Was ist die historische Auslegung?

23. Juni 2025

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Jurafuchs

Lawra (L) quält sich in den Semesterferien durch eine Hausarbeit in ihrem Hassfach Strafrecht. An einer Stelle muss L sich genauer damit befassen, wie der Begriff „Glied des Körpers“ in § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu verstehen ist. Clara (C) hilft L bei der Auslegung.

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Einordnung des Falls

Was ist die historische Auslegung?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L meint, dass schon nach dem Wortlaut der Norm völlig klar ist, dass die Vorschrift sämtliche Körperteile erfasst. Wird C ihr zustimmen?

Nein, das trifft nicht zu!

Ausgangspunkt für jede Auslegung ist i.d.R. der Wortlaut einer Norm bzw. eines bestimmten Begriffs. Bei der Wortlautauslegung geht man zunächst vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Als „Glied“ versteht der Duden ein (bei Mensch und Tier) bewegliches, durch ein Gelenk mit dem Rumpf verbundenes Körperteil. In § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB steht gerade nicht „Körperteil“, sondern lediglich „Glied eines Körpers“. Aus dieser Gegenüberstellung der verschiedenen Begriffe ergibt sich, dass nach dem Wortlaut der Norm gerade nicht sämtliche Körperteile erfasst sind. Vielmehr ist der Wortlaut der Norm dahingehend auszulegen, dass innere Körperteile (wie z.B. eine Niere) nicht von der Norm erfasst sind. So die Rspr. des BGH (BGH, Urt. v. 15.08.1978, Az.: 1 StR 356/78; BGHSt 28, 100): „Wollte man ein inneres Organ als „Glied“ bezeichnen, so würde das die Grenze einer zulässigen Wortauslegung überschreiten.“
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2. Für L ist nicht nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber wirklich bestimmte Körperteile vom Anwendungsbereich des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausschließen wollte. C meint, L solle mal in die Gesetzesbegründung schauen. Darf L diese grundsätzlich für ihre Auslegung verwenden?

Ja!

Die historische Auslegung gehört zu den vier klassischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Historie, Telos). Die historische Auslegung fragt danach, was der Gesetzgeber mit einer Norm ursprünglich bezwecken wollte. Sie bemüht sich darum, aus der Entstehungsgeschichte der auszulegenden Norm oder aus den Vorläufernormen sinnvolle Hinweise zu gewinnen. Herangezogen werden dafür z.B. Gesetzesmaterialien, Motive, Entwurfsbegründungen und die damalige sprachliche Bedeutung eines Begriffs. Die historische Auslegung dient also dazu, den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers zu erfassen und gesetzliche Begriffe im Lichte ihrer Entstehung zu verstehen. Sie ist insbesondere dann hilfreich, wenn der Wortlaut mehrdeutig oder unklar ist. In einer Klausur kannst Du diese Auslegungsmethode häufig nicht verwenden, weil Dir die hierzu erforderlichen Informationen nicht zur Verfügung stehen. Wenn Du aber etwas zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes weißt, kannst Du hiermit natürlich „extra punkten“. Sollte in einer Klausur aber einmal eine Gesetzesbegründung abgedruckt sein, ist das ein Zeichen dafür, dass Du die Norm historisch auslegen und Dich mit der Begründung auseinandersetzen sollst.

3. L findet bei ihrer Recherche eine Gesetzesbegründung, nach der die Formulierung „ein wichtiges Glied verstümmeln“ vorgeschlagen wurde. Spricht der Begriff der Verstümmelung dafür, dass auch innere Organe von § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfasst sein sollten?

Nein, das ist nicht der Fall!

Einzelne Begriffe aus Gesetzesmaterialien oder Vorentwürfen können bei der Auslegung helfen – sie sind aber stets im Kontext und mit Vorsicht zu bewerten. Der Begriff „Verstümmelung“ stammt bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die grobe, meist sichtbare Zerstörung eines äußerlich wahrnehmbaren Körperteils. Auch im historischen Zusammenhang wurde der Begriff regelmäßig im Zusammenhang mit Gliedmaßen wie Händen, Armen oder Beinen verwendet – nicht mit inneren Organen. Dass in einem Entwurf der Begriff „verstümmeln“ verwendet wurde, zeigt gerade nicht, dass der Gesetzgeber auch innere Organe vom Anwendungsbereich des § 226 erfassen wollte. Vielmehr passt der Begriff gerade zur engen Auslegung, wonach ein „Glied“ ein beweglicher, äußerer Körperteil ist. Die Verwendung des Begriffs stützt daher die enge Auslegung und spricht gegen eine Ausdehnung auf innere Organe. Dieser Punkt ist mittlerweile nicht mehr strittig. Uneinigkeit besteht aber bei der Frage, ob das Glied durch ein Gelenk mit dem Körper verbunden sein muss (so Teile der Lit.) oder es darauf nicht notwendigerweise ankommt (so der BGH).
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