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Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?

Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?

25. Juni 2025

1 Kommentar

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A hat die somalische Staatsangehörigkeit und reist in die EU ein. Am 09.05.2025 stellt sie einen schriftlichen Asylantrag und versucht, über die deutsch-polnische Grenze in das Bundesgebiet zu gelangen. Die Bundespolizei verweigerte die Einreise gestützt auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG mit der Begründung, A reise aus Polen, einem sicheren Drittstaat, ein.

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Einordnung des Falls

Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A begehrt, dass ihr vorläufig der Grenzübertritt in die BRD gestattet wird. Ist die einstweilige Sicherungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO) die statthafte Rechtsschutzform?

Nein!

Die statthafte Rechtsschutzform richtet sich nach dem Begehren der Antragstellerin (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO). Die einstweilige Sicherungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO) ist statthaft, wenn der Antragsteller die Sicherung des gegenwärtigen Zustands (status quo) begehrt. VG Berlin (RdNr. 26): Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin ist dahingehend auszulegen, dass sie begehrt, vorläufig die Grenze übertreten zu dürfen, damit ein Asylverfahren, oder zunächst ein Dublin-Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaat, eingeleitet werden kann. Damit begehrt sie eine Erweiterung ihres Rechtskreises und gerade nicht die Sicherung des gegenwärtigen Zustandes. Statthaft ist mithin die einstweilige Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO).Im einstweiligen Rechtsschutz sind nach § 123 Abs. 5 VwGO die §§ 80, 80a VwGO vorrangig gegenüber § 123 Abs. 1 VwGO anzuwenden. Hier steht aber kein vorrangier Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO entgegen: Zwar ist die Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG). Allerdings ist das Rechtsschutzziel der Antragstellerin nicht darauf beschränkt, die Wirkungen dieses Bescheids zu hemmen. Sie begehrt darüber hinaus die Gestattung der (vorläufigen) Einreise bzw. Durchführung eines Asylverfahrens oder zunächst Dublin-Verfahrens. (RdNr. 28)
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2. Die Begründetheit des Antrags auf eine einstweilige Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) setzt nur voraus, dass ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht wird.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) ist begründet, soweit die Antragstellerin einen Anordnungsgrund sowie einen Anordnungsanspruch glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Zudem darf grundsätzlich keine Vorwegnahme der Hauptsache erfolgen. Anordnungsanspruch meint den materiell-rechtlichen Anspruch, den der Antragsteller verfolgt, der durch den Erlass der einstweiligen Anordnung gesichert oder vorläufig gewährt werden soll. Der Anordnungsgrund betrifft das zeitliche Moment und liegt vor, wenn eine besondere Eilbedürftigkeit besteht. Im Rahmen der Regelungsanordnung besteht der Anordnungsgrund dann, wenn der Erlass der Regelungsanordnung notwendig ist, um erhebliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO). „Glaubhaftmachen“ betrifft die Frage des Beweismaßes: Während im Hauptsacheverfahren das Verwaltungsgericht den Sachverhalt bis zur Erlangung seiner Überzeugung (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO) aufzuklären hat, genügt im vorläufigen Rechtsschutz, dass die tatsächlichen Umstände, aus denen sich Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ergeben, glaubhaft gemacht, d.h. überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. § 294 ZPO). Für Deine Klausur ergibt sich hieraus jedoch kein Unterschied. As Antrag war zulässig. Wir prüfen hier schwerpunktmäßig die Begründetheit. Mehr zu § 123 VwGO findest Du in unserem Kurs zur VwGO.

3. Eine Entscheidung würde die Hauptsache hier bereits vollständig vorwegnehmen. Ist der Antrag deshalb zwingend unbegründet?

Nein, das trifft nicht zu!

