Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Subjektiver Tatbestand
Tötungsvorsatz bei objektiv äußerst gefährlicher Handlung – Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit
Tötungsvorsatz bei objektiv äußerst gefährlicher Handlung – Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Auf einer Party berührt der betrunkene B mit einer brennenden Zigarette das T-Shirt des Z. Es wird kaum sichtbar beschädigt. Aus Rache bringt Z den B auf dem Nachhauseweg zu Fall und stranguliert ihn mit seinem Gürtel 3 bis 5 Minuten. B stirbt an der dadurch verursachten Gehirnschwellung.
Diesen Fall lösen 81,9 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Tötungsvorsatz bei objektiv äußerst gefährlicher Handlung – Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Bei objektiv äußerst gefährlichen Handlungen (hier: längeres Strangulieren) liegt die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes (§ 212 StGB) nahe.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Liegen keine Umstände vor, die ein Vertrauen des Z begründen können, der Tod des B werde nicht eintreten, ergibt sich aus dem Sachverhalt eindeutig die Billigung des Todes durch Z.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Leo
8.8.2020, 15:26:53
Gilt bei nicht eindeutigen Aussagen im Sachverhalten nicht der Grundsatz: in dubio pro reo ?
Christian Leupold-Wendling
8.8.2020, 22:58:15
Hi Leo, sehr, sehr gute Frage! Die Antwort ist: nein. Jedenfalls zB nicht, wenn Du das auf den
Vorsatzbeziehst. „Bei dem Zweifelssatz "in dubio pro reo" handelt sich nicht um eine Beweisregel, die den Tatrichter dazu zwingen würde, von m
ehreren möglichen Schlussfolgerungen stets die für den Angeklagten günstigste zu wählen. Erst dann, wenn nach Abschluss der Beweiswürdigung noch Zweifel bestehen, die der Tatrichter nicht zu überwinden vermag, hat er zugunsten des Angeklagten zu entscheiden.“ (Leitsatz BGH 2 StR 198/06 - 30. August 2006)
Christian Leupold-Wendling
8.8.2020, 22:58:38
Wir werden dazu mal ein paar Fälle und Aufgaben machen.
Eigentum verpflichtet 🏔️
10.8.2020, 18:43:53
Hallo Leo, danke auch von mir für deine wichtige Frage. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ("im Zweifel für den Angeklagten") ist ein essenzieller Grundsatz des deutschen Strafrechts. Er besagt, dass ein Richter einen Angeklagten ohne volle Überzeugung von seiner Schuld nicht verurteilen darf. Der Grundsatz ist bundesgesetzlich nicht ausdrücklich statuiert, wird aber nach ganz h.M. aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III GG hergeleitet. Auch findet er sich in Art. 6 EMRK und Art. 48 I GRC. Das Wissen um diesen Grundsatz ist essentiell für das Verständnis des Strafrechts (insb. Strafprozess recht) im ersten und zweiten Examen und Fragen danach sind typisch für eine mündliche Prüfung.
Eigentum verpflichtet 🏔️
10.8.2020, 18:49:34
Vermutlich hast du wegen der negativen Formulierung in der zweiten Frage ("Liegen keine Umstände vor, die ein Vertrauen des Z begründen können, der Tod des B werde nicht eintreten, ergibt sich aus dem Sachverhalt eindeutig die Billigung des Todes durch Z.") an diesen Grundsatz gedacht. Das hört sich beim ersten Lesen nach einem Widerspruch zu "in dubio pro reo" an. Allerdings ist das Drosseln / Strangulieren eines anderen mit einem Gürtel über mehr als 3 min. eine so offensichtlich todesgefährliche Handlung, dass der Täter nicht mehr nur mit einer Körperverletzung, sondern mit der Todesverursachung rechnen muss. Das ist vergleichbar mit einem Stich ins Herz oder in die Hauptschlagader bzw. einem Schuss auf den Kopf des Opfers.
