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Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?
Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?
16. Juli 2025
13 Kommentare
4,6 ★ (19.134 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A hat die somalische Staatsangehörigkeit und reist in die EU ein. Am 09.05.2025 stellt sie einen schriftlichen Asylantrag und versucht, über die deutsch-polnische Grenze in das Bundesgebiet zu gelangen. Die Bundespolizei verweigerte die Einreise gestützt auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG mit der Begründung, A reise aus Polen, einem sicheren Drittstaat, ein.
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Einordnung des Falls
Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen – Unionsrechtswidrig?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A begehrt, dass ihr vorläufig der Grenzübertritt in die BRD gestattet wird. Ist die einstweilige Sicherungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO) die statthafte Rechtsschutzform?
Nein!
2. Die Begründetheit des Antrags auf eine einstweilige Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) setzt nur voraus, dass ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht wird.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Eine Entscheidung würde die Hauptsache hier bereits vollständig vorwegnehmen. Ist der Antrag deshalb zwingend unbegründet?
Nein, das trifft nicht zu!
4. A ist der Ansicht, die Zurückweisung an der Grenze war rechtswidrig. Könnte sich As Anordnungsanspruch aus einem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch ergeben?
Ja!
5. Bei der Zurückweisung an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei handelt es sich um ein hoheitliches Handeln. Müsste dieses Handeln auch einen Eingriff in ein subjektives Recht der A begründen?
Genau, so ist das!
6. Die Bundespolizei hat in As subjektives Recht eingegriffen. Besteht damit der Folgenbeseitigungsanspruch?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Möglicherweise könnte die Zurückweisung auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gestützt werden, da A aus Polen – einem sicheren Drittstaat – angereist ist.
Ja!
8. Die Dublin-III-VO der EU erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung eines vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats für den Asylantrag. Steht dies im Widerspruch zu § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG?
Genau, so ist das!
9. Die europäische Dublin-III-VO genießt gegenüber dem deutschen Asylgesetz einen Anwendungsvorrang.
Ja, in der Tat!
10. Die Zurückweisung darf nicht auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gestützt werden. Könnte sich ein Rechtfertigungsgrund grundsätzlich aus Art. 72 AEUV ergeben?
Ja!
11. Kannst Du für die Definition der öffentlichen Ordnung in Art. 72 AEUV einfach auf den Begriff der öffentlichen Ordnung nach deutschem Polizei- und Ordnungsrecht abstellen?
Nein, das ist nicht der Fall!
12. Allein eine hohe Anzahl an Asylanträgen in Deutschland begründet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 72 AEUV.
Nein, das trifft nicht zu!
13. Somit war die Zurückweisung an der Grenze nicht gerechtfertigt und begründet einen rechtswidrigen Zustand.
Ja!
14. Rechtsfolge des Folgenbeseitigungsanspruchs ist die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands vor dem Zeitpunkt des rechtswidrigen Eingriffs.
Genau, so ist das!
15. As Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) begründet.
Ja, in der Tat!
16. Die BRD argumentiert, dass die Entscheidung wenig aussagekräftig sei, da sie „nur“ im Eilverfahren getroffen wurde. Überzeugt dieses Argument, wenn man beachtet, dass das VG Berlin hier die Hauptsache vorweg genommen hat?
Nein!
17. Innenminister Dobrindt argumentierte nach der Entscheidung, dass es sich hierbei nur um einen „Einzelfall“ handele, der keine Bedeutung für die generelle Praxis der Bundespolizei an den Außengrenzen habe. Richtet sich die Bindungswirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 121 VwGO?
Genau, so ist das!
18. Die Entscheidung des VG Berlin hat sich weniger mit As Einzelfall, sondern vor allem mit der Frage beschäftigt, ob die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze generell mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Spricht dies dafür, dass die fortgesetzten Zurückweisungen rechtmäßig sind?
Nein, das trifft nicht zu!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Friedrich
23.6.2025, 21:32:43
Also solange Jurafuchs eine reine Lernplattform bleiben soll, sind Kommentare wie höchst problematisches Rechtsverständnis o.ä. von Dobrindt extrem problematisch. Er hat de facto damit Recht, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt. Das hat nichts mit einer rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Fall zu tun. Weiter ist LTO eine einfache Website und keine fachliche Zusammenfassung bestehender Rechtslage, sondern lediglich die Einzelmeinung eines Autors in einer bereits seit Jahren durchpolitisierten Zeitschrift. Wenn man als Jurastudent bei euch lernen soll, dann muss man sich darauf verlassen können, dass dort fachlich korrekte Auseinandersetzung mit dem Fall erfolgt und keine Einzelmeinungen von Autoren gepostet werden. Vielen Dank.

