1. K möchte im Nachgang verwaltungsgerichtlich feststellen lassen, dass die Anwendung der Schmerzgriffe rechtswidrig war. Ist die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) statthaft?
Nein, das trifft nicht zu!
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers (vgl. § 88 VwGO). Die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist statthaft, wenn der Kläger die Feststellung begehrt, dass ein erledigter Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist. Es kommt darauf an, ob die erledigte Maßnahme ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG war. Bei dem Einsatz körperlicher Kraft fehlt es an der Regelungswirkung, d.h. dem einseitigen Setzen von Rechtsfolgen. Es handelt sich dabei vielmehr um ein schlichthoheitliches Handeln (Realakt).
K begehrt die Feststellung, dass die Anwendung der Schmerzgriffe (= Realakt) rechtswidrig war. Folglich ist – mangels Verwaltungsakts - nicht die Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft.
Zum Teil wird argumentiert, dass polizeiliche Maßnahmen immer den Regelungsgehalt haben, der Adressat müsse diese dulden, sodass immer ein Verwaltungsakt vorliegt (sog. konkludente Duldungsverfügung). Gegen diese Konstruktion spricht allerdings, dass das Vorliegen eines Verwaltungsakts nicht (mehr) rechtsschutzeröffnend ist, da die VwGO auch Rechtsschutz gegen Realakte bietet. Es ist daher nicht nötig, dem rein tatsächlichen Handeln künstlich eine Regelungswirkung i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG beizumessen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.
2. Statthaft ist die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO).
Ja!
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers (vgl. § 88 VwGO). Die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) ist statthaft, wenn der Kläger die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt.
Rechtsverhältnis i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO sind rechtliche Beziehungen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft derer eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht (RdNr. 16).
Streitiges Rechtsverhältnis ist hier die Frage, ob die Anwendung von Schmerzgriffen gegenüber dem K rechtmäßig war (RdNr. 17), ob also die Polizisten gegenüber K zu diesen befugt waren. K möchte feststellen lassen, dass die Polizei dazu nicht befugt war, das streitige Rechtsverhältnis also nicht bestand. Damit ist die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO) statthaft.
Im Rahmen der Statthaftigkeit der Feststellungsklage sprichst Du zudem die Subsidiarität gemäß § 43 Abs. 2 VwGO an. Diese ist hier gewahrt, da K sich über die Feststellungsklage hinaus nicht anderweitig gegen das erledigte Polizeihandeln zur Wehr setzen kann (RdNr. 27).
3. K müsste ein berechtigtes Interesse an der Feststellung (Feststellungsinteresse) gemäß § 43 Abs. 1 VwGO haben. Genügt bei einem vergangenen Rechtsverhältnis jedes schutzwürdige Interesse?
Nein, das ist nicht der Fall!
Nachdem Du die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog geprüft hast, musst Du i.R.d. Zulässigkeit der Feststellungsklage auf das besondere Feststellungsinteresse zu sprechen kommen. Die Klagebefugnis ergibt sich hier aus der möglichen Verletzung von Ks Recht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (RdNr. 20). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf das Feststellungsinteresse.
Als Feststellungsinteresse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO ist grundsätzlich jedes anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art anzusehen. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Feststellung geeignet erscheint, die Rechtsposition des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern.
Bei erledigten, vollständig in der Vergangenheit liegenden Rechtsverhältnissen ist jedoch ein qualifiziertes Feststellungsinteresse gefordert. Für das qualifizierte Feststellungsinteresse gelten die für die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) anerkannten Fallgruppen.
4. Die Maßnahme war zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits erledigt. Kann Ks Feststellungsinteresse mit einem Präjudizinteresse begründet werden?
Nein, das trifft nicht zu!