Grundsätzlich gilt das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache: Es dürfen keine Anordnungen ergehen, die die Hauptsache gegenstandslos machen würden, da die begehrte Rechtsposition bereits endgültig eingeräumt wird. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kann aber nach st.Rspr. ausnahmsweise wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) zulässig sein, wenn ein Obsiegen in Hauptsache höchstwahrscheinlich ist und ansonsten nicht mehr zu beseitigende Nachteile entstünden. Würde der A nicht im Wege der einstweiligen Anordnung der vorläufige Grenzübertritt zur Einleitung eines Asylverfahrens gestattet, könnten ihr schwere, unzumutbare Nachteile drohen. Es besteht nämlich das reale Risiko, dass sie in absehbarer Zeit ohne Durchführung eines Verfahrens zurückgeführt wird. Wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) ist die Vorwegnahme der Hauptsache hier deshalb ausnahmsweise zulässig (RdNr. 31).

4. A ist der Ansicht, die Zurückweisung an der Grenze war rechtswidrig. Könnte sich As Anordnungsanspruch aus einem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch ergeben?

Ja!

Bei dem Folgenbeseitigungsanspruch (FBA) handelt es sich um eine ungeschriebene öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage. Sie ist auf die Beseitigung der rechtswidrigen Folgen hoheitlichen Handelns gerichtet. Hergeleitet wird der Folgenbeseitigungsanspruch teilweise aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), nach anderer Ansicht aus der Abwehrfunktion der Grundrechte oder aus §§ 12, 862, 1004 BGB analog. Jedenfalls sind der Folgenbeseitigungsanspruch sowie seine Voraussetzungen gewohnheitsrechtlich anerkannt. Die Voraussetzungen des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs (FBA) kannst Du wie folgt prüfen: (1) Hoheitliches Handeln, (2) Eingriff in subjektives Recht, (3) Fortdauernder, rechtswidriger Zustand, (4) kein Ausschluss des FBA: Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands möglich, zulässig, zumutbar.

5. Bei der Zurückweisung an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei handelt es sich um ein hoheitliches Handeln. Müsste dieses Handeln auch einen Eingriff in ein subjektives Recht der A begründen?

Genau, so ist das!

Der FBA setzt zunächst einen Eingriff in ein subjektives Recht durch hoheitliches Handeln voraus. Gemäß Art. 3 Abs. 1 der unionsrechtlichen Dublin-III-Verordnung prüfen die Mitgliedsstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats wird gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Damit besteht nach der Dublin-III-VO ein grundsätzlicher (subjektiver) Anspruch auf Prüfung internationalen Schutzes. Die Dublin-III-Verordnung erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung des darin geregelten vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (RdNr. 49). Die Zurückweisung durch die Polizei (= hoheitliches Handeln) hat es für A unmöglich gemacht, ihren Anspruch auf ein Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung durchsetzen zu können (= Eingriff in ein subjektives Recht). Verordnungen – wie die Dublin-III-VO – sind Rechtsakte der EU (vgl. zu den verschiedenen Arten von Rechtsakten der EU Art. 288 AEUV), die in den Mitgliedsstaaten unmittelbare Anwendung finden (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Anders liegt es bei Richtlinien, die grundsätzlich erst einer Umsetzung in nationales Recht bedürfen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Die Dublin-III-VO findet in Deutschland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union also unmittelbare Anwendung.

6. Die Bundespolizei hat in As subjektives Recht eingegriffen. Besteht damit der Folgenbeseitigungsanspruch?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Folgenbeseitigungsanspruch setzt voraus, dass durch den hoheitlichen Eingriff ein andauernder, rechtswidriger Zustand eingetreten ist. Dies ist nicht der Fall, soweit der Eingriff gerechtfertigt war. Die Zurückweisung von A an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei könnte gerechtfertigt gewesen sein, wenn sie durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt war. Hier kommt eine Rechtfertigung der Zurückweisung insbesondere auf Grundlage von § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG in Betracht, auf den die Bundespolizei die Einreiseverweigerung auch stützte (RdNr. 35ff.). In der Klausur wirst Du in der Regel ausreichend Hinweise bekommen, woraus sich die Rechtfertigung des Eingriffs ergeben könnte.

