Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Verwaltungsvollstreckung
Einsatz von Schmerzgriffen gegen Versammlungsteilnehmer (VG Berlin, Urt. v. 20.03.2025 – VG 1 K 281/23)
Einsatz von Schmerzgriffen gegen Versammlungsteilnehmer (VG Berlin, Urt. v. 20.03.2025 – VG 1 K 281/23)
21. Mai 2025
16 Kommentare
4,8 ★ (28.447 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
K ist Teilnehmer einer Straßenblockade der „Letzten Generation“. Die zuständigen Polizeibeamten sprechen Platzverweise aus, lösen die Versammlung auf und drohen unmittelbaren Zwang an. Nachdem K trotzdem sitzen bleibt, setzen die Polizeibeamten Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken ein und tragen K dann zu dritt von der Fahrbahn.
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Einordnung des Falls
Einsatz von Schmerzgriffen gegen Versammlungsteilnehmer (VG Berlin, Urt. v. 20.03.2025 – VG 1 K 281/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 22 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K möchte im Nachgang verwaltungsgerichtlich feststellen lassen, dass die Anwendung der Schmerzgriffe rechtswidrig war. Handelt es sich bei der Anwendung eines Schmerzgriffs um einen Verwaltungsakt?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Somit wäre die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) hier die statthafte Klageart.
Ja!
3. K müsste ein berechtigtes Interesse an der Feststellung (Feststellungsinteresse) gemäß § 43 Abs. 1 VwGO haben. Genügt bei einem vergangenen Rechtsverhältnis jedes schutzwürdige Interesse?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Die Maßnahme war zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits erledigt. Kann Ks Feststellungsinteresse mit einem Präjudizinteresse begründet werden?
Nein, das trifft nicht zu!
5. Die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage ist begründet, wenn das bestrittene Rechtsverhältnis nicht bestand (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO).
Ja!
6. Die Schmerzgriffe könnten eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung sein.
Genau, so ist das!
7. Die Polizeibeamten wirken durch körperliche Gewalt auf den K ein. Kommt damit §§ 6, 9 Abs. 1 lit. c), 12 VwVG als Ermächtigungsgrundlage in Betracht?
Ja, in der Tat!
8. Musst Du im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 6 VwVG zwischen dem gestrecktem Verfahren und Sofortvollzug unterscheiden?
Ja!
9. Zunächst müssten die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen. Bedarf es bei § 6 Abs. 1 VwVG eines vollstreckbaren Grundverwaltungsakts?
Genau, so ist das!
10. Im Rahmen des Verfahrens nach § 6 Abs. 1 VwVG hätte P die Anwendung des unmittelbaren Zwangs schriftlich androhen müssen (§ 13 Abs. 1 S. 1 VwVG).
Ja, in der Tat!
11. P trägt im Gerichtsprozess vor, auf Grundlage von § 6 Abs. 2 VwVG gehandelt zu haben. Ist der Sofortvollzug nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 2 VwVG auch dann möglich, wenn ein Grundverwaltungsakt vorliegt?
Nein!
12. Damit die Maßnahme im Sofortvollzug (§ 6 Abs. 2 VwVG) materiell rechtmäßig ist, müssten zunächst die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen.
Genau, so ist das!
13. § 6 Abs. 2 VwVG sieht als Vollstreckungsvoraussetzung vor, dass die Behörde innerhalb ihrer Befugnisse handelt. Muss Du hier inzident die Rechtmäßigkeit eines hypothetischen Grundverwaltungsakts prüfen?
Ja, in der Tat!
14. Der Platzverweis (§ 29 Abs. 1 S. 1 ASOG) erging formell rechtmäßig. Setzt die materielle Rechtmäßigkeit zunächst einen Schadenseintritt voraus?
Nein!
15. Indem K nach Auflösung der Versammlung auf der Fahrbahn blieb, beging er eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 27 Abs. 1 Nr. 8, 14 Abs. 6 S. 2 VersFG Bln. Bestand darin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit?
Genau, so ist das!
16. Der Platzverweis als (hypothetischer) Grundverwaltungsakt ist insgesamt rechtmäßig und die Polizei handelte somit innerhalb ihrer Befugnisse i.S.d. § 6 Abs. 2 VwVG. War der Sofortvollzug auch notwendig?
Ja, in der Tat!
17. Die materielle Rechtmäßigkeit setzt weiterhin voraus, dass P die Vollstreckungsmaßnahme ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig, durchgeführt hat.
Ja!
18. Die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Schmerzgriffe scheitert hier schon an dem fehlenden legitimen Zweck.
Nein, das ist nicht der Fall!
19. Der Einsatz der Schmerzgriffe war zu diesem Zweck auch geeignet. Ist eine Maßnahme erforderlich, soweit es ein milderes, gleich effektives Mittel gab?
Nein, das trifft nicht zu!
20. Die Polizei rügt, es hätten nicht genügend Einsatzkräfte zur Verfügung gestanden, um K wegzutragen. Spricht der Umstand, dass K schließlich doch weggetragen wurde, für die Erforderlichkeit der Schmerzgriffe?
Nein!
21. Ks negative Feststellungsklage ist unbegründet.
Nein, das ist nicht der Fall!
22. Allerdings könnte K gemäß § 18 Abs. 2 VwVG auch Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog) erheben.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Tinki
26.4.2025, 08:22:37
s.o.