Eigentum verpflichtet 🏔️
10.8.2020, 18:55:41
Da ein Richter einem Täter nicht "in den Kopf schauen kann" was dieser bei der Tat gedacht hat (anders bei Fällen an der Uni), muss dieser aus Anhaltspunkten, wie der Gefährlichkeit der Tat herleiten, ob ein Täter Tötungs
vorsatzhatte. Bei einer solch gefährlichen Tat wie hier, ist die Annahme zumindest bedingten Tötungsvosatzes viel naheliegender als ein Vertrauen des Täters darauf, dass der Tod ausbleiben werde (Fahrlässigkeit). Liegen nun keine Anhaltspunkte vor, die gegen ein vorsätzliches Handeln sprechen, ist davon auszugehen, dass der Täter wusste, dass durch die Strangulation das Opfer sterben würde und er sich auch damit abfand (= es billigend in Kauf nahm.) Dann bestehen keine Zweifel am Tötungs
vorsatzmehr, die zur Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" führen würden.
Isabell
9.5.2021, 14:51:26
Wenn ich den Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" richtig verstanden habe, hat er auch gerade nicht zur Folge, dass im Zweifel die für den Angeklagten günstige Variante (als bewiesen) angenommen wird, sondern man den Punkt eben offen lassen muss. Diese Bewertung wird erst ganz am Schluss vorgenommen, wenn es um die Beweiswürdigung geht.
iustus
15.2.2021, 17:07:56
Kann man hier nicht sogar von einem Mord aus niederen Beweggründen ausgehen? Immerhin steht seine Rachsucht am zerstörten Shirt dem Leben des B entgegen.
Eigentum verpflichtet 🏔️
15.2.2021, 19:05:20
Hallo iustus, ich würde sagen, da ist beides vertretbar. Ist die Frage ob er den B wegen einer, objektiv nicht zu verstehenden, Belanglosigkeit getötet hat. In Betracht käme möglicherweise auch Heimtücke, wenn B arg- und deswegen wehrlos war (zB Attacke von hinten, liegt bei dem Bild nahe). Aber es kam uns hier nicht auf die Mordmerkmale, sondern auf den Tötungs
vorsatzan. LG ;)
Petrus
15.4.2022, 20:43:06
Hier wird die ganze Zeit davon geredet, dass man aus der objektiven Gefährlichkeit der Handlung auf den
Vorsatzschließen kann. Meines Wissens aber besagt die Hemmschwellentheorie aber genau das Gegenteil, dass man eben nicht aus der objektiven Gefährlichkeit vorschnell auf den Tötungs
vorsatzschließen darf. Irre ich mich?
Lukas_Mengestu
19.4.2022, 17:15:48
Hallo Petrus, herzlich willkommen im Forum und vielen Dank für die Nachfrage. Hier sind zwei unterschiedliche Punkte zu trennen. Zum einen handelt es sich bei dem
Vorsatzum ein subjektives Tatbestandsmerkmal. Was der Täter sich im Zeitpunkt seines Handelns tatsächlich gedacht hat, kann im ersten Examen schlicht dem Sachverhalt entnommen werden. In der Realität ist das anders. Hier müssen die Gerichte diese subjektive Seite erst einmal ermitteln. Allein auf die Aussage des/der Täter:in kann man sich dabei nicht verlassen, da diese/r häufig Schutzbehauptungen aufstellen wird. Deshalb greift man hierbei auf die objektiven
Tatumständezurück. Ist eine Handlung besonders gefährlich, so genügt es für die Ablehnung von
Eventualvorsatzin der Regel nicht, wenn der Täter schlicht sagt, er habe auf einen guten Ausgang vertraut. Nun zu der von Dir angesprochenen "Hemmschwellentheorie". Diese wurde früher von dem BGH entwickelt und besagte im Kern nichts anderes, als das man bei Tötungsdelilkten noch einmal besonders sorgfältig prüfen solle, ob tatsächlich ein entsprechender
Vorsatzvorliege. Begründet wurde dies mit der "natürlichen Hemmschwelle" über die jeder Mensch von Natur aus im Hinblick auf Tötungen verfüge. Diese Theorie wurde recht lebhaft kritisiert und auch der BGH hat sich zwischenzeitlich von ihr distanziert. Der pauschale Hinweis auf eine erhöhte Hemmschwelle zur Ablehnung des
Vorsatzes sei regelmäßig ungenügend (vgl. BGH, Urt. v. 22.03.2012 - AZ 4 StR 558/11) Bei Tötungsdelikten gilt insofern wie bei allen anderen Delikten auch, dass die Tatsacheninstanz sorgfältig und Berücksichtigung aller Tatsachen ermitteln müssen, ob ein entsprechender (Eventual-)
Vorsatzvorliegt. Kann dieser nicht mit der hinreichenden Sicherheit festgestellt werden, so gilt zugunsten des Angeklagten die Unschuld
vermutung. Dann ist lediglich aus dem Fahrlässigkeitsdelikt zu bestrafen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
DeliktusMaximus
11.8.2022, 15:06:21
Spielt die Hemmschwelletheorie in solchen Fällen keine Rolle?