Für das qualifizierte Feststellungsinteresse gelten die für die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) anerkannten Fallgruppen entsprechend:
(1) Wenn abzusehen ist, dass eine gleichartige Maßnahme erneut gegen denselben Betroffenen erfolgen wird (Wiederholungsgefahr),
(2) wenn das Verwaltungshandeln diskriminierende Wirkung hatte, welche noch andauert, und der durch eine gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit wirksam begegnet werden kann (Rehabilitationsinteresse),
(3) wenn die Feststellung der Rechtswidrigkeit für einen nachfolgenden Amtshaftungsprozess erforderlich ist (Präjudizinteresse) oder
(4) wenn ein (schwerer) Grundrechtseingriff durch ein sich typischerweise schnell erledigendes Verwaltungshandeln erfolgte. Das Präjudizinteresse kommt von vornherein nur dann in Betracht, wenn sich die angegriffene Maßnahme erst nach Klageerhebung erledigt. Anderenfalls kann der Kläger direkt den Amtshaftungsprozess anstreben.
Hier liegt ein qualifiziertes Feststellungsinteresse des K unter dem Gesichtspunkt eines möglichen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs in sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und ggf. seine Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) vor. Zudem liegt ein sich typischerweise kurzfristig erledigendes Verwaltungshandeln vor (RdNr. 25f.). Ks Klage war auch im Übrigen zulässig.
5. Die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage ist begründet, wenn das bestrittene Rechtsverhältnis nicht bestand (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO).
Ja!
Die negative Feststellungsklage ist gemäß § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO begründet, soweit das bestrittene Rechtsverhältnis nicht bestand. Das Rechtsverhältnis bestand hier nicht, wenn die Polizeibeamten nicht zu dem Einsatz von Schmerzgriffen befugt waren.
In der Sache prüfst Du damit im Folgenden die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme. Die Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln prüfst Du im bekannten Dreischritt
(1) Rechtsgrundlage,
(2) Formelle Rechtmäßigkeit und
(3) Materielle Rechtmäßigkeit.
6. Die Schmerzgriffe könnten eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung sein.
Genau, so ist das!
Hier musst Du die verschiedenen Maßnahmen der Polizei sauber unterscheiden: Zunächst fordert die Polizei den K auf, die Straße zu verlassen. Damit hat sie einen Platzverweis (= Verwaltungsakt) erlassen. Die polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlage zum Erlass eines Platzverweises beinhaltet gerade nicht die Ermächtigung, den Platzverweis auch zwangsweise durchzusetzen. Vielmehr muss man auf die speziellen Ermächtigungsgrundlagen des Verwaltungsvollstreckungsrechts zurück greifen. Der Schmerzgriff erfolgte auf Grundlage von § 6 VwVG.
Einige polizeirechtliche Standardmaßnahmen beinhalten neben der Anordnungsbefugnis auch die Befugnis, die Anordnung umzusetzen (= Ausführungsbefugnis). In diesen Fällen bedarf es keines Rückgriffs auf das Verwaltungsvollstreckungsrecht. Mehr dazu findest Du in dieser Aufgabe.
Der Originalfall spielte in Berlin. Dort gilt kraft Verweisung in § 8 Abs. 1 S. 1 VwVfG Bln das Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Bundes (VwVG). Im Übrigen findet dieses nur Anwendung, wenn eine Bundesbehörde vollstreckt. Die Vollstreckung durch Landesbehörden wie der Polizei richtet sich hingegen nach den Vollstreckungsvorschriften im jeweiligen Landesrecht, soweit diese existieren (z.B. für NRW: §§ 55ff. VwVG NRW, §§ 50ff. PolG NRW). 7. Die Polizeibeamten wirken durch körperliche Gewalt auf den K ein. Kommt damit §§ 6, 9 Abs. 1 lit. c), 12 VwVG als Ermächtigungsgrundlage in Betracht?
Ja, in der Tat!
§ 6 VwVG ist die richtige Ermächtigungsgrundlage für die Vollstreckung eines Verwaltungsakts, welches ein Tun, Dulden oder Unterlassen vom Adressaten verlangt. In den §§ 10ff. VwVG finden sich die besonderen Voraussetzungen der einzelnen Zwangsmittel. Hier wirken die Polizeibeamten durch die Schmerzgriffe durch körperliche Gewalt auf den K ein, sodass es sich um Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs i.S.d. § 9 Abs. 1 lit. c) VwVG, § 12 VwVG, § 2 Abs. 1 UZwG Bln handelt. Die vollständige Ermächtigungsgrundlage lautet daher §§ 6, 9 Abs. 1 lit. c), 12 VwVG. Die Maßnahmen im Verwaltungszwang war weiterhin formell rechtmäßig, insbesondere war P nach §§ 1 Abs. 1, 3 Nr. 1 UZwG Bln zuständig.
