Pflegeversicherung wegen unzureichender Besserstellung von kinderreichen Familien verfassungswidrig (BVerfG, Beschl. v. 07.04.2022 - 1 BvL 3/18 u.a.)


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Die E sind Eltern von vier Kindern. Sie sind bei einer gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung (V) und der sozialen Pflegeversicherung (P) versichert. E beantragen bei P, ihren Versicherungsbeitrag wegen der von ihnen erbrachten Erziehungsleistungen zu verringern. P lehnt ab.

Einordnung des Falls

Pflegeversicherung wegen unzureichender Besserstellung von kinderreichen Familien verfassungswidrig (BVerfG, Beschl. v. 07.04.2022 - 1 BvL 3/18 u.a.)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E erheben Klage vor dem Sozialgericht (S). Dieses bestätigt, P habe die §§ 55, 57 SGB XI korrekt auf E angewandt, hält diese Normen aber für verfassungswidrig. Kann S deshalb das BVerfG anrufen?

Ja!

Das BVerfG ist zuständig für das abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und das konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrollverfahren. Die abstrakte Normenkontrolle können Bundesregierung, Landesregierungen und ein Viertel der Bundestagsmitglieder anstrengen. Eine konkrete Normenkontrolle können Gerichte vor das BVerfG bringen, wenn sie eine Norm für verfassungswidrig halten, die für ihr konkretes Verfahren entscheidungserheblich ist. S möchte dem BVerfG die §§ 55, 57 SGB XI mit der Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit vorlegen. S verlangt also eine verfassungsrechtliche Normenkontrolle. Bei S handelt es sich um ein Gericht im Sinne des Art. 100 GG. S verlangt die Normenkontrolle, um abschließend zu klären, ob es im Verfahren der E die §§ 55, 57 SGB XI in aktuell geltender Form verfassungsgemäß anwenden kann. Das konkrete Normenkontrollverfahren ist statthaft, S kann das BVerfG anrufen. Konkrete Normenkontrollen nach § 100 Abs. 1 GG sind im 1. Staatsexamen selten, aber keineswegs ausgeschlossen. Kommt eine konkrete Normenkontrolle dran, solltest Du die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen beherrschen.

2. Die §§ 55, 57 SGB XI sind taugliche Antragsgegenstände.

Genau, so ist das!

Tauglicher Antragsgegenstand für die konkrete Normenkontrolle sind „Gesetze“. Das sind im Rahmen des Art. 100 Abs. 1 GG nur formelle und nachkonstitutionelle Landes- oder Bundesgesetze. Gesetze in ihrer Gesamtheit sind nicht vorlagetauglich, sondern nur konkrete Bestimmungen (RdNr. 213). Die §§ 55, 57 SGB XI sind konkrete Normen, die vom Bundestag nach 1949 beschlossen wurden. Es handelt sich um nachkonstitutionelles, formelles Bundesrecht, also um einen tauglichen Antragsgegenstand. Das SGB XI enthält über die materiellen Beitragsnormen der §§ 55, 57 SGB XI hinaus auch prozessrechtliche Normen zur Beitragserhebung. Diese müssen dem BVerfG aber nicht vorgelegt werden, da sie im Fall der Verfassungswidrigkeit der materiellen Bestimmungen automatisch gegenstandslos werden (RdNr. 213).

3. S hätte, statt die Normen dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen, die §§ 55, 57 SGB XI im Verfahren zwischen E und P auch einfach unberücksichtigt lassen und ohne Anrufung des BVerfG entscheiden können.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Gericht muss das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des BVerfG einholen, wenn es von der Verfassungswidrigkeit einer entscheidungserheblichen Norm überzeugt ist und es auf die Gültigkeit dieser Norm für sein Verfahren ankommt (sogenannte Entscheidungserheblichkeit). Das Gericht muss darlegen, dass und weshalb es im Falle der Unwirksamkeit der Norm zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle der Wirksamkeit der Norm. S war zur Vorlage verpflichtet. In der konkreten Normenkontrolle ist nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG erforderlich, dass das Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Zweifel reichen nicht aus. Anders als bei der abstrakten Normenkontrolle ist dies auch unstreitig (vergleiche § 76 BVerfGG mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG).

4. S hält es für verfassungswidrig, dass für die Pflegeversicherung die Beiträge für Eltern unabhängig von ihrer Kinderzahl gleich hoch sind. Ist diese Frage entscheidungserheblich?

Ja!

Sollten die entsprechenden SGB XI-Normen verfassungswidrig sein, dürfte S sie im Verfahren zwischen E und P nicht anwenden. S müsste auf eine Neuregelung durch den Gesetzgeber warten. Es besteht in dem Fall zumindest die Möglichkeit auf eine für E günstigere Neuregelung. Die Frage ist entscheidungserheblich. S hatte im Originalfall auch ausreichend begründet, warum es die Regelung für verfassungswidrig, also für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG, hält. Alle Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG sind erfüllt. Das konkrete Normenkontrollverfahren ist zulässig.