7. Möglicherweise könnte die Zurückweisung auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gestützt werden, da A aus Polen – einem sicheren Drittstaat – angereist ist.

Ja!

Nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG ist einem Ausländer, der bei einer Grenzbehörde um Asyl sucht, die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat nach § 26a AsylG einreist. A hat hier bei der Bundespolizei als Grenzbehörde ein Asylgesuch geäußert (vgl. § 13 Abs. 1 AsylG). Sie kam aus Polen, das nach nach § 26a Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG als Mitgliedstaat der Europäischen Union ein sicherer Drittstaat ist (RdNr. 36). Damit ist der Anwendungsbereich von § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG eröffnet und eine Zurückweisung der A war auf dieser Grundlage grundsätzlich möglich.

8. Die Dublin-III-VO der EU erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung eines vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats für den Asylantrag. Steht dies im Widerspruch zu § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG?

Genau, so ist das!

Nach der Dublin-III-VO kann eine Rückführungsentscheidung eines Asylsuchenden erst getroffen werden, nachdem ein vollständiges Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz erfolgt ist. Dieses wird häufig als Dublin-Verfahren bezeichnet und wird gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO eingeleitet, sobald in einem Mitgliedsstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. A hat im Hoheitsgebiet der BRD (Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO) ein Asylgesuch geäußert. Ihr Schutzgesuch ist ein unionsrechtlich wirksamen Antrag auf internationalen Schutz dar, der das Dublin-Verfahren auslöst (RdNr. 48). Dass sie an der Grenze unmittelbar, ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens, zurückgewiesen wurde, ist folglich mit der Dublin-III-VO unvereinbar. Anliegen des Dublin-Systems ist es, einer „refugee in orbit“-Situation vorzubeugen, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht (RdNr. 52). Bevor ein Mitgliedsstaat einen Asylsuchenden zurückweist, muss die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats positiv festgestellt werden. Da das hier nicht erfolgt ist, liegt ein Verstoß gegen die Verordnung vor.

9. Die europäische Dublin-III-VO genießt gegenüber dem deutschen Asylgesetz einen Anwendungsvorrang.

Ja, in der Tat!

Da die Anwendung von § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG hier im Widerspruch zur Dublin-III-VO steht, musst Du die Frage diskutieren, in welchem Verhältnis die beiden Normen zueinander stehen. Denn: Wenn das nationale Recht Vorrang genießen würde, könnte der Eingriff auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gestützt werden. Als Grundregel gilt: Das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht. Das bedeutet, eine nationale Norm – auch Verfassungsrecht - darf nicht angewendet werden, soweit sie gegen Unionsrecht verstößt. Die nationale Norm wird durch die unionsrechtliche Norm verdrängt, ist aber im Übrigen nicht nichtig. Hier darf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG nicht angewendet werden, da die Dublin-III-VO den Anwendungsvorrang genießt. Vom Anwendungsvorrang zu unterscheiden ist der Geltungsvorrang. Dieser gilt etwa im Verhältnis von Verfassungsrecht (GG) zu einfachem Recht und besagt, dass höherrangiges Recht das nachrangige Recht verdrängt und dessen Geltung aufhebt. Das rangniedrigere einfache Recht, das gegen ranghöheres Recht verstößt, ist nichtig. Dies ist im Verhältnis von EU- und nationalem Recht gerade nicht der Fall. Das nationale Recht, das gegen EU-Recht verstößt, bleibt wirksam, darf in grenzüberschreitenden Sachverhalten aber nicht angewandt werden.

10. Die Zurückweisung darf nicht auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gestützt werden. Könnte sich ein Rechtfertigungsgrund grundsätzlich aus Art. 72 AEUV ergeben?

Ja!