8. Musst Du im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 6 VwVG zwischen dem gestrecktem Verfahren und Sofortvollzug unterscheiden?
Ja!
§ 6 VwVG unterscheidet zwischen dem gestreckten Verfahren (§ 6 Abs. 1 VwVG) und dem Sofortvollzug (§ 6 Abs. 2 VwVG). Der maßgebliche Unterschied besteht darin, dass nach § 6 Abs. 1 VwVG ein vollstreckbarer Grundverwaltungsakt vorliegen muss. Der Sofortvollzug ohne vorhergehenden Verwaltungsakt ist nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 VwVG möglich.
Beginne in Klausuren im Verwaltungsvollstreckungsrecht immer mit der Prüfung des gestreckten Verfahrens. Sofern dieses scheitert – was häufig der Fall ist – gehst Du über auf die Prüfung des Sofortvollzugs. Ein Prüfungsschema zur Rechtmäßigkeit einer Maßnahme im gestreckten Verfahren findest Du in unserem Kurs zum Verwaltungsrecht AT. 9. Zunächst müssten die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen. Bedarf es bei § 6 Abs. 1 VwVG eines vollstreckbaren Grundverwaltungsakts?
10. Im Rahmen des Verfahrens nach § 6 Abs. 1 VwVG hätte P die Anwendung des unmittelbaren Zwangs schriftlich androhen müssen (§ 13 Abs. 1 S. 1 VwVG).
Ja, in der Tat!
Im Rahmen der besonderen Verfahrensvoraussetzungen von § 6 Abs. 1 VwVG prüfst Du (1) die Androhung des Zwangsmittels (§ 13 VwVG)
(2) die Festsetzung des Zwangsmittels (§ 14 VwVG)
(3) die Ordnungsgemäße Anwendung des Zwangsmittels Die Zwangsmittel müssen nach § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG, wenn sie nicht sofort angewendet werden können (§ 6 Abs. 2), schriftlich angedroht und nach § 14 VwVG festgesetzt werden. P hat den unmittelbaren Zwang in Form der Schmerzgriffe nicht schriftlich angedroht, wie es nach § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG vorausgesetzt wird (RdNr. 37) und das Zwangsmittel auch nicht gemäß § 14 S. 1 VwVG festgesetzt. Je nach Schwerpunkt der Klausur, kannst Du i.R.v. § 6 Abs. 1 VwVG auch direkt feststellen, dass die besonderen Verfahrensvoraussetzungen nicht vorliegen. So sparst Du Dir Zeit.
11. P trägt im Gerichtsprozess vor, auf Grundlage von § 6 Abs. 2 VwVG gehandelt zu haben. Ist der Sofortvollzug nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 2 VwVG auch dann möglich, wenn ein Grundverwaltungsakt vorliegt?
Nein!
Nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 2 VwVG kommt der Sofortvollzug nur dann in Betracht, wenn zuvor kein Verwaltungsakt ergangen ist. Wenn eine Vollstreckung im Sofortvollzug aber grundsätzlich sogar ohne Grundverwaltungsakt möglich ist, dann erst recht, wenn ein solcher vorliegt (Erst-Recht-Schluss). Damit kann § 6 Abs. 2 VwVG (analog) für die Fälle angewendet werden, in denen die Behörde zunächst einen Verwaltungsakt erlässt. P hat zunächst einen Platzverweis (= Verwaltungsakt) erlassen. Dennoch kommt ein Vorgehen im Sofortvollzug in Betracht. Dafür müssten die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 VwVG vorliegen. Gerade im Gefahrenabwehrrecht kommt es öfter vor, dass die Behörde zunächst einen Verwaltungsakt erlässt und dann – wegen der Dringlichkeit – im Sofortvollzug vollstreckt. Die Anwendung von § 6 Abs. 2 VwVG in diesen Fällen ist allgemein anerkannt. Du kannst Dich hier kurz fassen. Ein Prüfungsschema zur Rechtmäßigkeit einer Maßnahme im Sofortvollzug findest Du hier. 12. Damit die Maßnahme im Sofortvollzug (§ 6 Abs. 2 VwVG) materiell rechtmäßig ist, müssten zunächst die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen.