5. Die konkrete Normenkontrolle ist begründet, wenn die §§ 55, 57 SGB XI – also die gleichhohe Beitragsbelastung von Eltern unabhängig von der Kinderanzahl – gleichheitswidrig sind und gegen das Grundgesetz verstoßen.

Genau, so ist das!

So könnte Dein Obersatz lauten. Im Rahmen der Begründetheit der konkreten Normenkontrolle wird geprüft, ob die entscheidungserheblichen Normen verfassungswidrig sind. Es handelt sich um eine objektivierte Rechtsprüfung.

6. Das Gebot der Belastungsgleichheit, das sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt, erfordert absolute Gleichheit, Differenzierungen sind nie zulässig.

Nein, das trifft nicht zu!

Die §§ 55, 57 SGB XI könnten verfassungswidrig sein, sofern sie gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Die Normen sind dabei daran zu messen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind: gleiche Sachverhalte sind grundsätzlich gleich und ungleiche Sachverhalte grundsätzlich ungleich zu behandeln. Dabei ist aber nicht jede Differenzierung von Gleichem und jede Gleichbehandlung von Ungleichem verboten (RdNr. 239). Stattdessen bedürfen diese jeweils einer hinreichenden Rechtfertigung. Das Gebot der Belastungsgleichheit schließt also nicht von vornherein jede Differenzierung aus. Es verbietet nur Differenzierungen und fehlerhafte Gleichbehandlungen, die die bedeutsamen (Un)Gleichheiten der Vergleichsgruppen nicht berücksichtigen (RdNr. 241). Die Vergleichsgruppen, die hier anhand von Art. 3 Abs. 1 GG begutachtet werden, sind (1) Eltern mit einem Kind und (2) Eltern mit mehreren Kindern.

7. Eltern jeder Kinderanzahl werden in der Pflegeversicherung gleich entlastet (Gleichbehandlung). Besteht aber für Eltern mit mehr als einem Kind ein relevantes größeres Armutsrisiko (ungleiche Gruppen)?

Nein!

Die Pflegeversicherung entlastet Eltern, indem kinderlose Versicherte einen höheren Versicherungsbeitrag zahlen müssen. Gründe dafür: (1) Eltern tragen bereits die Kostenlast der Kindererziehung; (2) Eltern leisten einen immateriellen Beitrag zum Erhalt des Versicherungssystems (RdNr. 245, 247); (3) Eltern verzichten mit der Kindererziehung auf Konsum und Vermögensbildung (RdNr. 246). Dieses System beruht auf dem Pflegeversicherungsurteil BVerfGE 103, 242. Hiernach sollen Eltern ab dem ersten Kind entlastet werden (RdNr. 272). Die Gleichbehandlung von Eltern mit unterschiedlicher Kinderanzahl ist nur problematisch, wenn die beiden Gruppen wesentlich ungleich sind. Die Ungleichheit könnte sich aus einem höheren Armutsrisiko kinderreicher Familien ergeben. In kinderreichen Familien haben Mütter häufig eine geringere Erwerbsquote, was das Familieneinkommen verringert; gleichzeitig müssen mehr Personen vom Familieneinkommen leben (RdNr. 251). Dieser Unterschied ist allerdings nicht gleichheitsrechtlich relevant: Die Sozialversicherung beruht auf dem Gegenleistungsprinzip, die Beiträge finanzieren den konkreten Versicherungsschutz der Familienmitglieder (RdNr. 253). Der Gesetzgeber ist frei, das menschenwürdige Existenzminimum anders zu gewährleisten, z.B. mit Aufstockungen (RdNr. 253). Das Armutsrisiko ist nach Ansicht des BVerfG bei der Betrachtung der Gleichheit der Gruppen also irrelevant.

8. Eltern jeder Kinderanzahl werden in der Pflegeversicherung gleich entlastet (Gleichbehandlung). Besteht aber für Eltern mit mehr als einem Kind ein relevanter größerer Erziehungsaufwand (ungleiche Gruppen)?

Genau, so ist das!

