+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
S hat die titulierte Forderung des G gegen sie bereits bezahlt. Dennoch wird auf Gs Antrag hin S' Klavier wirksam gepfändet und versteigert. Nachdem G den Erlös und S die vollstreckbare Ausfertigung erhalten hat, erhebt S Klage gegen G auf Erlösherausgabe.
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Einordnung des Falls
Anspruch des Vollstreckungsschuldners gegen den Vollstreckungsgläubiger auf Herausgabe des Erlöses – 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die von S erhobene Klage wird auch als „verlängerte Vollstreckungsabwehrklage“ bezeichnet.
Genau, so ist das!
Eine „verlängerte Vollstreckungsabwehrklage“ ist eine nach Beendigung der Zwangsvollstreckung erhobene Leistungsklage des „zu spät kommenden Vollstreckungsschuldners“ (zu spät für eine Vollstreckungsabwehrklage) gegen den Vollstreckungsgläubiger auf Erlösherausgabe.
S ist ein „zu spät kommender Vollstreckungsschuldner“: Da die Zwangsvollstreckung bereits beendet ist (Erlösauskehr und Aushändigung der vollstreckbaren Ausfertigung an den Vollstreckungsschuldner), wäre eine Vollstreckungsabwehrklage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Die Leistungsklage des S gegen G auf Erlösherausgabe ist eine „verlängerte Vollstreckungsabwehrklage“.
Wie bei einer „verlängerten Drittwiderspruchsklage“ liegt auch einer „verlängerten Vollstreckungsabwehrklage“ materiell-rechtlich ein Erlösherausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB zugrunde.
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2. Ein Erlösherausgabeanspruch des S gegen G aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB setzt zunächst voraus, dass G „etwas erlangt“ hat. Hat G nur den Besitz am Erlös erlangt?
Nein, das trifft nicht zu!
Wer durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB). Durch die Auszahlung des Versteigerungserlöses an den Vollstreckungsgläubiger erwirbt dieser das Eigentum am Erlös (= Eigentumserwerb durch Hoheitsakt nach § 815 Abs. 1 ZPO). Dies gilt auch dann, wenn der Vollstreckungsschuldner materiell-rechtliche Einwendungen gegen den titulierten Anspruch hat.
Der Versteigerungserlös wurde bereits an G ausbezahlt. Dadurch hat G nicht nur den Besitz, sondern auch das Eigentum am Erlös erworben.
Auch hier zeigt sich wieder die Ähnlichkeit zur Konstellation i.R.d. „verlängerten Drittwiderspruchsklage“: Genauso wenig, wie das Drittrecht eines Dritten, verhindern auch materiell-rechtliche Einwendungen des Vollstreckungsschuldners nicht den Eigentumserwerb des Vollstreckungsgläubigers am Versteigerungserlös.
3. Hat G Eigentum und Besitz am Erlös in sonstiger Weise erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)?
Ja!
Wer durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB). Eine Leistung im Sinne des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ist die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Wenn die Vermögensverschiebung nicht auf einer Leistung beruht, ist sie „in sonstiger Weise“ erfolgt.
G hat das Eigentum am Erlös durch Hoheitsakt und damit nicht durch eine Leistung des S (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB), sondern „in sonstiger Weise“ (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) erlangt. Wer i.R.d. Zwangsvollstreckung zu welchem Zeitpunkt Eigentum an der gepfändeten Sache und dem Erlös erlangt, kannst Du dir im Kapitel zur „verlängerten Drittwiderspruchsklage“ im Detail anschauen! 4. G müsste das Eigentum am Erlös ferner „auf Kosten des S“ erlangt haben (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB). Wäre dies der Fall, wenn zuvor S Eigentümerin des Erlöses war?
Genau, so ist das!
