Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Versuch und Rücktritt
Rücktritt vom Versuch räuberischer Erpressung mit Todesfolge – "Lebensmittelerpresser"
Rücktritt vom Versuch räuberischer Erpressung mit Todesfolge – "Lebensmittelerpresser"
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T vergiftet 5 Gläser Babynahrung und verteilt sie in 5 Märkten, wobei er den Tod von Babys billigend in Kauf nimmt. Ohne den genauen Standort zu nennen, teilt er dies den Konzernen mit und droht, er werde dies wieder tun, wenn er nicht €11,75 Mio. bekäme. Die Gläser werden gefunden.
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T hat sich wegen vollendeten Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte.
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. T hat nach allen Ansichten zur Tatbestandsverwirklichung „unmittelbar angesetzt“ (§ 22 StGB), weil Babys bereits konkret gefährdet waren.
Nein!
3. T hat nach der „modifizierten Entlassungsformel der Rspr.“ zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt (§ 22 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Hier richtet sich der strafbefreiende Rücktritt vom Versuch nach § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB (sog. Rücktritt vom unbeendeten Versuch).
Nein, das trifft nicht zu!
5. T hat sich wegen vollendeter räuberischer Erpressung mit Todesfolge (§§ 253 Abs. 1, 255, 251 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte und Geld forderte.
Nein!
6. T besaß „Tatentschluss“ zu einer räuberischen Erpressung mit Todesfolge (§§ 253 Abs. 1, 255, 251 StGB) und hat auch „unmittelbar zur Tat angesetzt“.
Genau, so ist das!
7. Da an den weiteren Voraussetzungen keine Zweifel bestehen, hat T sich wegen Versuchs der räuberischen Erpressung mit versuchter Todesfolge strafbar gemacht.
Nein, das trifft nicht zu!
8. T hat sich wegen vollendeter besonders schwerer räuberischer Erpressung (§§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er die vergifteten Gläser verteilte und Geld forderte.
Nein!
9. Zwar scheidet ein Rücktritt von der versuchten räuberischen Erpressung aus, es liegt aber zumindest ein „Teil-Rücktritt von der Qualifikation“ vor.
Nein, das ist nicht der Fall!
10. T hat einen „Tatentschluss“ zur Tötung von Babys (§ 212 Abs. 1 StGB) gefasst.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
🔥1312🔥
10.6.2021, 21:28:31
Irgendwie verstehe ich nicht ganz, wo in dem Sachverhalt der Rücktritt angelegt war. T hat doch nur über die vergiftete Nahrung "informiert", um damit zu drohen. Er hat doch auch gerade nicht den genauen Standpunkt der vergifteten Gläser benannt. Ich kann in dem SV, wie hier beschrieben wird irgendwie keinen Rücktritt erkennen.
Tigerwitsch
12.6.2021, 18:21:52
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt ein Rücktritt vom Versuch gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB auch dann in Betracht, wenn der Täter unter m
ehreren Möglichkeiten der Erfolgsverhinderung nicht die sicherste oder „optimale“ gewählt hat, sofern sich das auf Erfolgsabwendung gerichtete Verhalten des Versuchstäters als erfolgreich und für die Verhinderung der Tatvollendung als ursächlich erweist. Es kommt nicht darauf an, ob dem Täter schnellere oder sicherere Möglichkeiten der Erfolgsabwendung zur Verfügung gestanden hätten; das Erfordernis eines „ernsthaften Bemühens“ gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB gilt für diesen Fall nicht. Erforderlich ist aber stets, dass der Täter eine neue Kausalkette in Gang gesetzt hat, die für die Nichtvollendung der Tat ursächlich oder jedenfalls mitursächlich geworden ist. Ohne Belang ist dabei, ob der Täter noch mehr hätte tun können, sofern er nur die ihm bekannten und zur Verfügung stehenden Mittel benutzt hat, die aus seiner Sicht den Erfolg verhindern konnten. Im vorliegenden Fall führte das Gericht (B. v. 05.06.2019 - AZ.: 1 StR 34/19): „Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Angeklagte durch Verhinderung des Taterfolgs der Tötung von Menschen gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB wirksam vom - beendeten - Versuch […] zurückgetreten. Indem er in einer anonym verfassten E-Mail auf die kontaminierten Produkte aufmerksam machte, setzte der Angeklagte eine neue Kausalkette in Gang, die nicht nur aus seiner Sicht zur Sicherstellung der vergifteten Babynahrung führen sollte, sondern tatsächlich zu deren Auffinden führte und sich damit für die Verhinderung der Tatvollendung auch als ursächlich erwies. […] Diese Äußerungen können nicht anders verstanden werden, als dass der Angeklagte zwar seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen wollte, zur Erreichung seiner Ziele auch den Tod von Kleinkindern in Kauf zu nehmen, er aber wollte, dass die von ihm bereits in Einkaufsmärkte verbrachte vergiftete Babynahrung aufgefunden wird, bevor sie verzehrt wird. […] Zwar wählte der Angeklagte nicht die sicherste oder optimale Möglichkeit zur Erfolgsverhinderung, weil er nicht die direkt betroffenen Einzelhandelsfilialen benannte und auch nicht die lokalen Sicherheits
behörden informierte. Indem er angab, dass sich in F. in fünf Märkten namentlich bezeichneter Einzelhandelskonzerne genau fünf mit einer tödlichen toxischen Menge versetzte und nach Marke und Geschmacksrichtung konkret bezeichnete Produkte befänden, machte er jedoch so genaue Angaben zur Ermöglichung von deren Sicherstellung, dass damit eine Wertung, er habe eine mögliche Tötung von Kleinkindern mit diesen Produkten weiterhin gebilligt, nicht mehr zu vereinbaren wäre.“
RealOmnimodo 🇺🇦
26.10.2021, 19:39:40
Dann müsste es eigentlich heißen, dass die Gläser „daraufhin“ gefunden werden.
