Objektive Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten: Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei Rückruf eines Ledersprays


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Die fünf Geschäftsführer G1–5 der L GmbH, die Beschlüsse mit einfacher Mehrheit fassen können, beschließen, trotz Gesundheitsgefahren den Rückruf des Ledersprays zu unterlassen. Der Käufer K erleidet nach Benutzung Atemwegserkrankungen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G5 hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten, indem er bei dem Beschluss, den Rückruf des Ledersprays zu unterlassen, mitgewirkt hat (§§ 223, 13 StGB).

Genau, so ist das!

Nach dem allgemeinen Maßstab des Durchschnittsbürgers ergibt sich das Maß der anzuwendenden Sorgfalt daraus, wie sich ein gewissenhafter, besonnener Durchschnittsbürger in der konkreten Situation und sozialen Rolle des Täters verhalten würde. BGH: Wer als Unternehmer gesundheitsgefährdende Produkte in den Verkehr bringt, ist zur Schadensabwendung verpflichtet. Dabei besteht eine Pflicht zur Produktbeobachtung und gegebenenfalls auch zum Produktrückruf. Bei mehreren Geschäftsführern einer GmbH muss dabei jeder Einzelne das ihm Mögliche und Zumutbare tun, um einen Beschluss der Gesamtgeschäftsführung zur Einhaltung dieser Pflichten herbeizuführen.

2. Die Atemwegserkrankungen des K waren auch objektiv vorhersehbar.

Ja, in der Tat!

Die objektive Vorhersehbarkeit setzt voraus, dass der Erfolgseintritt sowie Kausalverlauf für einen Durchschnittsmenschen des jeweiligen Verkehrskreises absehbar gewesen ist. Für einen durchschnittlichen Geschäftsführer ist es nicht unvorhersehbar, dass gesundheitsgefährdende Produkte, die nicht zurückgerufen werden, auch zu tatsächlichen Gesundheitsschädigungen bei Verbrauchern führen können.

3. G5 ist die Körperverletzung objektiv nicht zurechenbar, da der Beschluss, den gebotenen Rückruf zu unterlassen, auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten des G5 zustande gekommen wäre.

Nein!

Bei Fahrlässigkeitsdelikten muss im Rahmen der objektiven Zurechnung auch ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser ist nach der Vermeidbarkeitstheorie gegeben, wenn der konkrete Erfolg bei pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wäre.BGH: Grundsätzlich träfe alle Geschäftsführer die Pflicht zum Rückruf. Keiner der G1-5 könne sich damit entlasten, er hätte die Kollegialentscheidung ohnehin nicht verhindern können, weil er überstimmt worden wäre. Rechtmäßiges Alternativverhalten hätte hier vorausgesetzt, dass er alles Mögliche und Zumutbare getan hätte, um einen erforderlichen Beschluss zu erwirken oder einen nicht gebotenen Beschluss zu verhindern. Keiner der G1-5 hätte dieser Handlungspflicht genügt.

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LH

L. H.

6.2.2021, 09:04:28

Würde das einfache Dagegenstimmen der Pflicht zu rechtmäßigem Alternativverhalten genügen, selbst wenn man dann als einer gegen vier keine Chance hat, den Beschluss zu verhindern?

Marilena

Marilena

6.2.2021, 13:30:03

Hallo L.H., danke Dir für die gute Frage!

Marilena

Marilena

6.2.2021, 13:33:46

Was das Handlungsgebot für jeden einzelnen Geschäftsführer angeht, führte die Strafkammer des LG aus, für jeden der Angeklagten sei der Rückruf möglich und auch zumutbar gewesen. Zumutbar - so meint sie ferner - wäre es auch für jeden von ihnen gewesen, im Falle der Ablehnung einer solchen Aktion durch die anderen von sich aus in dieser Richtung tätig zu werden. Eventuelle betriebsinterne oder berufliche Nachteile hätten angesichts der den Verbrauchern drohenden schweren Gesundheitsschäden in Kauf genommen werden müssen. Tatsächlich wäre allen Angeklagten die Anordnung und Durchführung des Rückrufs möglich gewesen.

