Abwesenheit des Verteidigers - Wahlverteidiger, Art. 6 Abs. 3 lit. 3c) EMRK

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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A wird wegen Beleidigung (§ 185 StGB) vor dem Strafrichter angeklagt. Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung ruft As Verteidiger V an und teilt mit, er komme ca. 20 Minuten zu spät. Die Vorsitzende beginnt dennoch mit der Verhandlung und verurteilt A, als V gerade den Saal betritt.

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Einordnung des Falls

Abwesenheit des Verteidigers - Wahlverteidiger, Art. 6 Abs. 3 lit. 3c) EMRK

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft , weil V entgegen § 140 StPO bei wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung abwesend war.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Abwesenheit Vs verstößt nur gegen § 140 StPO, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag. A war vor dem Strafrichter angeklagt und ihr wurde ein Vergehen zur Last gelegt. Da die Hauptverhandlung wegen Beleidigung (§ 185 BGB) nach ca. 20 Minuten schon beendet war, dürfte auch weder eine besondere Schwere der Tat, der zu erwartenden Rechtsfolge oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (§ 140 Abs. 2 StPO) eine Pflichtverteidigerbestellung bedingen. Es spricht nichts dafür, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag. Insoweit war Vs Anwesenheit nicht erforderlich.
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2. Auch aus der Abwesenheit eines nicht im Sinne des § 140 StPO notwendigen Verteidigers kann sich ein revisibler Verstoß ergeben.

Ja, in der Tat!

Aus der Abwesenheit eines nicht im Sinne des § 140 StPO notwendigen Verteidigers kann sich im Einzelfall ein revisibler Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens ergeben (Art. 6 Abs. 3 lit. 3c) EMRK). Daraus resultiert das Recht des Angeklagten, sich von einem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. auch § 137 Abs. 1 S. 1 StPO).

3. Ist das Urteil vorliegend rechtsfehlerhaft (§ 337 StPO)?

Ja!

Aus der Abwesenheit eines nicht im Sinne des § 140 StPO notwendigen Verteidigers kann sich ein revisibler Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens ergeben (Art. 6 Abs. 3 lit. 3c) EMRK). Die Fürsorgepflicht des Gerichts gebietet regelmäßig, mit dem Beginn der Hauptverhandlung zuzuwarten, bis der Verteidiger erscheint. Eine Faustregel ist in der Praxis eine Wartezeit von 15 Minuten.Hier hätte das Gericht zumindest 15 Minuten zuwarten müssen, eher sogar noch länger, da der Verteidiger das Gericht zuvor über die Verspätung informiert hatte. In jedem Fall verletzte das Gericht seine sich aus dem Gebot des fairen Verfahrens ergebende Fürsorgepflicht. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft.Oft wird bei Abwesenheit des nicht notwendigen Verteidigers die Revision auch auf die Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung der Verhandlung zu stützen sein (§ 228 Abs. 1 StPO), so ein solcher gestellt wird.

4. Dass das Urteil auf der Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens beruht, wird nach § 338 Nr. 5 StPO vermutet.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 338 Nr. 5 StPO greift, wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person stattfand, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt. Hierzu gehört zwar der notwendige Verteidiger, aber nicht der Verteidiger, bei dem kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. Da seine Anwesenheit ist nicht zwingend gesetzlich vorgeschrieben.

5. Das Beruhen des Urteils auf der Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens wird aber nach § 338 Nr. 8 StPO vermutet.

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar geht es im Rahmen des § 338 Nr. 8 StPO um eine ungesetzliche Beschränkung der Verteidigung. Allerdings nur durch einen Gerichtsbeschluss. Weiterhin würde die Norm A nicht helfen, denn es handelt sich nicht um einen absoluten Revisionsgrund. § 338 Nr. 8 StPO hat hier eine Sonderstellung. Denn die Verteidigung muss in einem „für die Entscheidung wesentlichen Punkt” beschränkt sein. Dies ist der Fall, wenn die Möglichkeit besteht, dass das Handeln des Gerichts Einfluss auf das Urteil hatte. Es wird also eine „Quasi-Beruhensprüfung” vorgenommen. So oder so müsste A also das Beruhen darlegen, was ihm vorliegend allerdings auch gelingen wird, sodass es der Vermutungswirkung des § 338 StPO nicht bedarf.
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