APhM
2.12.2021, 15:20:32
Dieser Fall lief im Berliner Examen in der Herbstkampange 2021 ;)
Lukas_Mengestu
3.12.2021, 10:03:38
Klasse, danke für den Hinweis. Das haben wir direkt vermerkt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Hannah B.
2.3.2022, 16:11:16
Thematik kam im 1. Examen in Thüringen Februar 2022 dran. :)
Lukas_Mengestu
3.3.2022, 00:09:22
Vielen Dank, Hannah!
Stress ohne Rechtsgrund
4.7.2022, 20:57:07
Der Fall lief in BW in der Frühlingskampagne 2022!
Stress ohne Rechtsgrund
4.7.2022, 20:58:29
1. Staatsexamen!
Lukas_Mengestu
7.7.2022, 23:42:40
Vielen Dank für den Hinweis, ActusContrarius! Das haben wir entsprechend getagged. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
I-m-possible
7.7.2022, 10:27:54
Wie kann Gift eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug sein? Ich hätte mE nach auf §250 Abs.1 Nr.1c abgestellt.
Lukas_Mengestu
7.7.2022, 22:22:24
Hallo I-m-possible, ich vermute mal Deine Irritation hängt damit zusammen, dass bei der gefährlichen Körperverletzung (§
224 StGB) zwischen Gift (Nr. 1) und gefährlichem Werkzeug (Nr. 2 Alt. 2) unterschieden wird. Aber Achtung: Die Definition des gefährlichen Werkzeugs bei den Vermögenstatbeständen ist nicht gleichzusetzen mit der Definition bei der gefährlichen Körperverletzung. Das wird auch daran deutlich, dass bei den Vermögensdelikten regelmäßig bereits das
Beisichführenstraferhöhend wirkt, wohingegen bei der gefährlichen Körperverletzung darauf abgestellt wird, dass das Mittel "nach der konkreten Verwendung" gefährlich ist. Da Gift in
§ 250 StGBnicht eigenständig benannt ist, hat der BGH es hier insofern als gefährliches Werkzeug subsumiert. Ist es nun etwas klarer? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
DGR
17.7.2022, 16:51:53
Ich würde hier nicht nur ein
Vorsatzin Bezug auf
mittelbare Täterschaftannehmen, sondern auch auf die direkte, schließlich ist es nicht ausgeschlossen dass auch nicht Babys Babynahrung kaufen und konsumieren, spätestens aber wenn man überlegt, dass es doch recht üblich ist die Babynahrung vor der Fütterung an das Baby selbst zu probieren (zur Temperaturkontrolle beispielsweise).
Lukas_Mengestu
18.7.2022, 15:22:30
Hallo Senpal, sehr gute Überlegung! Im zugrundeliegenden Originalfall war die hinzugefügte Dosis allerdings nur für Säuglings-/Kleinkinder tödlich. Im Hinblick auf sonstige Gruppen kommt insofern aber natürlich - je nach Schwere der dadurch hervorgerufenen Reaktion -
Vorsatzbzgl. einer (gefährlichen) Körperverletzung in Betracht. Hierbei ist dann aber umstritten, ob eine
mittelbare Täterschaft(Opfer als Werkzeug gegen sich selbst) oder eine un
mittelbare Täterschaftvorliegt (mehr zu dem Streit findest Du in den Threads zum
Passauer Giftfallenfall). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Elias Von der Brelie
28.5.2023, 20:19:22
"Gleichwohl bejaht der BGH hier das unmittelbare Ansetzen, ohne dies zu erklären" Kann mir bitte jemand diesen Satz erklären? Das kann doch nicht sein, dass der BGH einfach eine Entscheidung entgegen herrschender Ansicht trifft ohne irgendeine Begründung zu geben.
Lukas_Mengestu
8.6.2023, 15:15:40
Hallo Elias, der BGH hat zu dieser Frage keine vertiefte Stellung bezogen, da die Prüfung aus seiner Sicht jedenfalls am erfolgreichen Rücktritt scheitert. Anders als in der Klausur, wo Du letztlich den Sachverhalt unter allen rechtlichen Aspekten zu würdigen hast, ist es im Ergebnis in der Praxis egal, ob die Strafbarkeit bereits im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen oder erst wegen eines erfolgreichen Rücktritts scheitert. Dies könnte erklären, warum der BGH hier ohne weiteres der Annahme des Landgerichts gefolgt ist, dass der Tatbestand erfüllt sei. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team