Dass Eltern mit unterschiedlicher Kinderanzahl in der Pflegeversicherung gleich entlastet und damit gleichbehandelt werden, ist nur problematisch, wenn die beiden Gruppen im Wesentlichen ungleich sind. Der Unterschied könnte sich aus einem höheren Erziehungsaufwand kinderreicher Familien ergeben. Kinderreiche Familien haben sowohl höhere tatsächliche Erziehungskosten und Konsumausgaben (RdNr. 257) als auch geringere Erwerbs- und Versorgungschancen, z.B. durch Teilzeitarbeit und Erwerbslosigkeit (RdNr. 258). Folglich haben sie einen höheren Erziehungsgesamtaufwand, der sich nicht in der Versicherungsentlastung widerspiegelt. Die Gruppen sind daher wesentlich ungleich. Dabei berücksichtigte das BVerfG, dass die höheren Realkosten teilweise durch Kindergeld, die geringeren Versorgungschancen teilweise durch das Elterngeld aufgefangen werden (RdNr. 261f). Das änderte das Ergebnis nach Ansicht des BVerfG aber nicht.

9. Die fehlerhafte Gleichbehandlung der ungleichen Gruppen von Eltern ist verfassungskonform, wenn sie innerhalb des Systems der Pflegeversicherung kompensiert wird.

Ja, in der Tat!

Die Gleichbehandlung ungleicher Gruppen verstößt dann nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die ungerechtfertigte Gleichbehandlung im System selbst kompensiert und ausgeglichen wird. Kinderreiche Familien werden trotz ihres höheren finanziellen Erziehungsaufwands im selben Maß von der Pflegeversicherung entlastet wie Eltern von einem Kind (RdNr. 270). Zwar werden durch den Versicherungsbeitrag alle Kinder in der Pflegeversicherung mitversichert. Dies kann den finanziellen Nachteil aber nicht komplett aufwiegen, da Kinder verhältnismäßig selten pflegebedürftig werden (RdNr. 275). Auch dass die Kinder – im Fall der Pflegebedürftigkeit der Eltern – abgesichert werden, ist keine Kompensation für den Erziehungsaufwand, sondern eine Pflegeleistung für die Eltern (RdNr. 276). Folglich wird die fehlerhafte Gleichbehandlung nicht ausgeglichen.

10. Die Gleichbehandlung ungleicher Gruppen müsste daher gerechtfertigt sein. Ist es für eine Rechtfertigung immer ausreichend, dass die Gleichbehandlung einen sachlichen Grund verfolgt?

Nein!

Für die Rechtfertigung einer fehlerhaften Gleichbehandlung im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG reichte früher durchweg ein sachlicher Grund aus, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung war nicht erforderlich. Nach neuerer Rechtsprechung legt das BVerfG einen strengeren Maßstab an und unterwirft gleichheitswidrige (Un)Gleichbehandlungen einer umfangreichen Verhältnismäßigkeitsprüfung (sogenannte „neue Formel“) (RdNr. 279). Die neue Formel muss (jedenfalls) herangezogen werden bei (1) personenbezogener fehlerhafter Gleichbehandlung, (2) besonders intensiver fehlerhafter Gleichbehandlung, (3) fehlerhafter Ungleichbehandlung, die sich besonders stark auf ein Freiheitsrecht auswirkt. Sollte Deine Klausur im Art. 3 GG spielen, kannst Du davon ausgehen, dass Du beim Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung der gleichheitswidrigen (Un)Gleichbehandlung die „neue Formel“ des BVerfG zumindest erörtern und ganz überwiegend auch anwenden musst.

11. Für die Rechtfertigung der fehlerhaften Gleichbehandlung von Eltern mit einem und Eltern mit mehreren Kindern genügt das Vorliegen eines sachlichen Grundes.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Gleichbehandlung von Familien mit einem Kind und Familien mit mehreren Kindern berührt Art. 6 Abs. 1 GG, den Schutz der Familie. BVerfG: Das Beitragssystem der Sozialversicherung soll insgesamt Familien begünstigen, doch innerhalb der Gruppe benachteiligt die Regelung Familien umso intensiver, je mehr Kinder sie erziehen. Da nach dem Pflegeversicherungsurteil Familien ab dem ersten Kind entlastet werden müssen, greift ab dem zweiten Kind eine relative Schlechterstellung. Der Staat muss die freie Entscheidung von Eltern, wie viele Kinder sie haben wollen, achten und darf sie ihnen nicht vorhalten. Mit dem gleichheitswidrigen Beitragssystem berührt der Staat also Art. 6 Abs. 1 GG. Folglich bedarf es zur Rechtfertigung der fehlerhaften Gleichbehandlung nach der neuen Formel eine umfangreiche Verhältnismäßigkeitsprüfung (RdNr. 284ff.). Dieser hält die Ungleichbehandlung von kinderreichen Familien nicht stand (RdNr. 313ff.). Der Fall ist sehr komplex und thematisch eher abseitig. Das macht ihn aber für eine atypische Klausur im 1. Staatsexamen interessant. Im Klausursachverhalt wären umfangreiche Informationen zum Versicherungssystem enthalten. Hier käme es dann auf eine saubere Vergleichsgruppenbildung und die Anwendung der „neuen Formel“ des BVerfG an.

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