1). Der zweite Teil der Frage ist deutlich schwieriger: (Wie) kommt der Kläger hier an sein Geld? Auch die großen ZPO-Kommentare geben hierauf nicht wirklich eine Antwort, deswegen sind das nachfolgend nur meine Vermutungen. Ich stimme Geithombre darin zu, dass der Kläger wertungsmäßig eigtl nicht ohne Weiteres auf den kompletten Kosten sitzenbleiben darf. Das gilt jedenfalls dann, wenn er den Fehler des Gerichts nicht ebenfalls kannte oder zumindest hätte erkennen können (wovon wir hier mal nicht ausgehen wollen). Dann sehe ich allerdings in der Tat nicht, wie der Kläger ohne einen Schadensersatzanspruch gegen den Staat an die Mehrkosten herankommt. Die Kostengrundentscheidung ist wie gesagt fix und iRd Kostenfestsetzungsverfahrens sehe ich ebenfalls keine Möglichkeit, das als Verschuldens- oder Billigkeitserwägung zu erfassen. Die andere Frage ist, wie praktisch relevant das alles ist. "[D]ie durch die Säumnis veranlassten Kosten" iSd § 344 ZPO sind deutlich weniger umfangreich und deutlich seltener überhaupt gegeben, als man das bei oberflächlicher Lektüre vermuten würde (Überblick zB bei Saenger/Kießling, ZPO, 10. Aufl 2023, § 344 Rn 4 ff). Das dürfte auf den Einspruchstermin auf einen VB hin noch mehr zutreffen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

8.11.2023, 11:23:53

ich hätte eine kurze Verständnisfrage: wann ist ein VU denn in gesetzlicher und wann in ungesetzlicher Weise ergangen?

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

9.11.2024, 10:15:36

Hallo @[ehemalige:r Nutzer](214994), vorab: Meinst Du wirklich ein Versäumnisurteil (VU)? In unserem Fall ging es immerhin um einen Vollstreckungsbescheid (VB). Das "in gesetzlicher Weise" ist nach § 344 ZPO eine wesentliche Weichenstellung für die Kosten. Gemeint ist damit, dass die entsprechende Entscheidung eben "zu Recht" ergangen ist, also die gesetzlichen Voraussetzungen der ZPO zum Erlass eines VU (zB gegen den Beklagten unter anderem (!): dessen Säumigkeit, § 331 I 1 ZPO; keine Unzulässigkeit nach § 335 ZPO etc) bzw hier in unserem Fall eines VB (zB unter anderem (!) kein rechtzeitiger Widerspruch, § 699 I 1 ZPO) gegeben waren. Sämtliche Voraussetzungen hier noch einmal abstrakt aufzulisten, ist mE wenig zielführend, zumal wir bei einem VU noch zwischen einem gegen den Kläger und gegen den Beklagten unterscheiden müssten. Dazu möchte ich Dich auf Deine Vorlesungs-/AG-Unterlagen und/oder auf entsprechende Lehrbücher oder Skripten verweisen. Falls Du konkrete Fragen zu bestimmten Punkten hast, kannst Du die natürlich gerne hier stellen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Denislav Tersiski

Denislav Tersiski

31.12.2023, 22:37:56

Ist hier ein Fall von 694 II 1 ZPO gegeben oder meint dieser eher den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt wurde und erst dann der Widerspruch beim Mahngericht eingeht?

TI

Timurso

28.1.2024, 13:10:16

694 II 1 ZPO meint den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt wurde, ja. Insofern ist die Sachverhaltsangabe, dass er "verspätet" Widerspruch einlegt, imo irreführend, da verspätet im Sinne des 694 II ZPO nur ist, wenn der Vollstreckungsbescheid bereits verfügt ist.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

9.11.2024, 10:02:58

Hallo @[Denislav Tersiski](209599), @[Timurso](197555) hat Deine Frage im Kern schon völlig richtig beantwortet. § 694 II 1 ZPO meint nur den Fall, dass der Vollstreckungsbescheid (VB) zum Zeitpunkt des Widerspruchs schon verfügt wurde, was in unserem Fall noch nicht so ist. Mit dem Wort "verspätet" in unserer Sachverhaltsdarstellung wollten wir nur herausheben, dass die 2-Wochen-Frist des § 692 I Nr 3 ZPO schon abgelaufen ist. Wegen § 694 I ZPO kommt es für die Abgrenzung zwischen Widerspruch und Einspruch aber nicht (allein) auf den Fristablauf an, sondern eben (auch) darauf, dass der VB schon verfügt ist. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

EN

Entenpulli

27.1.2024, 16:23:41

Welche Überschrift verwendet man dann (VU oder Urteil), wen beide vorliegt?

TI

Timurso

28.1.2024, 11:40:59

Ich hatte das jetzt so verstanden, dass es zwei separate Urteile gibt, ein Endurteil zur Aufhebung des VB und ein VU. Ansonsten würde man wahrscheinlich einfach "End- und Versäumnisurteil" drüberschreiben.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

9.11.2024, 09:58:04

Hallo @[Entenpulli](169608), ich sehe hier keinen Grund, warum man nicht beides in einer Entscheidung verbinden könnte. In der Praxis wird das (anscheinend, ich bin kein Zivilrichter) auch so gehandhabt und würde dann wohl in der Tat mit "End- und Versäumnisurteil" überschrieben (vgl Pukall/Pukall/Kießling, Der Zivilprozess in der Praxis, 7. Aufl 2013, Rn 1618). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen