Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)

Abwesenheit des Verteidigers - Bestellung in der Hauptverhandlung (§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO)

Abwesenheit des Verteidigers - Bestellung in der Hauptverhandlung (§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird wegen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) vor dem Strafrichter angeklagt. Nach Vernehmung eines Sachverständigen wird klar, dass eine schwere Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 StGB) vorliegt, wofür A nach richterlichem Hinweis und Pflichtverteidigerbestellung später verurteilt wird.

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Einordnung des Falls

Abwesenheit des Verteidigers - Bestellung in der Hauptverhandlung (§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft, weil die Pflichtverteidigerbestellung zu spät erfolgte (§§ 140 Abs. 1, 141 Abs. 2 StPO).

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Verteidiger muss bestellt werden, wenn (1) ein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 140 StGB) vorliegt und (2) der Angeklagte einen Antrag stellt (§ 141 Abs. 1 StPO) oder (3) ein Zeitpunkt des § 141 Abs. 2 StPO erreicht ist. Notwendig ist die Verteidigung, wenn dem Angeklagten ein Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) zur Last gelegt wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO). „Zur Last gelegt” ist das Verbrechen, wenn es formal vorgeworfen wird, etwa in Anklage, Eröffnungsbeschluss oder durch Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO.A wurde vor dem Strafrichter wegen Körperverletzung, einem Vergehen, angeklagt (§§ 12 Abs. 2, 223 Abs. 1 StGB). Die schwere Körperverletzung als Verbrechen (§ 226 Abs. 1 StGB) wurde ihm erst im Verlauf des Prozesses formal zur Last gelegt, woraufhin sofort (§ 141 Abs. 2 Nr. 4 Hs. 2 StPO) ein Verteidiger bestellt wurde.
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2. Da A sofort (§ 141 Abs. 2 Nr. 4 Hs. 2 StPO) und damit rechtzeitig ein Verteidiger bestellt wurde, ist das Urteil rechtsfehlerfrei (§ 337 Abs. 1 StPO).

Nein, das trifft nicht zu!

Ergibt sich die Notwendigkeit der Verteidigung erst während der Hauptverhandlung und wird nunmehr ein Verteidiger bestellt, so ist es erforderlich, die wesentlichen Teile der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Verteidigers zu wiederholen, wie etwa die Vernehmung des Angeklagten zur Person und zur Sache. Dies ergibt sich aus der Einheit der Hauptverhandlung, zu deren gesamten Verlauf der Verteidiger Stellung zu nehmen hat. Dazu ist er nicht in der Lage, wenn er, auch nur einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung nicht beigewohnt hat.Zwar wurde die Bestellung sofort vorgenommen. Die wesentlichen Teile der Hauptverhandlung, insbesondere die Zeugenvernehmungen, wurden aber offenbar nicht nachgeholt. Damit war der Verteidiger bei wesentlichen Teilen der Verhandlung abwesend (§ 140 Abs. 1 StPO).

3. Muss A auch darlegen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (§ 338 Nr. 5 StPO)?

Nein!

Es liegt ein Verstoß gegen § 140 Abs. 1 StPO vor, da die wesentlichen Teile der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Pflichtverteidigers wiederholt werden mussten, was nicht geschah. Da es hier also um die Abwesenheit eines Verfahrensbeteiligten geht, dessen Anwesenheit gesetzlich vorgeschrieben war, wird vermutet, das Urteil auf diesem Umstand beruht (§ 338 Nr. 5 StPO).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FABIE

fabienchenh

22.1.2024, 22:02:40

Müsste hier dann nicht auch eine Verweisung erfolgen? Der Strafrichter hat doch keine Strafgewalt bei Verbrechen? Vielen dank!

TI

Timurso

23.1.2024, 12:57:28

Doch, der Strafrichter hat auch bei Verbrechen Strafgewalt. Er kann bis zu 4 Jahren Haft aussprechen, § 24 II GVG.

FABIE

fabienchenh

23.1.2024, 13:19:53

Danke für deine Antwort, aber ich glaube das trifft nicht auf den Fall zu, dass es sich bei dem Delikt um ein Verbrechen handelt. Dahingehend ist der Wortlaut des 25 GVG relativ eindeutig. Der Strafrichter kann zwar, wenn sich während der Verhandlung die ursprüngliche Straferwartung auf eine von über 2 J bis 4 J ergibt weiterverhandeln und muss nicht verweisen, das dürfte aber nicht der Fall sein, wenn sich die Tat als Verbrechen herausstellt. Habe ich so zumindest jetzt nochmal nachgelesen… aber könnte auch total auf dem Holzweg sein. Hilfe @[Jurafuchs](137809) ?

PK

P K

4.2.2024, 15:07:47

Das

Schöffengericht

ist aber wegen der gleichen Strafgewalt im Verhältnis zum Strafrichter kein höheres Gericht i.S.d. § 270 StPO. Auch dürfte § 25 GVG auf die vorläufige Bewertung der Tat zum Zeitpunkt der Anklageerhebung abstellen, auch wenn es nicht eindeutig aus dem Wortlaut hervorgeht. Aber warum sollte hier etwas anderes gelten als in Bezug auf die Straferwartung?

PK

P K

5.2.2024, 11:00:06

Ergänzung: Im M/G als auch im KK wird der Strafrichter im Verhältnis zum

Schöffengericht

als Gericht niederer Ordnung angesehen m. w. N. zur Rspr. In BGH 3 StR 439/08 wird eine solche Verweisung nach Eröffnung des Hauptverfahrens dagegen unter Hinweis auf die gleiche Strafgewalt für ausgeschlossen erachtet (HRRS 2009 Nr. 390 Rn. 10 bezogen auf § 25 Nr. 2 GVG).

FABIE

fabienchenh

5.2.2024, 11:03:56

Super vielen Dank fürs nachsehen! Ich habe mich sehr am Wortlaut des § 25 GVG orientiert; aber wenn’s sogar Rechtsprechung dazu gibt umso besser. Großen Dank! :)

JURAFU

jurafuchsles

21.3.2024, 15:39:05

Ich dachte auch, dass dennoch verwiesen werden muss bei einem Vebrechen, da ansonsten Willkür vorliegt?

TI

Timurso

21.3.2024, 15:47:57

Ich habe mich dazu auch noch einmal informiert und muss meine Aussage von davor revidieren: Über Verbrechen darf der Strafrichter nicht entscheiden, er muss hier verweisen.

FABIE

fabienchenh

21.3.2024, 20:54:49

Danke Dir fürs Klarstellen. Habe auch zwischenzeitlich nochmal einen Vorsitzenden Richter am LG dazu befragen können und er hat mir das bestätigt :) habe nur diesen thread hier völlig vergessen 😄


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