+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Klassisches Klausurproblem
T ist in 24 Fällen des Betrugs hinreichend verdächtig. Er hatte zwei Jahre lang monatlich bei Zalando mit gestohlenen Kreditkarten Schuhe an eine Packstation bestellt. Staatsanwältin S kann 20 der 24 Fälle nachweisen, für die 4 anderen müsste ein Team von IT-Spezialisten engagiert werden.
Einordnung des Falls
Einstellung nach § 154
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die einzelnen Betrugsdelikte stehen in Tatmehrheit zueinander (§ 53 StGB).
Genau, so ist das!
Tatmehrheit liegt vor, wenn der Täter mehrere selbstständig strafbare Gesetzesverletzungen begangen hat, die nicht im Verhältnis der Tateinheit zueinander stehen. Tateinheit liegt vor, wenn dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals verletzt. Die einzelnen Delikte wurden nicht durch dieselbe Handlung verwirklicht, sondern durch mehrere.
2. Bei den einzelnen Betrugsdelikten handelt es sich um eine einzige prozessuale Tat (§ 264 StPO).
Nein, das trifft nicht zu!
Eine Tat im prozessualen Sinne ist das gesamte Verhalten des Beschuldigten, soweit es mit dem in der Anklage beschriebenen Sachverhalt nach allgemeiner Lebensauffassung einen einheitlichen, inhaltlich zusammenhängenden Vorgang bildet. Entscheidende Kriterien hierfür sind (1) Tatort, (2) Tatzeit (3) Tatopfer und (4) Tatbild. Dieser Tatbegriff ist weiter als der materielle Tatbegriff. Faustformel: Bei Tateinheit (§ 52 StGB) liegt regelmäßig auch eine Tat im prozessualen Sinne vor. Bei Tatmehrheit i.S.v. § 53 StGB ist zu prüfen, ob die selbständigen materiellen Taten einen einheitlichen Lebensvorgang bilden. Die einzelnen Delikte wurden mit so großem zeitlichen Abstand begangen, dass sie keinen einheitlichen Vorgang bilden.
3. S kann die vier anderen Delikte nach § 154 Abs. 1 StPO einstellen.
Ja!
Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn die Strafe, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe, die gegen den Beschuldigten die der Beschuldigte wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt (§ 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO). § 154 StPO dient der Verfahrensbeschleunigung durch einen Teilverzicht auf Strafverfolgung bei mehreren Taten im prozessualen Sinne. Die vier Betrugsdelikte fallen im Verhältnis zu der erwarteten Strafe für die 20 weiteren nicht beträchtlich ins Gewicht.
4. S kann nach einer Einstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO nicht nochmal Ermittlungen aufnehmen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Nach einer rechtskräftigen Entscheidung über eine Straftat tritt Strafklageverbrauch ein. Sowohl eine erneute Anklage nach rechtskräftigem Freispruch als auch eine Doppelbestrafung sind unzulässig (Art. 103 Abs. 3 GG, ne bis in idem). Die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO führt nicht zu einem Strafklageverbrauch. Ein Strafklageverbrauch tritt allerdings dann ein, wenn das Gericht die Verfolgung einer Tat durch Gerichtsbeschluss einstellt (§ 154 Abs. 2 StPO). Die Einstellung kann allerdings durch Beschluss des Gerichts wieder aufgehoben werden (§ 154 Abs. 5 StPO). Da S einstellt, kann sie ohne Gerichtsbeschluss wieder Ermittlungen aufnehmen.