Marilena

Marilena

6.2.2021, 13:35:20

Nach dem BGH ist diese Beurteilung bedenklich. Denn sie lasse außer acht, daß innerhalb einer GmbH, die mehrere Geschäftsführer hat, grundsätzlich Gesamtgeschäftsführung besteht. Danach sind die Geschäftsführer nur gemeinschaftlich zu handeln befugt. Keiner von ihnen darf ohne Mitwirkung der anderen vorgehen.

Marilena

Marilena

6.2.2021, 13:38:04

War demgemäß - entgegen der vom Landgericht vertretenen Ansicht - der einzelne Geschäftsführer nicht berechtigt, aus eigener Machtvollkommenheit den in Rede stehenden Rückruf anzuordnen, so änderte dies zwar nichts am Fortbestand seiner umfassenden, zur Schadensabwendung verpflichtenden Garantenstellung; wohl aber erfuhren dadurch seine aus dieser Garantenstellung fließenden, konkreten Handlungspflichten eine Begrenzung. Jeder war hiernach nur dazu verpflichtet, unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um einen Beschluß der Gesamtgeschäftsführung über Anordnung und Vollzug des gebotenen Rückrufs zustande zu bringen. Keiner der Angeklagten hat dieser Handlungspflicht genügt - sie alle haben das ihnen abzuverlangende Tun unterlassen (BGH, RdNr. 56)

Marilena

Marilena

6.2.2021, 13:41:00

„unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun“ – es stellt sich die Frage, ob hierfür das „einfache Dagegenstimmen“ genügt. Das hängt sicherlich davon ab, ob im konkreten Einzelfall vielleicht noch weitere Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen.

LH

L. H.

6.2.2021, 16:53:31

Das klingt für mich schlüssig. Vielen Dank für die umfangreichen Erläuterungen!

EB

Elias Von der Brelie

9.5.2023, 16:52:27

Ich erinnere mich hier vielleicht falsch, aber ich meine diesen Fall in der Probe für die Kausalität gelesen zu haben, wo es zu dem Ergebnis kam dass G5 nicht Kausal gehandelt hat, da er alles ihm mögliche getan hat mit seiner Stimme für dagegen, sollte er für dagegen gestimmt haben. Wenn er aber gar nicht Kausal gehandelt hat, wie kann er dann Objektiv Zurechenbar gehandelt haben? Oder verwechsel ich hier etwas? Lg, Elias

Carl Wagner

Carl Wagner

10.5.2023, 19:47:07

Hallo Elias Von der Brelie! Im vorliegenden Fall haben alle Geschäftsführer G1-G5 gegen den Rückruf des gesundheitsgefährlichen Ledersprays gestimmt (BGH 06.07.1990, 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106). G5 hat gerade nicht dagegen gestimmt. Daher hat er auch nicht alles ihm mögliche und zumutbare getan, um den Erfolg abzuwenden. Hätte er tatsächlich dagegen gestimmt, hätte man diskutieren können, ob das ausreichend ist, um ein rechtmäßiges Alternativverhalten zu bejahen. Ein dagegenstimmen und dann zu sagen "meine Stimme hätte beim Mehrheitsbeschluss ja eh nichts geändert", reicht jedenfalls nicht aus. Ich sehe, dass du noch Bezug nimmst auf einen anderen Fall zur Kausalität. Mein Tipp: Schau immer genau auf den vorliegenden Sachverhalt. Nur dieser ist entscheidend. Es kann vorkommen, dass Sachverhalte auf den ersten Blick gleich erscheinen, aber auf den zweiten Blick sich in Details ändern. Darauf zu achten, trainiert auch deinen Blick für eine Klausur :-) Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team


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