Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Subjektiver Tatbestand

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („Berliner Raserfall“)

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („Berliner Raserfall“)

18. April 2025

27 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Spontan starten H und N um 0:40 Uhr ein Autorennen in der Berliner City West. Bei stetiger Beschleunigung missachten sie alle roten Ampeln. An der Kreuzung Tauentzien-/Nürnberger Straße prallt H mit 170 km/h gegen den von rechts kommenden, vorfahrtsberechtigten Jeep des W. Beim Einfahren in die Kreuzung hatte H keinerlei Reaktionsmöglichkeit mehr, um eine Kollision zu verhindern. W stirbt.

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Einordnung des Falls

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („Berliner Raserfall“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Es gibt einen Erfahrungssatz, nach dem Personen, die an Wettfahrten teilnehmen, mit bedingtem Tötungsvorsatz (§ 212 Abs. 1 StGB) hinsichtlich anderer Verkehrsteilnehmer handeln.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Feststellung, ob jemand vorsätzlich gehandelt hat, muss immer einzelfallbezogen erfolgen. BGH: Eine generalisierende Betrachtung – etwa in Gestalt von Erfahrungssätzen, denen zufolge bei einem bestimmten Personenkreis oder einer bestimmten Vorgehensweise grundsätzlich eine vorsätzliche Tatbegehung zu bejahen oder zu verneinen wäre – sei unzulässig. Dies gelte auch für die Frage des Vorliegens eines Tötungsvorsatzes bei Angehörigen der „Raserszene“ (RdNr. 30).
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2. Wenn H den bedingten Tötungsvorsatz gefasst hatte, als er mit Vollgas bei Rot in die Kreuzung Tauentzien-/Nürnberger Straße eingefahren war, ist der subjektive Tatbestand des Totschlags erfüllt (§ 212 Abs. 1 StGB).

Nein!

So hatte das LG Berlin in der Vorinstanz argumentiert. BGH: Ginge man davon aus, dass H erst beim Einfahren in die Kreuzung bedingten Tötungsvorsatz gefasst habe, sei eine vorsätzliche Tötung nur dann zu bejahen, wenn H nach diesem Zeitpunkt noch eine Handlung vorgenommen habe, die für den tödlichen Unfall ursächlich war. H sei jedoch bereits beim Einfahren in die Kreuzung mit Vollgas absolut unfähig gewesen, noch zu reagieren. Ob der Tötungsvorsatz in einem Zeitpunkt vorlag, als die tödliche Kollision bereits nicht mehr zu verhindern war, sei rechtlich bedeutungslos (RdNr. 14f.)

3. Bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr kann eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafürsprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut hat.

Genau, so ist das!

BGH: Zwar existiere keine Regel, wonach es einem Tötungsvorsatz entgegensteht, dass mit der Vornahme einer fremdgefährdenden Handlung auch eine Eigengefährdung einhergehe. Der Tatrichter müsse sich aber bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, einzelfallbezogen damit auseinandersetzen, ob und in welchem Umfang aus Sicht des Täters aufgrund seines Verhaltens eine Gefahr auch für sein eigenes Leben drohte und er deshalb auf einen guten Ausgang vertraute. Wesentliche Indizien seien das vom Täter genutzte Verkehrsmittel und konkret drohende Unfallszenarien (RdNr. 21).

4. Raser fühlen sich erfahrungsgemäß in ihren tonnenschweren, stark beschleunigenden Autos geschützt wie in einem Panzer und blenden jegliches Risiko für sich selbst aus.

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Ein Erfahrungssatz, nach dem sich ein bestimmter Typ Autofahrer in einer bestimmten Art von Fahrzeug grundsätzlich sicher fühle und jegliches Risiko für sich selbst ausblende, existiere nicht. Angesichts der hier objektiv drohenden Unfallszenarien – Kollisionen an einer innerstädtischen Kreuzung mit anderen PKW oder Bussen – verstehe sich dies auch nicht von selbst (RdNr. 24). Anders noch das LG Berlin, das davon ausgegangen war, dass dieser Umstand dafür spreche, dass H auch einen etwaigen Unfall in Kauf genommen hat und somit bedingt vorsätzlich handelte. Der BGH hat den Fall aufgrund der unzureichenden Feststellungen über den Vorsatz zunächst an das Landgericht zurückverwiesen. Nachdem das Landgericht hier nachgebessert hat, wurde letztlich die Verurteilung des H wegen Mordes vom BGH nicht mehr beanstandet (BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 – 4 StR 482/19 – findest Du in unserer aktuellen Rechtsprechung.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

VI

Vinsch

29.1.2020, 08:14:01

Das BGH hat den Fall aufgrund von Formfehlern des LG Berlin zurückverwiesenen. Nicht aufgrund der Argumentation.