Genau, so ist das!
Die materielle Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung kannst Du wie folgt prüfen:
(1) Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen,
(2) Vollstreckungsverfahren.
Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen für die Vollstreckung im Sofortvollzug ergeben sich aus § 6 Abs. 2 VwVG: Erforderlich ist, dass der Sofortvollzug zur Abwendung einer drohenden Gefahr notwendig ist und die Behörde „innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse“ handelt.
13. § 6 Abs. 2 VwVG sieht als Vollstreckungsvoraussetzung vor, dass die Behörde innerhalb ihrer Befugnisse handelt. Muss Du hier inzident die Rechtmäßigkeit eines hypothetischen Grundverwaltungsakts prüfen?
Ja, in der Tat!
§ 6 Abs. 2 VwVG schreibt vor, dass die Behörde bei Anwendung des Verwaltungszwangs im Sofortvollzug „innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse“ handeln muss. Das ist der Fall, wenn ein hypothetischer Grundverwaltungsakt, der den Adressaten zu dem gewünschten Handeln, Dulden oder Unterlassen auffordert, rechtmäßig wäre. Dies wäre hier die Aufforderung, die Fahrbahn zu verlassen, d.h. ein Platzverweis (§ 29 Abs. 1 S. 1 ASOG).
Beachte: Hier wurde ein Platzverweis (§ 29 Abs. 1 S. 1 ASOG) tatsächlich ausgesprochen, sodass ein Grundverwaltungsakt vorliegt. § 6 Abs. 2 VwVG ist nach allgemeiner Ansicht auch in diesem Fall anwendbar. Die besonderen Voraussetzungen des Sofortvollzugs dürfen aber nicht umgangen werden. Es reicht gerade nicht aus, dass der Platzverweis sofort vollziehbar war. Vielmahr kommt es auf die Rechtmäßigkeit an.
Die Rechtmäßigkeit der (hypothetischen) Grundverfügung prüfst Du erneut in dem bekannten Dreischritt
(1) Ermächtigungsgrundlage,
(2) Formelle Rechtmäßigkeit und
(3) Materielle Rechtmäßigkeit.
14. Der Platzverweis (§ 29 Abs. 1 S. 1 ASOG) erging formell rechtmäßig. Setzt die materielle Rechtmäßigkeit zunächst einen Schadenseintritt voraus?
Nein!
§ 29 Abs. 1 S. 1 ASOG setzt das Bestehen einer Gefahr voraus, d.h. nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 ASOG eine konkrete Gefahr . Eine Gefahr liegt vor bei einer konkreten Sachlage, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führen wird.
15. Indem K nach Auflösung der Versammlung auf der Fahrbahn blieb, beging er eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 27 Abs. 1 Nr. 8, 14 Abs. 6 S. 2 VersFG Bln. Bestand darin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit?
Genau, so ist das!
Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst
(1) die Unversehrtheit der gesamten Rechtsordnung,
(2) den Schutz von Individualrechtsgütern und
(3) Bestand des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen.
Gemäß § 14 Abs. 6 S. 2 VersFG Bln haben alle anwesenden Personen sich unverzüglich zu entfernen, sobald eine Versammlung aufgelöst ist. Indem K sich nach der Versammlungsauflösung nicht von der Fahrbahn entfernte, verstieß er gegen die Vorschrift, sodass die öffentliche Sicherheit unter dem Gesichtspunkt der gesamten objektiven Rechtsordnung betroffen ist. Da der Verstoß bereits eingetreten ist, hat die Gefahr sich sogar realisiert. Es liegt eine Störung der öffentlichen Sicherheit vor.