Wendelin Neubert
16.5.2025, 19:10:47
Hallo Tinki, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Wendelin Neubert, für das Jurafuchs-Team
Jimmy105
26.4.2025, 09:45:55
Ich freue mich, dass ihr die letzte Anfrage von mir so schnell umgesetzt habt. Danke!

kithorx
26.4.2025, 19:36:46
Solche des ASOG sind nicht eingebunden oder verlinkt, dabei wird explizit nach Tatbestandsmerkmalen des ASOG gefragt. Bitte nach Möglichkeit nachbessern.

Macke
26.4.2025, 21:24:55
Dauert glaube ich noch, weil die nicht über https://dejure.org/ abrufbar sind. Dafür müsste dann für jedes Land eine individuelle Lösung geschaffen werden, was vermutlich auf der Prioritätenliste nicht ganz oben steht.
anonymö
26.4.2025, 21:00:23
Die Gliederung ist wirklich sehr hilfreich! Ich fände es super, wenn ihr das öfter machen könntet, insbesondere im ÖR, aber zum Beispiel auch bei verschachtelten Zivilrechts-Fällen!

Wendelin Neubert
16.5.2025, 19:12:52
Hallo anonymö , vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Wendelin Neubert, für das Jurafuchs-Team
Vanilla Latte
27.4.2025, 03:26:30
wieso wurde hier der Normalvollzug abgelehnt? Das war doch sofort anwendbar oder nicht?

LorenaGiacco
12.5.2025, 12:05:30
Hallo @[Vanilla Latte](217055) und danke für Deine Frage! Wenn du mit Normalvollzug das gestreckte Verfahren meinst, dann ist dieses hier daran gescheitert, dass es hier an der schriftlichen An
drohung(§ 13 Abs. 1 S. 1 VwVG) und der Festsetzung (§ 14 S. 1 VwVG) fehlte. Diese sind im VwVG Bund aber zwingend notwendig für das Vorgehen im gestreckten Verfahren. Falls das Deine Frage nicht klärt, stell sie gerne nochmal konkreter und wir helfen gerne weiter! Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team
Max
27.4.2025, 21:51:16
Als Ergänzung: In Hamburg dürfte das auch über das gestreckte Verfahren machbar gewesen sein, denn nicht nur muss die An
drohungmWn nicht schriftlich erfolgen, nach § 27 HmbVwVG kann in Gefahrsituationen im gestreckten Verfahren von vielen
Verfahrensvoraussetzungenabgesehen worden. Dann braucht es keinen Umweg über den
Sofortvollzug(in HH „
unmittelbare Ausführung“ nach 7 SOG)
M
28.4.2025, 09:20:29
Warum ist nicht der paragraph 18 Abs. 2 VwVG einschlägig und damit die Klageart, die gegen den hypothetischen Grund-Verwaltungsakt einschlägig wäre? Strittig ist dann wohl in der Literatur, ob sich durch die Anwendung des
Zwangsmittels der Grund-VA erledigt und somit eine
Fortsetzungsfeststellungsklageeinschlägig ist oder eine Anfechtungsklage.