Daughtrrr K.
24.6.2025, 08:30:05
Ich glaube LTO wurde nur als Beispiel von einer sehr breiten fachlich-fundierten Meinung verlinkt, welche von vielen Rechtswissenschaftlern vertreten wird (z.B. auch im FAZ Einspruch Podcast) und was auch in dem Fall von Jurafuchs gut aufbereitet wurde: Die Zurückweisungen an der Grenze sind nicht EU rechtskonform, daran ändert sich auch nichts, dass es in diesem Fall eine Einzelentscheidung für A war. Sofern die Bundespolizei, vom Bundesinnenministerium angewiesen, somit von der Bundesregierung angewiesen, weiter so handelt, handelt sie nicht EU rechtskonform. Ich finde, diese Aufgabe illustriert sehr schön den Anwendungsvorrang des EU Rechts und dekliniert einmal sauber durch, was der Sinn dahinter ist und erklärt wunderbar, wieso deutsche Normen, wie z.B. § 18 II AsylG insofern hinter dem EU Recht in der Anwendung zurücktreten. Auch sehr gut fand ich die Erklärung, was das Dublin II Verfahren eigentlich bewirken soll: Verhinderung von refugees in orbit.
versuchterfahrlässigermord
24.6.2025, 08:35:43
Mich hat der unsachliche Bezug auf Dobrindt ebenfalls irritiert. Bitte nicht herumpolitisieren sondern sachlich bleiben! Ansonsten finde ich, dass der Fall gut aufbereitet wurde.

