+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
2021: Richter R hält alle Coronamaßnahmen für unverhältnismäßig und will die Maskenpflicht an Schulen gerichtlich untersagen. Er sucht gezielt nach Familien, die „bei ihm” klagen und nach Sachverständigen, die seiner Meinung sind. In einem Urteil setzt er die Maskenpflicht dann an zwei Schulen aus.
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Einordnung des Falls
Coronaleugner am Amtsgericht – Rechtsbeugung (BGH, Urt. v. 20.11.2024, 2 StR 54/24)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. R könnte sich wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben (§ 339 StGB).
Genau, so ist das!
Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 339 StGB sind:
(1) Täter: Richter, Schiedsrichter oder anderer Amtsträger
(2) Tathandlung: „Beugung” des Rechts
R müsste zudem vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.Geschütztes Rechtsgut des § 339 StGB ist die innerstaatliche Rechtspflege, insbesondere der Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in die Funktionsfähigkeit, Unparteilichkeit und Willkürfreiheit der Rechtspflege vor Angriffen von innen.
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2. R ist tauglicher Täter des § 339 StGB.
Ja, in der Tat!
Täter des § 339 StGB können Richter, Schiedsrichter oder andere Amtsträger sein.
Nichtrichterliche Amtsträger können nur dann Täter sein, wenn ihre Tätigkeit im Hinblick auf ihren Aufgabenbereich und ihrer Stellung mit der eines Richters vergleichbar sind. Sie müssen die betreffende Rechtssache „wie ein Richter” zu leiten oder zu entscheiden haben.R ist Richter und damit tauglicher Täter des § 339 StGB.
3. Eine Strafbarkeit nach § 339 StGB ist nur möglich, wenn objektiv ein falsches Ergebnis bei der gerichtlichen Entscheidung herauskommt.
Nein!
Das Recht kann auch durch einen elementaren Verstoß gegen Verfahrensrecht gebeugt werden (RdNr. 32).Der BGH führt aus, dass die Beurteilung, ob ein solcher Rechtsverstoß den Vorwurf der Rechtsbeugung begründet, auf Grundlage einer Gesamtbetrachtung sämtlicher objektiver und subjektiver Umstände erfolgt. Innerhalb dieser Prüfung kann neben Ausmaß und Schwere des Rechtsverstoßes insbesondere auch Bedeutung erlangen, welche Folgen dieser für die Partei hatte, inwieweit die Entscheidung materiell rechtskonform blieb und von welchen Motiven sich der Richter oder Amtsträger bei der Entscheidung leiten ließ (RdNr. 32).
4. Die objektive „Beugung” des Rechts ist bereits dann verwirklicht, wenn der Täter auf irgendeine Weise gegen materielles oder prozessuales Recht verstößt.
Nein, das ist nicht der Fall!
Als Beugung des Rechts im Sinne des § 339 StGB kommen nach ständiger Rspr. nur elementare Rechtsverstöße in Betracht. Es ist erforderlich, dass sich der Täter bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet (RdNr. 31).Grund dafür ist, dass der § 339 StGB eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe vorsieht und damit ein Verbrechen ist. Im Falle einer Verurteilung endet daher auch das Richter- bzw. Beamtenverhältnis für den Täter, §§ 24 Nr. 1 DRiG, 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BeamtStG. Geringe Rechtsverstöße fallen damit nicht unter § 339 StGB.
5. Gehen Klagen bei Gericht ein, dürfen sich die Richter am Gericht nach persönlichen Vorlieben aussuchen, wer welchen Fall bearbeitet.
Nein, das trifft nicht zu!
Zu welchem konkreten Richter eine Klage kommt, richtet sich nach dem internen Geschäftsverteilungsplan des Gerichts. Dort ist oft nach Anfangsbuchstaben der Nachnamen abstrakt und im Vorhinein festgelegt, wer welchen Fall erhält.Die Verteilung der Fälle nach dem Geschäftsverteilungsplan dient der Gewährleistung des Rechts auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.