Der Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB hat folgende Voraussetzungen: (1) Etwas erlangt (2) In sonstiger Weise (nicht durch Leistung) (3) Auf Kosten des Bereicherungsgläubigers (= Eingriff) (4) Ohne Rechtsgrund. Ein Eingriff liegt nach der herrschenden Zuweisungstheorie vor, wenn der eine Verletzung des Zuweisungsgehalts eines fremden Rechts besteht. G hat Eigentum an dem Erlös erlangt. Dieser Eigentumserwerb wäre nur „auf Kosten der S“ erfolgt, wenn das Recht am Erlös der S zugewiesen wäre, sprich: Wenn S Eigentum am Erlös gehabt hätte.Mache Dir hier die Konstellation noch einmal klar: S hatte zunächst nur Eigentum am versteigerten Klavier. Es stellt sich die Frage, ob sich dieses Eigentum am Erlös aus der Versteigerung „fortsetzt“.
5. Vor der Zwangsversteigerung war S Eigentümerin des Klaviers. Könnte sich dieses Eigentum zunächst nach § 1247 S. 2 BGB analog an dem Ersteigerungserlös „fortsetzen“?
Ja, in der Tat!
Nach § 1247 S. 2 BGB analog tritt der Erlös an die Stelle des Pfandes. Dies bedeutet, dass sich das zuvor bestehende Eigentum an der Pfandsache am Erlös fortsetzt (sog. dingliche Surrogation). Der Vollstreckungsschuldner, der sein ursprüngliches Eigentum an der Pfandsache an den Ersteigerer verloren hat, wird hiernach also zunächst Eigentümer des Erlöses.
Ursprünglich war S die Eigentümerin des Klaviers. M erwarb das Eigentum am Klavier als man ihm dieses übergab (§ 817 Abs. 2 ZPO). Das Eigentum der S setzte sich daraufhin am Erlös für das Klavier fort. Somit wurde zunächst S Eigentümerin des von M gezahlten Erlöses. Mit der anschließenden Erlösauskehr erwarb G das Eigentum also „auf Kosten der S“. Die Analogie von § 1247 S. 2 BGB haben wir im Kapitel zur „verlängerten Drittwiderspruchsklage“ im Detail für Dich aufbereitet.
6. G müsste das Eigentum am Erlös auch „ohne Rechtsgrund“ erlangt haben. Wäre ein am Klavier entstandenes Pfändungspfandrecht nach der gemischten Theorie (h.M. + BGH) ein Rechtsgrund?
Ja!
Ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen des Erlöses besteht nur dann, wenn der Vollstreckungsschuldner ein „materielles Befriedigungsrecht“ an der gepfändeten Sache hat. Nach der gemischten Theorie (h.M. + BGH) begründet ein Pfändungspfandrecht (§ 804 Abs. 1 ZPO) ein solches Befriedigungsrecht.
7. Nach der gemischten Theorie (h.M. + BGH) darf G den Erlös behalten, wenn ein Pfändungspfandrecht bestanden hat. Ist nach dieser Theorie hier ein Pfändungspfandrecht entstanden?
Nein, das ist nicht der Fall!
Nach der gemischten Theorie (h.M. + BGH) entsteht ein Pfändungspfandrecht, wenn
(1) Verstrickung eingetreten ist (also kein schwerwiegender Verfahrensfehler vorliegt),
(2) die titulierte Forderung besteht,
(3) der Schuldner der Eigentümer der gepfändeten Sache ist und
(4) die wesentlichen Vollstreckungsvoraussetzungen eingehalten worden sind.
Am Klavier ist Verstrickung eingetreten. Da S jedoch die titulierte Forderung bereits bezahlt hatte, bestand aufgrund der Erfüllungswirkung (§ 362 BGB) die titulierte Forderung zum Zeitpunkt der Pfändung nicht mehr. Daher ist kein Pfändungspfandrecht an dem Klavier entstanden. Damit hat G den Erlös „ohne Rechtsgrund“ erhalten. Auch, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB gegeben sind, kann die „verlängerte Vollstreckungsabwehrklage“ dennoch ausnahmsweise unbegründet sein. Dazu mehr in der nächsten Aufgabe!