Nora Mommsen
13.8.2022, 12:41:58
Hallo DeliktusMaximus, die Hemmschwellentheorie gilt heute als überholt. Vielmehr hat man erkannt, das ein gefährliches Handeln eher umgekehrt dafür spricht, dass der Täter eine etwaige Tötungshemmung überwunden hat. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
DeliktusMaximus
13.8.2022, 12:48:15
Hallo Nora, danke für die Antwort. Kannst du mir sagen, seit wann die Hemmschwelletheorie vom BGH abgelegt in etwa wurde?
Faby
20.4.2023, 15:20:10
@[DeliktusMaximus](178154) Schau mal hier zu dem Fall in dem anderen Thread die Antwort von Lukas. Lukas hatte da noch etwas zur Hemmschwellentheorie ausgeholt und nannte auch folgendes BGH-Urteil vom 22.03.2012: Az. 4 StR 558/11.
Sambajamba10
2.6.2023, 11:59:54
Hier wurde der Hemmschwellen Theorie eine klare Absage erteilt: BGHst 57, 183, 189
Raphaeljura
22.4.2023, 01:57:27
Eine Frage zur objektiven Gefährlichkeit. Steine schmeißen auf die Autobahn oder das minutenlange Strangulieren genügen für die Annahme. Kann bei der Abwägung alles miteinbezogen werden? Zb dass der Angreifer ein Kampfsportler ist?
Elias Von der Brelie
11.5.2023, 20:55:31
Solange es logisch relevant für den Tatbestand ist. Zum Beispiel hab ich nen Fall gelesen wo die drastische Selbstverteidigung des Opfers gerechtfertigt war, weil der Angreifer ein geübter Kampfsportler war, und somit die Abwehr auf andere Weise als weniger effektiv einzustufen war.
InDubioProsecco
1.6.2023, 10:54:54
Zwei Fragen: 1) Hier handelt es sich m. E. um eine Frage tatsächlicher Natur, nicht rechtlicher Natur. Wird so etwas im ersten Examen regelmäßig abgefragt? 2) Nähert man sich mit der Annahme bzw. einem Rückschluss auf einen
Vorsatzaufgrund "objektiver Gefährlichkeit" nicht einem normativen Begriff des
Vorsatzes i. S. d. § 15 StGB an? Ich habe es so gelernt, dass sich die ganz h. M. der Bildung eines normativen
Vorsatzbegriffs verwehrt.
Lukas_Mengestu
2.6.2023, 12:57:15
Hallo InDubioProsecco, zu 1) im ersten Examen werden in der Regel noch stärkere/eindeutigere Hinweise (billigend in Kauf genommen/hat auf ein Ausbleiben vertraut) vorliegen. Spätestens im zweiten Examen musst Du dann allerdings aus einem Strauß von objektiven und subjektiven Anhaltspunkten auf die subjektive Tatvorstellung des Täters schließen. Für die Klausur im zweiten Examen hilft dabei die Kommentierung im Fischer-Kommentar zum StGB (Fischer, StGB, § 15 StGB, RdNr. 9ff.). zu 2): In der Tat liegt der Bestimmung des
Vorsatzkein rein normatives Verständnis zugrunde. Das heißt es wird nicht allein aus der Tat der Wille des Täters abgeleitet. Insofern besteht auch kein Automatismus, das bei einer besonders gefährlichen Tat stets auch
Vorsatzvorliegen muss. Gerade der Umstand, dass es sich beim
Vorsatzaber um ein rein subjektives Element handelt, macht es zwingend nötig, eine Vielzahl von objektiven Faktoren heranzuziehen um auf den Willen zu schließen. Ansonsten müsste man sich allein auf die Aussage des Täters verlassen (der wird natürlich stets sagen, er habe das nicht gebilligt). Besonders schön deutlich wurde das erst jüngst in den Berliner Raser Urteilen. Es bleibt also eine
Einzelfallabwägung. Beste Grüße, Lukas -für das Jurafuchs-Team