Gleichlautende Regelungen finden sich auch in den anderen Versammlungsgesetzen, etwa in § 14 Abs. 7 S. 2 HVersFG (Hessen), § 13 Abs. 2 S. 3 VersG NRW, § 13 Abs. 2 VersG Bund.
Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit unter dem Gesichtspunkt der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung könnte sich auch aus einer möglichen Strafbarkeit der Sitzblockade ergeben. In der Klausur müsstest Du die Strafbarkeit des K hier ggf. inzident prüfen. Zur Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Blockierens der Fahrbahn durch Ankleben siehe diesen Fall 16. Der Platzverweis als (hypothetischer) Grundverwaltungsakt ist insgesamt rechtmäßig und die Polizei handelte somit innerhalb ihrer Befugnisse i.S.d. § 6 Abs. 2 VwVG. War der Sofortvollzug auch notwendig?
Ja, in der Tat!
Der Sofortvollzug ist notwendig i.S.d. § 6 Abs. 2 VwVG, wenn eine Vollstreckung im gestreckten Verfahren (§ 6 Abs. 1 VwVG) den Zweck der Maßnahme nicht oder nur wesentlich erschwert erreichen könnte. Wenn ein Vorgehen im gestreckten Verfahren möglich war, ist der Sofortvollzug nicht notwendig.
Das Vorgehen im gestreckten Verfahren (§ 6 Abs. 1 VwVG) setzt unter anderem voraus, dass das Zwangsmittel gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG schriftlich angedroht und nach § 14 S. 1 VwVG festgesetzt wird. Dies ist hier beides nicht geschehen, da eine schriftliche Androhung und Festsetzung den Erfolg der Maßnahme in zeitlicher Hinsicht erheblich erschwert hätte. Folglich war ein Vorgehen im Sofortvollzug notwendig i.S.d. § 6 Abs. 2 VwVG.
In Deiner Klausur kannst Du hier nach oben auf die Prüfung und das Scheitern des gestreckten Verfahrens verweisen. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen dem gestreckten Verfahren nach § 6 Abs. 1 VwVG und dem Sofortvollzug (§ 6 Abs. 2 VwVG). Wie der Name schon sagt, soll die Vollstreckung im Verfahren nach § 6 Abs. 2 VwVG vor allem schnell und mit wenig (bürokratischem) Aufwand erfolgen. Damit soll sicher gestellt sein, dass die Behörde in dringenden Fällen die Gefahren effektiv abwehren kann.
17. Die materielle Rechtmäßigkeit setzt weiterhin voraus, dass P die Vollstreckungsmaßnahme ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig, durchgeführt hat.
Ja!
Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt, dass jedes staatliche Handeln dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss. Für den Verwaltungszwang ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einfachgesetzlich in § 9 Abs. 2 VwVG verankert. Für das Zwangsmittel des unmittelbaren Zwangs findet sich in Berlin zudem eine eigene gesetzliche Normierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 4 Abs. 1, 2 UZwG Bln.
Die Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen prüfst Du wie folgt: (1) Legitimer Zweck,
(2) Geeignetheit,
(3) Erforderlichkeit,
(4) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).
18. Die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Schmerzgriffe scheitert hier schon an dem fehlenden legitimen Zweck.
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein legitimer Zweck ist gegeben, wenn mit der Maßnahme ein auf das Allgemeinwohl gerichtetes Ziel verfolgt wird.
Ziel der Schmerzgriffe war es, den K von der Fahrbahn zu bewegen und auf diese Weise den Verstoß gegen § 14 Abs. 6 S. 2 VersFG Bln, d.h. die Störung der öffentlichen Sicherheit zu beseitigen. Dabei handelt es sich um ein auf das Allgemeinwohl gerichtete Ziel und mithin einen legitimen Zweck.
19. Der Einsatz der Schmerzgriffe war zu diesem Zweck auch geeignet. Ist eine Maßnahme erforderlich, soweit es ein milderes, gleich effektives Mittel gab?
Nein, das trifft nicht zu!
Eine staatliche Maßnahme ist erforderlich, soweit kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht. Milder sind solche Mittel, die weniger intensiv in Grundrechte des Betroffenen eingreifen.