LorenaGiacco
29.4.2025, 10:17:54
Hallo @M, danke Dir für den aufmerksamen und berechtigten Einwand! Den Aspekt hatten wir in der Aufgabe tatsächlich nicht berücksichtigt. Wir haben die Aufgabe nun überarbeitet: Im ersten Schritt fragen wir nach der VA-Eigenschaft der Maßnahme (die wir wie gehabt ablehnen) und im zweiten Schritt weisen wir im Rahmen der statthaften Klageart auf § 18 Abs. 2 VwVG hin und werfen die Frage auf, ob trotz Einstufung als
Realakthier die
Fortsetzungsfeststellungsklagestatthaft ist/sein könnte. Trotz des eindeutigen Wortlauts des § 18 Abs. 2 VwVG ist nämlich dessen Anwendbarkeit umstritten. Zum Teil wird die Vorschrift nicht berücksichtigt, da sie durch den späteren Erlass der VwGO überholt sei. Das VG Berlin folgt dem offenbar (oder ignoriert die Norm einfach: Es nahm direkt die allg.
Feststellungsklagean, ohne sich zu der Problematik zu äußern). Der eindeutige Wortlaut spricht wohl aber dafür, dass man konsequenterweise die Anfechtungs-/
Fortsetzungsfeststellungsklagewählen müsste (so auch Detterbeck, Allg. VerwR § 20 RdNr. 1049). Wie immer ist aber weniger das Ergebnis als vielmehr die Argumentation entscheidend. Zumal es hier in der Sache auf dieselbe Prüfung hinausläuft (Prüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme), „egal" welche Klageart man (mit entsprechender Begründung) wählt. Trotzdem super, dass Du darauf hingewiesen hast, danke! :) Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team
Tin
28.4.2025, 12:14:46
Könnte man nicht sagen, dass die Maßnahme doch
erforderlichwar unter Berücksichtigung dessen, dass zwar später auch ,,nur" 3 Beamte den ,,Störer" weggetragen haben, aber dies nur aufgrund der Schmerzgriffe möglich war ? Bspw. wenn man begründet, dass die Gegenwehr aufgrund der Schmerzgriffe geringer ausgefallen ist und nur so ein Wegtragen durch lediglich 3 Beamte möglich gewesen ist ? ( Natürlich bei entsprechenden Angaben im SV )

LorenaGiacco
29.4.2025, 08:30:14
Hallo @[Tin](195209) und danke für Deinen Kommentar! Dieselbe Frage habe ich mir auch gestellt. Letztlich lehnt das VG Berlin dies im Originalfall ab und verneint die
Erforderlichkeitder Schmerzgriffe, da K zu keinem Zeitpunkt aktiven Widerstand leistete. Er blieb allein passiv auf der Fahrbahn sitzen und gab den Polizeibeamten keine Veranlassung, ihn erst ruhig zu stellen. Das VG geht deshalb davon aus, dass K auch ohne vorherige Schmerzgriffe und das „Gefügigmachen“ hätte davongetragen werden können, da das Wegtragen den Beamten offenbar keinerlei Probleme bereitete; dies auch angesichts der Statur des K (nach den Urteils
feststellungen eher leicht), siehe zu dem Ganzen RdNrn. 53-55. Hätte K sich zuvor aufrührerisch verhalten/aktiven (körperlichen) Widerstand geleistet, hätte die Argumentation wahrscheinlich mit Deinen Erwägungen anders ausgehen können. Wie Du aber richtig anmerkst, ist das am Ende eine Frage der Argumentation und Auswertung der Sachverhaltsangaben. Unser Sachverhalt hier ist aus didaktischen und Platzgründen natürlich stark komprimiert, in der Klausur gäbe es mehr „Futter“ zum Argumentieren, insb. für die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ich hoffe, das hilft! :) Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team
immoscout
1.5.2025, 12:20:07
Verständnisfrage: Setzt nicht schon die Anwendbarkeit des VwVG Bund voraus, dass hier Bundespolizisten im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes tätig geworden sind? Aus der Aufgabenstellung ginge das so nicht hervor; Zudem ist nicht erkennbar woraus sich eine Zuständigkeit der Bundespolizei im Rahmen von Versammlungen überhaupt ergeben sollte. Warum hat das VG Berlin, dann überhaupt eine Anwendbarkeit von §
18 VwVGBund geprüft (oder ging es um eine landesrechtliche Parallelnorm)?

LorenaGiacco
2.5.2025, 15:20:02
Hallo @[immoscout](301353), völlig berechtigte Frage! Du hast Recht, dass das VwVG (Bund) grundsätzlich nur auf Vollstreckungsmaßnahmen von Bundes
behörden Anwendung findet. Im konkreten Fall, der in Berlin spielt, greift jedoch eine Berliner Besonderheit: Nach § 8 Abs. 1 VwVfG Berlin findet für das Vollstreckungsverfahren der Berliner
Behörden das Bundes-VwVG Anwendung. Das bedeutet, dass auch bei Maßnahmen durch Landes
behörden (wie der Polizei) ausnahmsweise das Bundesvollstreckungsrecht gilt. Deshalb hat das VG Berlin zutreffend das VwVG (Bund) herangezogen und keine landesrechtlichen Vorschriften. Ich hoffe das hilft! Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team