Zur Erinnerung: Wir befinden uns noch in der Prüfung, ob ein andauernder, rechtswidriger Zustand vorliegt. Das wäre nicht der Fall, wenn die Zurückweisung der A – und damit der festgestellte Verstoß gegen die Dublin-III-VO gerechtfertigt wäre. Nach Art. 72 AEUV berührt Titel V des Vertrages nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Der Titel V des AEUV sieht in Art. 78 Abs. 1 AEUV die Entwicklung einer gemeinsamen Politik im Bereich Asyl vor, hierunter fällt auch die Dublin-III-Verordnung. Das heißt, Art. 72 AEUV ermöglicht den Mitgliedsstaaten zum Schutz der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit von den Regelungen in diesem Bereich abzuweichen. Als Ausnahmevorschrift ist Art. 72 AEUV eng auszulegen. Der sich darauf berufende Mitgliedsstaat muss konkrete Gründe darlegen, weshalb Abweichung vom geltenden Sekundärrecht erforderlich ist (RdNr. 59). Hier musst Du also prüfen, ob die Zurückweisung der A der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung der BRD dient. Dann könnte Art. 72 AEUV rechtfertigen, dass die BRD mit Grenzabweisungen gegen die Dublin-III-VO als geltendes Unionsrecht verstößt.

11. Kannst Du für die Definition der öffentlichen Ordnung in Art. 72 AEUV einfach auf den Begriff der öffentlichen Ordnung nach deutschem Polizei- und Ordnungsrecht abstellen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zu Erinnerung: Wir prüfen, ob der Tatbestand des Art. 72 AEUV gegeben ist, sodass dieser hier als Rechtfertigung für die Zurückweisung herangezogen werden kann. Es wäre in der Klausur wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ein schwerer Fehler, im Kontext unionsrechtlicher Normen auf das nationale Verständnis einzelner Begriffe abzustellen! Der deutsche Begriff der öffentlichen Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird und ist damit sehr weit. Der europäische Begriff der öffentlichen Ordnung viel enger: Dieser ist nur berührt, wenn tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft betrifft. Das Funktionieren der Einrichtungen des Staates muss beeinträchtigt sein. So wird der Begriff der öffentlichen Ordnung auch in anderen Rechtfertigungsgründen des AEUV verstanden, etwa im Rahmen des Art. 36 AEUV für die Warenverkehrsfreiheit.

12. Allein eine hohe Anzahl an Asylanträgen in Deutschland begründet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 72 AEUV.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Bundesregierung argumentierte, dass Art. 72 AEUV deswegen einschlägig sei, weil Deutschland mit der Anzahl der gestellten Asylanträgen überfordert sei. Die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 72 AEUV ist berührt, wenn eine tatsächliche, gegenwärtige, hinreichend erhebliche und nicht anders abwendbare Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Funktionieren der Einrichtungen des Staates muss beeinträchtigt sein. Erforderlich ist eine Gesamtbetrachtung, die sich nicht auf numerische Werte etwa zu Asylantragszahlen oder Grenzübertritte beschränkt, ohne auszuführen, welche Auswirkungen dies für die Grundinteressen der Gesellschaft des Mitgliedstaats oder das Funktionieren seiner staatlichen Einrichtungen hat (RdNr. 62). VG Berlin: Hier wurde weder vorgetragen noch ist ersichtlich, dass aus hohen Asylbewerberzahlen allein und automatisch eine Situation folgt, aufgrund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre (RdNr. 63). Ebenso kann die BRD nicht die Vernachlässigung bestehender Pflichten seitens anderer Mitgliedsstaaten anführen, um sich nach Art. 72 AEUV zu rechtfertigen (RdNr. 63). Dies folgt aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (RdNr. 72). Auch kann die Nichtbeachtung der Dublin-III-VO auf eine vermeintliche Dysfunktionalität des europäischen Sekundärrechts im migrationsrelevanten Bereich gestützt werden (so argumentiert die BRD hier, RdNr. 55ff.).In einem Klausursachverhalt hättest Du entsprechende Argumente vorgegeben, die Du für und gegen das einer Gefahr i.S.v. Art. 72 AEUV abwägen müsstest.

13. Somit war die Zurückweisung an der Grenze nicht gerechtfertigt und begründet einen rechtswidrigen Zustand.

Ja!