In einer Klausur solltest Du im Rahmen der Erforderlichkeit bestenfalls mindestens ein alternatives, milderes Mittel vorschlagen und prüfen, ob dieses gleichermaßen geeignet ist, den legitimen Zweck zu erreichen. Hier wäre ein mögliches alternatives Mittel das Wegtragen des K von der Fahrbahn durch die Polizeibeamten.
20. Die Polizei rügt, es hätten nicht genügend Einsatzkräfte zur Verfügung gestanden, um K wegzutragen. Spricht der Umstand, dass K schließlich doch weggetragen wurde, für die Erforderlichkeit der Schmerzgriffe?
Nein!
Eine staatliche Maßnahme ist erforderlich, soweit kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht. Milder sind solche Mittel, die weniger intensiv in Grundrechte des Betroffenen eingreifen. Gleich geeignet ist das Mittel, wenn der gleiche Grad an Zweckerreichung zu erwarten ist. Maßgeblich ist dabei auch die praktische Umsetzbarkeit des Alternativmittels unter den konkreten Einsatzbedingungen.
Das Wegtragen des K beeinträchtigt die körperliche Unversehrtheit des K (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) weniger und stellt somit ein milderes Mittel dar. Es wäre gleich geeignet, wenn es denselben Erfolg – die Entfernung von der Fahrbahn – in gleich effizienter Weise, d.h. ohne erhebliche Erhöhung der Einsatzkraft, herbeiführen kann. Zwar betonte die Polizei zu Recht den höheren Kräftebedarf, den das Wegtragen bedarf (RdNr. 51). Dass drei Beamte den K letztlich von der Fahrbahn trugen, zeigt aber, dass von vornherein genügend Personal dafür verfügbar war. Es ist nicht ersichtlich, dass das Wegtragen nicht auch ohne vorherige Schmerzgriffe hätte erfolgen können, zumal es für die Beamten nicht unzumutbar belastend war und keiner signifikanten Erhöhung der Einsatzkraft bedurfte (RdNr. 55). Damit stand ein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung. Somit waren die Schmerzgriffe nicht erforderlich.
21. Ks negative Feststellungsklage ist unbegründet.
Nein, das ist nicht der Fall!
Mangels Erforderlichkeit war die Maßnahme unverhältnismäßig (ermessensfehlerhaft) und somit insgesamt rechtswidrig. Die Polizeibeamten waren somit nicht zu der Vornahme der Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken befugt. Mithin bestand das bestrittene Rechtsverhältnis zwischen K und den Polizeibeamten nicht und Ks negative Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO) ist begründet. Die Prüfung ist sehr verschachtelt. Lass Dich davon nicht abschrecken, sondern verschaffe Dir in der Klausur einen Überblick mit einer Gliederung. Wenn Du hier strukturiert prüfst, wirst Du merken, dass der Fall inhaltlich gar nicht so anspruchsvoll ist. Die Gliederung könnte wie folgt aussehen:
(I) Rechtmäßigkeit der vollstreckungsrechtlichen Maßnahme
(1) Ermächtigungsgrundlage: §§ 6, 9 Abs. 1 lit. c), 12 VwVG
(2) Formelle Rechtmäßigkeit
(3) Materielle Rechtmäßigkeit
(a) § 6 Abs. 1 VwVG (-) weil das besondere Verfahren nach §§ 13ff. VwVG nicht durchgeführt wurde
(b) § 6 Abs. 2 VwVG
(aa) Anwendbar, obwohl Grundverwaltungsakt vorhanden
(bb) Vollstreckungsvoraussetzungen: Rechtmäßigkeit des Platzverweises: (1) Ermächtigunggrundlage, (2) Formelle Rechtmäßigkeit, (3) Materielle Rechtmäßigkeit
(cc) Vollstreckungsverfahren, insbesondere Ermessen
(c) Zwischenergebnis: Maßnahme ermessensfehlerhaft
(4) Zwischenergebnis: Vollstreckung rechtswidrig
(II) Ergebnis: Klage begründet