6. R hat über Dritte gezielt nach Eltern gesucht, die für ihr Kind gegen die Maskenpflicht an ihrer Schule klagen würden. Er hat dabei auf den „richtigen” Nachnamen geachtet, damit die Sache nach Geschäftsverteilungsplan zu ihm kommt. Könnte darin ein elementarer Verstoß gegen Verfahrensvorschriften liegen?
Ja!
Die richterliche Tätigkeit soll von nichtbeteiligten Dritten ausgeübt werden. Diese Garantie der richterlichen Unparteilichkeit folgt aus Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG sowie aus Art. 92, Art. 97, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und ist ein fundamentales rechtsstaatliches Prinzip. Die Entscheidungsfindung muss deshalb ohne Rücksicht auf eigene Interessen mit „unbedingter Neutralität“ erfolgen (RdNr. 38).R hat trotz seiner schon vor Einleitung des Verfahrens bestehenden Voreingenommenheit zielgerichtet darauf hingewirkt, ein Verfahren in seiner Zuständigkeit zur Entscheidung zu bekommen, dessen Ergebnis von vornherein vorgefasst war (RdNr. 40). Darin liegt ein elementarer Verstoß gegen das Prinzip richterlicher Unparteilichkeit.
7. R hat sich als Familienrichter für zuständig erklärt, Maskenverbote an Schulen anzuordnen. Später wurde obergerichtlich geurteilt, dass für solche Maßnahmen allein die Verwaltungsgerichte zuständig sind. Ist dieser Verstoß gegen die Rechtswegzuständigkeit ein (weiterer) elementarer Verfahrensverstoß?
Nein, das ist nicht der Fall!
Familiengerichte können nach § 1666 Abs. 1, Abs. 4 BGB bei Gefährdung des Kindeswohls Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr treffen. Auf Grundlage dieser Norm traf auch R die einstweilige Anordnung.Wird die Aufhebung der Maskenpflicht an einer Schule begehrt, handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Für diese ist nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Daneben sind die Familiengerichte nicht zuständig: Der § 1666 BGB zielt vor allem darauf, Personensorgeberechtigte zur Einhaltung der Schutzpflichten gegenüber dem Kind anzuhalten. Maßnahmen gegenüber Behörden dürfen jedoch auch nach § 1666 Abs. 4 BGB nicht getroffen werden (BGH, Beschl. v. 06.10.2021 - XII ARZ 35/21 = NJW 2021, 3470).Zum Tatzeitpunkt handelte es sich hierbei um eine ungeklärte Rechtsfrage. Deswegen liegt in der Annahme der Zuständigkeit kein elementarer Verfahrensverstoß. Aus diesem Grund ließ der BGH Rs Verstoß gegen die Rechtswegzuständigkeit in seiner Gesambewertung unberücksichtigt.
8. Noch während R auf der Suche nach „geeigneten” Eltern war, hat er Kontakt zu Sachverständigen aufgenommen, die die Coronamaßnahmen ablehnen. Im Verfahren ließ sich R die Gutachten von diesen vorab auf seine private Mailadresse schicken, ohne dies in den Akten zu vermerken. Liegt darin ein elementarer Verstoß gegen Verfahrensvorschriften?
Ja, in der Tat!
Sachverständige sind im laufenden Verfahren nach Ermessen des Gerichts auszuwählen, §§ 29, 30 Abs. 1 FamFG. Das Gericht ist gehalten, sich dabei an der Fachkompetenz zu orientieren. Haben mehrere Sachverständige die erforderliche Expertise, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßen Ermessen frei darüber, wer ein Gutachten erstellen soll. Der Richter darf die Wahl nicht aus sachfremden - etwa parteipolitischen, persönlichen oder außerdienstlichen - Motiven treffen (RdNr. 43).R wählte die Sachverständigen bereits vor dem laufenden Verfahren aus. Diese Auswahl erfolgte ergebnisorientiert und nach Maßgabe der mit seiner vorgefassten Auffassung konformen wissenschaftlichen Überzeugung (RdNr. 44). Dabei versuchte er sein Vorgehen zu verschleiern. Auch darin liegen elementare Verfahrensverstöße.