Wiederholung: Die Zurückweisung von A an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei wäre rechtmäßig gewesen, wenn sie durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre. Hier ist kein Rechtfertigungsgrund für die Zurückweisung gegeben. § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG kommt als Rechtfertigungsgrund nicht in Betracht, da er wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts von den Vorgaben der Dublin-III-VO überlagert wird. Auch kommt Art. 72 AEUV nicht als Rechtfertigungsgrund in Betracht, da hier keine Gefahr für die öffentliche Ordnung der BRD besteht. Zudem dauert der rechtswidrige Zustand auch an, da A sich weiterhin vor der deutschen Grenze befindet, ohne dass ein Dublin-Verfahren eingeleitet wurde. Zudem ist die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands, nämlich die Gestattung des Grenzübertritts zur Einleitung eines Asyl- oder (zunächst) eines „Dublin-Verfahrens“ möglich, zulässig und zumutbar (RdNr. 77). Die Tatbestandsvoraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs sind somit erfüllt.

14. Rechtsfolge des Folgenbeseitigungsanspruchs ist die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands vor dem Zeitpunkt des rechtswidrigen Eingriffs.

Genau, so ist das!

Der Folgenbeseitigungsanspruch ist auf Rechtsfolgenseite gerichtet auf Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands. Der rechtmäßige Zustand ist hier, dass kein Verstoß gegen die Dublin-III-VO als Unionsrecht vorliegt. Der A ist somit der Grenzübertritt zu gestatten, um im Einklang mit der Dublin-III-VO zunächst ein „Dublin-Verfahren“ und dann ein Asylverfahren einleiten zu lassen. A hat damit einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Darüber hinaus besteht auch ein Anordnungsgrund (RdNr. 95): Es besteht die reale Gefahr, dass A in absehbarer Zeit ohne Durchführung eines Asylverfahrens zurückgeführt wird und unwiederbringliche Nachteile erleidet. Eine Einreise i.S.d. § 13 Abs. 1 AufenthG in die BRD kann A hingegen nicht aus dem Folgenbeseitigungsanspruch herleiten, da sie vor der Einreiseverweigerung noch nicht in das Bundesgebiet eingereist war (RdNr. 77). Ein Einreiseanspruch ergibt sich auch nicht auf anderer Rechtsgrundlage (RdNr. 79ff.). A hat somit (nur) einen Anspruch auf den Grenzübertritt und die Durchführung eines Dublin-Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats (RdNr. 78).

15. As Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) begründet.

Ja, in der Tat!

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) ist begründet, soweit die Antragstellerin einen Anordnungsgrund sowie einen Anordnungsanspruch glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). A hat Anordnungsanspruch (= öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch) sowie Anordnungsgrund (= Gefahr der Rückführung) glaubhaft gemacht. Ihr Antrag ist folglich begründet. Das VG Berlin verpflichtet die Antragsgegnerin (die BRD), A den Grenzübertritt zu gestatten und ein Dublin-Verfahren einzuleiten (RdNr. 1).

16. Die BRD argumentiert, dass die Entscheidung wenig aussagekräftig sei, da sie „nur“ im Eilverfahren getroffen wurde. Überzeugt dieses Argument, wenn man beachtet, dass das VG Berlin hier die Hauptsache vorweg genommen hat?

Nein!

Bei diesem Argument handelt es sich um eine „Nebelkerze“: Zwar entschied das VG Berlin hier im Eilverfahren. Allerdings hat es wegen der hier ausnahmsweise zulässigen Vorwegnahme der Hauptsache nicht nur summarisch geprüft, sondern in der Sache bereits „durch entschieden“. Es wurde A bereits das zugesprochen, was sie auch im Hauptsacheverfahren begehrt. Daher ist offen, ob es überhaupt noch zu einem Hauptsacheverfahren kommen wird. Dass es hier „nur“ um ein Eilverfahren ging, schmälert die Geltungskraft der Entscheidung also nicht.