GI

GingerCharme

9.4.2020, 10:53:24

Ich habe das Urteil gerade lesen und kann deinen Kommentar nicht nachvollziehen. Im Urteil steht glasklar (frei gesagt): Auf die

Verfahrensrüge

n kommt es gar nicht mehr an, da die Entscheidung des LG Berlin schon sachlich-rechtliche Mängel aufweist. Und dann wird genauso argumentiert, wie es die Lösung hier darstellt. Die Fragen sind etwas tricky, da man gezielt dieses Urteil relativ genau kennen muss, aber wieso hier vertreten wird die Lösungen seien falsch erschließt sich mir nicht. Lasse mich gerne aufklären wenn ich etwas übersehe, dass zitierte BGH-Urteil scheint mE nach jedoch fehlerfrei übernommen worden zu sein.

PascalW

PascalW

4.2.2020, 14:02:04

Überprüft bitte erst die BGH Entscheidung, bevor ihr hier Behauptungen aufstellt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.4.2021, 12:34:22

Hallo Pascal, könntest Du das noch etwas genauer ausführen? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ZAV

Zavviny

19.9.2020, 15:18:19

Sehr umstrittener Fall. Finde es problematisch, die Urteile des BGH, als unumstößlich darzustellen . Nicht vollkommen zu unrecht und ohne Sachverstand hat das LG Berlin zunächst auf Mord plädiert.

Fahrradfischlein

Fahrradfischlein

12.4.2021, 16:36:14

Hier wird nix als unumstößlich dargestellt. In der Ausbildung (und letztendlich ja auch in der Praxis) hat die Meinung des BGH sehr viel Gewicht für die Falllösung. Laut vorangegangener Kommentare hat sich Jurafuchs wohl deshalb dafür entschieden grundsätzlich der Meinung des BGH zu folgen. Es gibt aber etliche Fälle hier in denen im Antworttext erläutert ist, dass die Meinung des BGH teilweise sehr umstritten und kritikwürdig ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.4.2021, 12:22:21

Hallo Zaviniy, vielen Dank für Deinen Hinweis. Es tut mir leid, wenn Du den Eindruck gewonnen hast, dass wir Urteile des BGH als unumstößliche Wahrheit wiedergeben. Das ist weder unser Anspruch, noch unsere Zielsetzung. Denn eine absolute Wahrheit gibt es in der Juristerei nie. In der Tat liegt aber unseren didaktischen Kursen die Auffassung des BGH regelmäßig zugrunde, da die Lösungsskizzen der Klausuren in der Regel darauf aufbauen und die Praxis sich daran maßgeblich orientiert. Sofern es aber starke abweichende Stimmen gibt (zB Verhältnis Mord u. Totschlag; Abgrenzung räuberische

Erpressung

u. Raub), bemühen wir uns auch diese ausreichend darzustellen. Bei der aktuellen Rechtsprechung geht es insoweit auch nicht um die Vermittlung absoluter Wahrheit.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.4.2021, 12:28:07

Vielmehr ist auch hier das Ziel, die Gründe der jeweiligen Entscheidung nachvollziehbar zu skizzieren und zu vermitteln, wie der BGH zu seiner Lösung kam. Dass man dies auch anders sehen kann, wird aus unserer Sicht auch insofern deutlich, dass wir deutlich machen, dass das Landgericht es anders gesehen hat. Wir haben jetzt zudem noch als Vertiefung mit aufgenommen, dass es im weiteren Verfahrensgang letztlich doch zu einer Verurteilung wegen Mordes kam. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Gigachad1

Gigachad1

6.4.2024, 02:26:54

"Ohne Sachverstand" ist deine Meinung, aber zu unterstellen das LG Berlin UND der BGH der die Entscheidung mehrfach bestätigt hat haben keinen Sachverstand ist gewagt.