Linne Hempel
24.6.2025, 08:46:41
Hallo Friedrich, danke für Deine Gedanken zu diesem wichtigen Thema. Aus unserer Sicht erfüllen wir mit diesem Fall unsere Funktion als Lernplattform: Erst einmal finden wir, dass es für angehende Jurist*innen generell wichtig ist, sich bewusst zu machen, was Gerichtsentscheidungen politisch und gesellschaftlich bedeuten bzw. welche Debatten sie auslösen. Abgesehen davon kann die Frage, was es für einen Rechtsstaat bedeuten kann, wenn eine Bundesverwaltung grundlegende Aussagen, die ein Verwaltungsgericht trifft, „ignoriert“, durchaus Gegenstand einer mündlichen Prüfung sein. Die fachliche Auseinandersetzung endet aus unserer Sicht gerade nicht bei der reinen Wiedergabe der Entscheidung. Wer nur das möchte, kann außerdem einfach die letzten zwei Fragen des Falles überspringen. Den von dir richtig dargestellten Umfang der materiellen Rechtskraft der Entscheidung haben wir in der Aufgabe aufgezeigt und auch ausdrücklich darauf verwiesen, dass Dobrindt insofern keine unzutreffende Rechtsauffassung vertritt. Wir haben also gerade nicht Dobrindts Rechtsverständnis bzgl. der einzelnen Entscheidung in Frage gestellt. Bei den Ausführungen dazu, warum es aus rechtsstaatlicher Sicht dennoch problematisch ist, die Zurückweisungen an den Grenzen fortzusetzen, haben wir uns auf die aktuelle Debatte bezogen, die unter anderem auf News-Portalen wie LTO abgebildet ist. Gleichzeitig haben wir aber auch darauf verwiesen, dass es andere Meinungen dazu gibt. Wir haben die Artikel nicht als Literaturnachweis im engeren Sinne verlinkt, sondern als weitergehende Informationen für diejenigen unter euch, die sich mit der Debatte auseinandersetzen wollen. Dass ihr euch als Studierende mit der Debatte selbstverantwortlich auseinandersetzt und LTO-Artikel nicht wie eine Dissertation versteht, haben wir hier vorausgesetzt. Dass die Bezugnahme auf Dobrindts Umgang mit den Beschlüssen Irritation auslöst, hat vielleicht auch damit zu tun, dass im Jurastudium die Auseinandersetzung damit, in welchen aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Rechtsprechung und Rechtsetzung entstehen, häufig nicht Teil des Lehrplans ist. Das finden wir schade und verstehen unsere Fälle daher auch als Anregung, dies außerhalb der Uni nachzuholen. Ich möchte auch noch darauf verweisen, dass wir auch ein Interview mit Prof. Dr. Holterhus (Lehrstuhl für Staats- und
Verwaltungsrecht, Internationales Öffentliches Recht sowie Rechtsvergleichung an der Leuphana Law School in Lüneburg) verlinkt haben. In dem Interview kann man die Unterscheidung zwischen einer Exekutiven, die die materielle Rechtskraft einer Einzelfallentscheidung ignoriert (hier – wie dargestellt – nicht der Fall) und einer Exekutiven, die die Augen vor der Rechtsauffassung eines Verwaltungsgerichts verschließt, gut nachvollziehen. Wenn Du oder ihr andere spannende Auseinandersetzungen zu dem Thema findet, ist das Forum genau der richtige Ort, um diese zu teilen und sich dazu auszutauschen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
AngeD
24.6.2025, 20:08:20
Ich bin dem Team von Jurafuchs äußerst dankbar, dass sie es schaffen aktuelle Themen so schnell hier lerngerecht aufzubereiten. Ich empfinde es auch nicht als unangemessen hierbei die derzeit stattfindende Diskussion und Meinung zu diesem Thema mitaufzugreifen. Vielen Dank! 👏🏻💪
Iridan
1.7.2025, 09:06:59
Auch bin finde die Position von Jurafuchs zutreffend. Als Jurist ist es auch Kernaufgabe, sich mit dem Rechtsstaat und seiner Erhaltung zu beschäftigen sowie das Verhalten der Regierung anhand juristischer Maßstäbe zu messen. Allein die Aussage, dass es hoch-problematisch in einem Rechtsstaat ist, wenn ein Minister sehenden Auges ins Unrecht läuft, ist für sich genommen nicht falsch und insb. nicht politisch. Sie ist schlicht rechtsstaatlich, und das ist keine politische Aussage. Dass die Folge natürlich auch politisch relevant ist, ändert nichts an der berechtigten, fachlichen Kritik von Jurafuchs.
Dünendiva
1.7.2025, 09:36:28
Ich finde es super wie die Gerichtsentscheidung in die aktuelle Debatte eingeordnet würde insbesondere zu den Aussagen von Politiker:innen. Das ist im Ergebnis auch schlicht unser Job und auch das svhöne als Jurist mMn. Gerne weiter so!
Examen24
24.6.2025, 14:41:12
Vielen Dank für diesen aktuellen Fall. Es ist sehr hilfreich aktuelle Fälle nicht nur als Bericht, sondern als Klausurfall zu lesen! Gerne mehr davon.

Wendelin Neubert
25.6.2025, 13:14:15
Hallo Examen24, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Wendelin Neubert, für das Jurafuchs-Team
Dominikpolitics
26.6.2025, 16:07:43
Die juristische Argumentationsfähigkeit seitens des CSU-geführten Innenministeriums ist wirklich atemberaubend. Zwinkersmiley!

Sailor Haftbefehl
29.6.2025, 18:46:35
Mega hilfreich, vielen Dank! Hab es in den Nachrichten gesehen, hab den "juristischen Aufbau" dahinter allerdings nicht ganz verstanden. Ihr habt mir damit sehr geholfen!🙏🏻💯

Jakob
1.7.2025, 20:40:45
Liebes Jurafuchsteam, ich möchte mich ausdrücklich für die schnelle Bearbeitung der Aufgabe und des Sachverhalts bedanken. Gerade für alle, die bald ihre mündliche Prüfung haben, ist das wirklich gold wert! Vielen Dank für eure Mühe und euren Einsatz! Liebe Grüße Jakob

dolo agitation
7.7.2025, 11:04:33
Liebes Jurafuchs-Team, zunächst vielen Dank für die schnelle Aufarbeitung des Falls! Wieso stützt ihr euch unmittelbar auf den Anwendungsvorrang des Europarechts statt zunächst die Ausnahme des § 18 IV Nr. 1 AsylG? Liegt das daran, dass für diesen positiv die Zuständigkeit der BRD für die Durchführung des Verfahrens festgestellt sein muss?