Beteiligung an Unterlassensdelikt

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Mutter M fühlt sich hilflos. Sie schaut untätig zu, als ihr Freund F ihrem 12-jährigen Sohn S zum wiederholten Mal ein paar kräftige Ohrfeigen gibt.

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Einordnung des Falls

Beteiligung an Unterlassensdelikt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M hat Beihilfe zur Körperverletzung geleistet, als sie untätig zusah, wie F den S schlug (§§ 223 Abs. 1, 27 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Hilfeleisten meint jeden Tatbeitrag, der die Haupttat ermöglicht, erleichtert oder verstärkt.Die reine Anwesenheit am Tatort ermöglicht, erleichtert oder verstärkt die Ohrfeigen des F nicht. M hat nicht durch ihre Anwesenheit Hilfe geleistet. Darüberhinaus fehlen Anhaltspunkte, um eine psychische Beihilfe anzunehmen.
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2. Kann eine strafbare Beihilfe grundsätzlich auch durch das Unterlassen einer Handlung begangen werden?

Ja!

Beihilfe ist wie Täterschaft grundsätzlich auch durch Unterlassen möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass eine Garantenstellung besteht, § 13 Abs. 1 StGB.

3. Hat M eine Garantenstellung gegenüber S?

Genau, so ist das!

Grundsätzlich kann eine Garantenstellung als sog. „Beschützergarant” oder „Überwachergarant” bestehen. Die Garantenstellung kann sich insbesondere ergeben aus: (1) einem persönlichen Näheverhältnis (2) vorangegangenen pflichtwidrigen Verhalten (Ingerenz) (3) Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle (4) Übernahme von Schutzfunktionen.M ist die Mutter der Minderjährigen S und trägt so die Pflicht zu elterlichen Sorge, § 1626 Abs. 1 BGB. Sie ist Beschützergarantin für S.

4. F schlägt S und ist damit aktiver Begehungstäter. Kann M durch ihr Unterlassen damit unstrittig lediglich wegen Beihilfe strafbar sein?

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Mindermeinung in der Literatur geht davon aus, dass ein untätig bleibender Garant neben einem aktiven Begehungstäter niemals Täter sein kann. Weil keine Tatherrschaft über das Geschehen vorläge, käme ledigliche eine Strafbarkeit wegen Beihilfe in Betracht. Die h.M. bejaht jedoch auch in dieser Konstellation die Möglichkeit von Täterschaft durch Unterlassen. Denn es gehöre gerade zur Natur des Unterlassensdelikts, dass das Tatgeschehen nicht aktiv vom Täter beherrscht werde. Folgt man der h.M., so ist eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme nötig.

5. Die Rspr. greift für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme auch beim Unterlassen auf den Täterwillen zurück.

Ja!

Für die Rspr. ist die innere Willensrichtung des Beteiligten entscheidend. Täterschaft liegt vor, wenn die innere Haltung - insbesondere wegen des Interesses am Taterfolg - nach wertender Gesamtbetrachtung - als Ausdruck eines sich die Tat des anderen zu eigen machenden Täterwillens anzusehen ist. Dagegen ist Teilnahme anzunehmen, wenn sich der Beteiligte dem Handelnden im Willen unterordnet. Das gilt auch dann, wenn er das Geschehen ohne innere Beteiligung und ohne Interesse am drohenden Erfolg lediglich ablaufen lässt.M hatte kein eigenes Interesse am Taterfolg. Sie fühlte sich hilflos und blieb deswegen untätig neben F. Sie ordnete sich damit dem Willen des F unter. Es kommt für M lediglich eine Beihilfestrafbarkeit in Betracht.

6. Eine in der Literatur verbreitete Meinung grenzt nach Art der Garantenstellung ab.

Genau, so ist das!

Nach dieser Ansicht kommt es darauf an, ob der Beteiligte Beschützer- oder Überwachergarant sei. Unterlasse der Beschützergarant die gebotene Heandlung, so sei er stets Täter. Der Überwachergarant sei hingegen nur als Gehilfe zu bestrafen.M trägt die elterliche Sorge für S und ist damit Beschützergarantin. Nach dieser Ansicht hat sie sich als Täterin strafbar gemacht.

7. Gibt es in der Literatur Stimmen, die auch bei einer Beteilung durch Unterlassen nach der Tatherrschaftslehre abgrenzen?

Ja, in der Tat!

Nach der Tatherrschaftslehre kommt es darauf an, ob der Beteiligte das Geschehen als „Zentralfigur” mitbeherrscht (dann Täterschaft) oder es lediglich als Randfigur ablaufen lässt (dann Teilnahme). Weil dem Beteiligten gerade kein aktives Tun vorgeworfen wird, kommt es dabei aber nur auf eine „potenzielle” Tatherrschaft an.M fühlt sich F gegenüber hilflos und lässt die Ohrfeigen deswegen geschehen. Sie lässt die Taten damit als Randfigur im Tatgeschehen ablaufen und nimmt keine Zentralgestalt in der Situation ein. Sie ist nach der Tatherrschaftslehre damit lediglich Gehilfin.

8. Weil die Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist ein Streitentscheid nötig.

Ja!

Ein Unterlassensdelikt zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Täter das Geschehen nicht aktiv beherrscht. Das spricht dafür, die Möglichkeit einer Täterschaft durch Unterlassen grundsätzlich zuzulassen. Gegen eine Abgrenzung nach dem Täterwillen spricht, dass dieser von außen nur schwer zu erkennen ist. Das gelte bei Unterlassenstaten im Vergleich zu Taten durch aktives Tun umso mehr. Dagegen findet die Funktionenlehre, die die Unterscheidung von Beschützer- und Überwachergarantenstellung hervorgebracht hat, im Wortlaut des Gesetzes keine Anknüpfung. Weil sich beide Arten der Garantenstellung zudem teils nur schwer unterscheiden lassen, sind sie nicht geeignet, um Täterschaft und Teilnahme voneinander abzugrenzen. Insofern spricht viel dafür, auch bei der Unterlassensstrafbarkeit die Abgrenzung wie auch bei aktiven Taten nach Tatherrschaftsgesichtspunkten vorzunehmen. Im Unterlassensbereich liegt zwar nie eine tatsächlichen Beherrschung des Geschehensablaufs vor. Täterschaft ist aber bei „potenzieller Tatherrschaft“ anzunehmen, also wenn der Garant das Geschehen bei Erfüllung seiner Garantenpflicht hätte beherrschen können.Die Frage nach der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassensdelikten wird kontrovers diskutiert. Mit einer guten Argumentation kannst du dich in der Klausur deswegen für jede der genannten Ansichten entscheiden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dogu

Dogu

12.8.2024, 19:48:00

Das Ergebnis der Strafbarkeit von M fehlt.

TI

Tinki

18.8.2024, 18:42:20

Wenn man der

Tatherrschaftslehre

folgt, würde man zu dem Ergebnis kommen, dass sich M wg.

Beihilfe durch Unterlassen

strafbar gemacht hat, indem sie untätig blieb. Richtig?:) @[Dogu](137074)


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