17. Innenminister Dobrindt argumentierte nach der Entscheidung, dass es sich hierbei nur um einen „Einzelfall“ handele, der keine Bedeutung für die generelle Praxis der Bundespolizei an den Außengrenzen habe. Richtet sich die Bindungswirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 121 VwGO?

Genau, so ist das!

Wer sich in welchem Umfang an eine gerichtliche Entscheidung halten muss, ist eine Frage der materiellen Rechtskraft. § 121 VwGO regelt, dass Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden wurde, die Beteiligten, ihre Rechtsnachfolger sowie – im Falle des § 65 Abs. 3 VwGO – Personen, die einen Antrag auf Beiladung nicht (fristgerecht) gestellt haben. § 121 VwGO ist analog auch auf Beschlüsse anwendbar, soweit sie der materiellen Rechtskraft fähig sind (BGH NJW 1985, 1336). Dies gilt insbesondere für Beschlüsse nach § 123 VwGO. Aus einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung folgt also keine unmittelbare Pflicht des im jeweiligen Verfahren unterlegenen Rechtsträgers und seiner Behörden, sich auch in ähnlich gelagerten Fällen an dieser Entscheidung auszurichten.Nach § 121 VwGO entfaltet der Beschluss zunächst ausschließlich eine Bindungswirkung hinsichtlich des konkret entschiedenden Einzelfalls: Der Verpflichtung der BRD im einstweiligen Verfahren, die A zur Durchführung eines Dublin-Verfahrens einreisen zu lassen. Behörden und Gerichte können keine hiervon abweichende Entscheidung treffen. Das Gericht könnte in der Hauptsache den Beschluss aufheben. Allerdings ist es aus den dargelegten Gründen unwahrscheinlich, dass dieses anders entscheiden wird (sofern es überhaupt zu einem Verfahren in der Hauptsache kommt).

18. Die Entscheidung des VG Berlin hat sich weniger mit As Einzelfall, sondern vor allem mit der Frage beschäftigt, ob die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze generell mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Spricht dies dafür, dass die fortgesetzten Zurückweisungen rechtmäßig sind?

Nein, das trifft nicht zu!

Die materielle Rechtskraft der Entscheidung des VG erstreckt sich zwar grundsätzlich nur auf den Einzelfall. Soweit sie sich jedoch mit der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze mit der Dublin-III-Verordnung auseinandersetzt, trifft das VG Berlin eine generelle Bewertung der einschlägigen Rechtslage. Aus rechtsstaatlicher Sicht (Art. 20 Abs. 3 GG) ist es höchst problematisch, wenn die Exekutive „sehenden Auges“ eine rechtswidrige Praxis fortsetzt. Mit anderen Worten: Eine Verwaltung handelt nicht rechtsstaatlich, wenn sie im klaren Bewusstsein handelt, dass ihre Maßnahmen im Lichte bestehender Rechtsprechungslinien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer wieder gerichtlich aufgehoben werden. Die öffentlichen Verweise auf die „Einzelfallentscheidung“, insbesondere durch Minister Dobrindt, sind daher für sich genommen nicht „falsch“, verschleiern allerdings die Tatsache, dass das Vorgehen der Regierung aus rechtsstaatlicher Sicht höchst problematisch und gefährlich ist.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

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Friedrich

23.6.2025, 21:32:43

Also solange Jurafuchs eine reine Lernplattform bleiben soll, sind Kommentare wie höchst problematisches Rechtsverständnis o.ä. von Dobrindt extrem problematisch. Er hat de facto damit Recht, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt. Das hat nichts mit einer rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Fall zu tun. Weiter ist LTO eine einfache Website und keine fachliche Zusammenfassung bestehender Rechtslage, sondern lediglich die Einzelmeinung eines Autors in einer bereits seit Jahren durchpolitisierten Zeitschrift. Wenn man als Jurastudent bei euch lernen soll, dann muss man sich darauf verlassen können, dass dort fachlich korrekte Auseinandersetzung mit dem Fall erfolgt und keine Einzelmeinungen von Autoren gepostet werden. Vielen Dank.


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