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

16.5.2021, 22:15:07

Ich habe eine Frage zur Abgrenzung der bewussten Fahrlässigkeit und der Eigengefährdung als

vorsatz

kritisches Element. Würde z.B. der Täter ein Motorrad fahren, so hat der BGH (https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/4/17/4-311-17.php) die vorgestellte Gefahr einer schweren Verletzung des Fahrers als

vorsatz

kritisches Element anerkannt und fahrlässige Tötung angenommen. Im

Berliner Raserfall

wird dazu allerdings nur dünn ausgeführt, dass die vorgestellte Gefahr in Form eines Aufpralls mit Dritten wegen der Airbags für den Täter gering sei und die vorgestellten Eigengefährdung nicht den

Vorsatz

ausschließt. Was unterscheidet die Fälle bezüglich der Beurteilung der Eigengefährdung voneinander?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.5.2021, 16:43:39

Hallo Fantomaus, vielen Dank für Deine Frage! Bei der Prüfung muss man sich zunächst klar machen, dass der BGH selbst den

Vorsatz

nicht feststellt, sondern lediglich überprüft, inwieweit die Begründung der Vorinstanz nachvollziehbar und begründet ist. Das heißt, es kommt maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls an. Der BGH selbst hat in dem von dir zitierten Urteil den Maßstab in Rn. 22 auch noch einmal deutlich gemacht: "So kann bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraute. Dementsprechend muss sich der Tatrichter beim Vorliegen einer solchen Konstellation einzelfallbezogen damit auseinandersetzen, ob und in welchem Umfang aus Sicht des Täters aufgrund seines Verhaltens eine Gefahr (auch) für seine eigene körperliche Integrität drohte. Hierfür können sich wesentliche Indizien aus den objektiven

Tatumstände

n ergeben, namentlich dem täterseitig genutzten Verkehrsmittel und den konkret drohenden Unfallszenarien."  Die unterschiedlichen Verkehrsmittel (Motorrad vs. Auto) und die deutlich höhere Verletzungswahrscheinlichkeit eines Motorradfahrers stellen für sich genommen somit bereits ein Indiz dar, welches eine unterschiedliche Bewertung rechtfertigen kann. Der BGH hat insoweit die Einschätzung der Vorinstanz in seinem zweiten Raserurteil (Urt. v. 18.6.2020- BGH 4 StR 482/19) unbeanstandet gelassen, dass diese aufgrund der getroffenen Sachverhaltsfeststellungen zu dem Schluss kam, dass der Fahrer in dieser konkreten Situation sich hinreichend sicher gefühlt hat und nicht von einer hohen Eigengefährdung ausging, welche einen

Vorsatz

ausschluss begründen könnte. Letztlich ist auch an dieser Stelle das Ergebnis nicht in Stein gemeißelt und extrem einzelfallabhängig. Wichtig ist insofern in der Klausur, dass man sich mit den konkreten Umständen und Sachverhaltsangaben auseinandersetzt und darauf aufbauend sich dann letztlich für die Lösung entscheidet, für die man die besseren Argumente hat. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Rüsselrecht 🐘

Rüsselrecht 🐘

17.5.2021, 16:49:31

Danke ☺️ Ich fand nur die Art und Weise der Begründung etwas seltsam und ohne konkreten Schluss. Ich denke aber, ich weiß nun wie der Hase laufen muss.

VER

Vermouth

15.8.2023, 21:23:59

Also wurde H wegen Mordes verurteilt? Aber ich dachte er war nicht mehr Handlungsfähig und somit ist

Vorsatz

ausgeschlossen? Oder liege ich gerade falsch?

QUIG

QuiGonTim

28.4.2024, 22:20:13

Liebes Jurafuchsteam, wenn ich diesen Fall richtig erinnere wurde damals hinsichtlich des

Vorsatz

es auf einen früheren Zeitpunkt als jenen, in dem der Täter in die Kreuzung eingefahren war, abgestellt. Leider wird dies im vorliegenden Übungsfall nicht dargestellt. Dadurch wird es schwer erkennbar, warum der Täter wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes verurteilt wurde.

marimo

marimo

1.5.2024, 10:35:02

Das sehe ich auch so :')


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