Gewährung der Öffentlichkeit, § 169 Abs. 1 GVG - Grundfall

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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A wird vor dem Landgericht verurteilt. Um 16 Uhr wird - wie üblich und dem Gericht bekannt - der Gerichtseingang von außen abgeschlossen. Die Pforte ist unbesetzt. Die Sitzung wird um 15:32 Uhr für die Beratung unterbrochen, um 16:30 Uhr mit der Urteilsverkündung fortgesetzt und um 16:37 Uhr beendet.

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Einordnung des Falls

Gewährung der Öffentlichkeit, § 169 Abs. 1 GVG - Grundfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Grundsätzlich ist die Verhandlung vor den Strafgerichten öffentlich (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG).

Genau, so ist das!

Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht ist öffentlich, einschließlich der Verkündung des Urteils und der Beschlüsse (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG). Dies bedeutet grundsätzlich, dass jedermann aus dem Publikum ohne Rücksicht auf seine Gesinnung oder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe sich ohne besondere Schwierigkeiten Kenntnis von Ort und Zeit der Verhandlung verschaffen kann und ihm im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten der Zutritt eröffnet wird. Die Öffentlichkeit wird durch die Bevölkerung und durch die Vertreter der Presse repräsentiert.Die Öffentlichkeit dient dem Informationsinteresse der Allgemeinheit, sowie der Kontrolle der Gerichte und dem Schutz vor Willkür. Historisch ist sie eine Reaktion auf die Geheim- und Kabinettsjustiz des Absolutismus.
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2. Vorliegend ist der Grundsatz der Öffentlichkeit gewahrt, da die Pforte bis zur Beratung noch offen war (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG).

Nein, das trifft nicht zu!

Jedermann aus dem Publikum muss sich ohne Rücksicht auf seine Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe ohne besondere Schwierigkeiten Kenntnis von Ort und Zeit der Verhandlung verschaffen können und ihm muss im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten der Zutritt eröffnet sein.Hier war der Zugang zum Gericht während der Urteilsverkündung, die ebenfalls noch öffentlich stattfindet (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG). Auch war die Pforte nicht besetzt, um Zuschauer einlassen zu können. Damit war es Besuchern faktisch nicht mehr möglich, an der Urteilsverkündung teilzunehmen. Die Öffentlichkeit der Sitzung war damit verletzt. Ob tatsächlich jemand daran gehindert wurde, der Sitzung beizuwohnen, ist zumindest hier unerheblich.War der Zugang nicht tatsächlich, aber faktisch, etwa durch falschen Aushang, beschränkt, wird teils vertreten, dass auch tatsächlich jemand vom Zugang abgehalten werden muss.

3. Ein Verstoß gegen § 169 Abs. 1 S. 1 GVG ist nur dann revisibel, wenn er auf dem Verschulden des Gerichts beruht.

Ja!

Nicht jeder Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz rechtfertigt eine Aufhebung des Urteils. Die Verletzung muss aus dem Verantwortungsbereich des Gerichts stammen. Dies ist der Fall, wenn das Gericht (1) eine Anordnung getroffen hat, die die Öffentlichkeit unzulässig beschränkt, (2) Beschränkungen oder Hindernisse zur Verwirklichung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kennt oder bei Beachtung der zur Wahrung der Öffentlichkeit erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können und gleichwohl diese Hindernisse nicht beseitigt bzw. ihnen nicht entgegenwirkt oder (3) wenn das Gericht seine Aufsichtspflicht verletzt.

4. Liegt ein Verschulden des Gerichts vor, sodass der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz hier revisibel ist?

Genau, so ist das!

Ein Verstoß gegen § 169 Abs. 1 S. 1 GVG ist nur dann revisibel, wenn er auf einem Verschulden des Gerichts beruht, also etwa wenn das Gericht eine ihm bekannte Beschränkung nicht beseitigt. Insbesondere besteht die Pflicht, bei abgeschlossenem Haupteingang Vorkehrungen zu treffen, um den weiteren Zugang der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Dabei besteht auch eine Aufsichtspflicht gegenüber den untergeordneten Gerichtsbeamten.Dem Gericht war bekannt, dass der Eingang wie üblich ab 16 Uhr abgeschlossen und die Pforte nunmehr unbesetzt war. Es hätte, etwa durch Anweisungen an die Justizwachtmeister, Vorkehrungen treffen müssen, um die Öffentlichkeit weiterhin zu gewährleisten.

5. Es wird vermutet, dass das Urteil auf der Verletzung der Öffentlichkeit beruht (§ 338 Nr. 6 StPO).

Ja, in der Tat!

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind (§ 338 Nr. 6 StPO).Indem das Gerichtsgebäude abgeschlossen und die Pforte unbesetzt war, war der Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verletzt (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG). Damit wird unwiderleglich vermutet, dass das Urteil auf dieser Gesetzesverletzung beruht.
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