9. R hörte weder die Eltern der anderen Kinder, noch die Kinder an den betroffenen Schulen selbst an. Kann auch im nicht erteilten rechtlichen Gehör ein Verfahrensverstoß liegen?
Ja!
R untersagte die Maskenpflicht an zwei Schulen per einstweiliger Anordnung, § 1666 Abs. 4 BGB, § 49 ff FamFG. Vor dieser Entscheidung wäre eine Anhörung der betroffenen Kinder und Eltern nach §§ 159 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 160 Abs. 1 S. 2 FamFG a.F. erforderlich gewesen. In dem Unterlassen dieser Anhörung liegt nach BGH ein erheblicher Gehörsverstoß. R hörte auch keine Vertretung für den Freistaat Thüringen an, worin ebenfalls ein Verfahrensverstoß liegt.
Dieses vertiefte prozessuale Wissen wird in der Klausur nicht von dir verlangt. Sollte aber auf bestimmte Prozessnormen explizit hingewiesen werden, solltest Du diese genau lesen und einen etwaigen (elementaren) Verfahrensverstoß diskutieren.
10. Sind Rs festgestellte Verstöße gegen das Verfahrensrecht in ihrer Gesamtheit elementar?
Genau, so ist das!
R hat ein Verfahren unter Umgehung prozessualer Sicherungsmaßnahmen gegen eine Entscheidung des Richters in eigener Sache planmäßig an sich gezogen, um eine von Beginn an vorgefasste Entscheidung zu treffen. Das ist laut BGH ein massiver Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Richters. R missbrauchte so die ihm als Richter durch die Verfassung zugesprochene Machtposition und hat das Recht objektiv gebeugt (RdNr. 49).Irrelevant ist, ob R dadurch tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung verhindern wollte. Das entbindet ihn nicht von der Pflicht zu einer die Rechte sämtlicher Beteiligter wahrenden unvoreingenommenen Verfahrensführung (RdNr. 49).
11. R hat auch zugunsten bzw. zum Nachteil von Verfahrensbeteiligten gehandelt.
Ja, in der Tat!
Der Richter muss sich im Rahmen des § 339 StGB bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernen.
Zugunsten oder zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten wirkt sich eine Rechtsbeugung aus, wenn sie den Beteiligten besser oder schlechter stellt, als er bei richtiger Rechtsanwendung stünde.Durch Rs fehlende Neutralität bestand die (auch verwirklichte Gefahr), dass Einwände anderer Verfahrensbeteiligter gegen Rs vorgefasste Meinung nicht in das Verfahren einbezogen wurden. Dadurch ist ein Vorteil ist für die Eltern eingetreten, die das Verfahren angeregt haben. Durch den verfahrenswidrigen Erlass der einstweiligen Anordnung ist zudem ein prozessualer Nachteil für das Land eingetreten, das die Maskenpflicht erlassen hatte.
12. Im subjektiven Tatbestand genügt bei § 339 StGB bereits bedingter Vorsatz.
Nein!
§ 339 StGB verlangt auf subjektiver Tatseite, dass sich der Richter bewusst in schwerwiegender Weise von Recht
und Gesetz entfernt (RdNr. 34). Der Täter muss die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht für möglich halten und billigend in Kauf nehmen, sowie
sich der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel
für die Verwirklichung von Recht und Gesetz bewusst sein.R hat die Verfahrensvorschriften bewusst missachtet. Er handelte vorsätzlich bezüglich seiner Befangenheit und kannte auch die Bedeutung der richterlichen Neutralitätspflicht.R handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.
13. R wurde für die Tat rechtskräftig zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Hat diese Verurteilung für R auch statusrechtliche Konsequenzen in seiner Position als Richter?
Genau, so ist das!
R wurde für eine vorsätzliche Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt. Infolgedessen endet das Richterverhältnis kraft Gesetzes (§ 24 Nr. 1 DRiG). Damit geht auch einher, dass R seine gesamten Pensionsansprüche verliert. Im Originalfall wurde R schon nach Erhebung der Anklage vorläufig vom Dienst suspendiert.