Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Objektive Zurechnung
Objektive Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten: Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei Rückruf eines Ledersprays
Objektive Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten: Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei Rückruf eines Ledersprays
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die fünf Geschäftsführer G1–5 der L GmbH, die Beschlüsse mit einfacher Mehrheit fassen können, beschließen, trotz Gesundheitsgefahren den Rückruf des Ledersprays zu unterlassen. Der Käufer K erleidet nach Benutzung Atemwegserkrankungen.
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. G5 hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten, indem er bei dem Beschluss, den Rückruf des Ledersprays zu unterlassen, mitgewirkt hat (§§ 223, 13 StGB).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Atemwegserkrankungen des K waren auch objektiv vorhersehbar.
Ja, in der Tat!
3. G5 ist die Körperverletzung objektiv nicht zurechenbar, da der Beschluss, den gebotenen Rückruf zu unterlassen, auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten des G5 zustande gekommen wäre.
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
L. H.
6.2.2021, 09:04:28
Würde das einfache Dagegenstimmen der Pflicht zu rechtmäßigem Alternativverhalten genügen, selbst wenn man dann als einer gegen vier keine Chance hat, den Beschluss zu verhindern?
Marilena
6.2.2021, 13:30:03
Hallo L.H., danke Dir für die gute Frage!
Marilena
6.2.2021, 13:33:46
Was das Handlungsgebot für jeden einzelnen Geschäftsführer angeht, führte die Strafkammer des LG aus, für jeden der Angeklagten sei der Rückruf möglich und auch zumutbar gewesen. Zumutbar - so meint sie ferner - wäre es auch für jeden von ihnen gewesen, im Falle der Ablehnung einer solchen Aktion durch die anderen von sich aus in dieser Richtung tätig zu werden. Eventuelle betriebsinterne oder berufliche Nachteile hätten angesichts der den Verbrauchern drohenden schweren Gesundheitsschäden in Kauf genommen werden müssen. Tatsächlich wäre allen Angeklagten die Anordnung und Durchführung des Rückrufs möglich gewesen.
Marilena
6.2.2021, 13:35:20
Nach dem BGH ist diese Beurteilung bedenklich. Denn sie lasse außer acht, daß innerhalb einer GmbH, die m
ehrere Geschäftsführer hat, grundsätzlich Gesamtgeschäftsführung besteht. Danach sind die Geschäftsführer nur gemeinschaftlich zu handeln befugt. Keiner von ihnen darf ohne Mitwirkung der anderen vorgehen.
Marilena
6.2.2021, 13:38:04
War demgemäß - entgegen der vom Landgericht vertretenen Ansicht - der einzelne Geschäftsführer nicht berechtigt, aus eigener Machtvollkommenheit den in Rede stehenden Rückruf anzuordnen, so änderte dies zwar nichts am Fortbestand seiner umfassenden, zur Schadensabwendung verpflichtenden Garantenstellung; wohl aber erfuhren dadurch seine aus dieser Garantenstellung fließenden, konkreten Handlungspflichten eine Begrenzung. Jeder war hiernach nur dazu verpflichtet, unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um einen Beschluß der Gesamtgeschäftsführung über Anordnung und Vollzug des gebotenen Rückrufs zustande zu bringen. Keiner der Angeklagten hat dieser Handlungspflicht genügt - sie alle haben das ihnen abzuverlangende Tun unterlassen (BGH, RdNr. 56)
Marilena
6.2.2021, 13:41:00
„unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun“ – es stellt sich die Frage, ob hierfür das „einfache Dagegenstimmen“ genügt. Das hängt sicherlich davon ab, ob im konkreten Einzelfall vielleicht noch weitere Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen.
L. H.
6.2.2021, 16:53:31
Das klingt für mich schlüssig. Vielen Dank für die umfangreichen Erläuterungen!
Elias Von der Brelie
9.5.2023, 16:52:27
Ich erinnere mich hier vielleicht falsch, aber ich meine diesen Fall in der Probe für die Kausalität gelesen zu haben, wo es zu dem Ergebnis kam dass G5 nicht Kausal gehandelt hat, da er alles ihm mögliche getan hat mit seiner Stimme für dagegen, sollte er für dagegen gestimmt haben. Wenn er aber gar nicht Kausal gehandelt hat, wie kann er dann Objektiv Zurechenbar gehandelt haben? Oder verwechsel ich hier etwas? Lg, Elias
Carl Wagner
10.5.2023, 19:47:07
Hallo Elias Von der Brelie! Im vorliegenden Fall haben alle Geschäftsführer G1-G5 gegen den Rückruf des gesundheitsgefährlichen Ledersprays gestimmt (BGH 06.07.1990, 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106). G5 hat gerade nicht dagegen gestimmt. Daher hat er auch nicht alles ihm mögliche und zumutbare getan, um den Erfolg abzuwenden. Hätte er tatsächlich dagegen gestimmt, hätte man diskutieren können, ob das ausreichend ist, um ein
rechtmäßiges Alternativverhaltenzu bejahen. Ein dagegenstimmen und dann zu sagen "meine Stimme hätte beim Mehrheitsbeschluss ja eh nichts geändert", reicht jedenfalls nicht aus. Ich sehe, dass du noch Bezug nimmst auf einen anderen Fall zur Kausalität. Mein Tipp: Schau immer genau auf den vorliegenden Sachverhalt. Nur dieser ist entscheidend. Es kann vorkommen, dass Sachverhalte auf den ersten Blick gleich erscheinen, aber auf den zweiten Blick sich in Details ändern. Darauf zu achten, trainiert auch deinen Blick für eine Klausur :-) Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team
TomBombadil
18.9.2024, 23:10:02
Muss es aber nicht darauf ankommen, ob die umfassenden Handlungspflichten dazu geführt haben würden, dass der Beschluss nicht gefasst würde? Denn danach ist doch im Rahmen des Alternativverhaltens zu fragen, oder?
QuiGonTim
15.10.2024, 21:46:30
Hier wird zwar die
Vermeidbarkeitstheorieals Maßstab gebildet. Allerdings fehlt es an einer korrekten Subsumtion unter diese. Die Subsumtion befasst sich ausschließlich mit der Frage der Handlungspflichten und kommt zu dem Schluss, dass keiner der Gesellschafter diesen Handlungspflichten genügt hat. Damit kann zwar angenommen werden, dass G5 sich pflichtwidrig Verhalten hat. Über den
Pflichtwidrigkeitszusammenhangzwischen ebendiesem Verhalten und dem Erfolg ist damit noch nichts gesagt. Nach der
Vermeidbarkeitstheoriebesteht dieser Pflichwidrigkeitszusammenhang nur dann, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg bei pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Dazu bedarf es der Bildung eines hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigen Alternativverhalten. Daran fehlt es in der gegebenen Subsumtion.