Leistungsverwaltung: Formelle Privatisierung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Lawra (L) gründet mit ihren besten Freundinnen eine neue WG. Als L nach Stromanbietern recherchiert, stößt sie auf die Stadtwerke GmbH. Diese gehört zu 100 % zu einer Anstalt öffentlichen Rechts.

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Einordnung des Falls

Leistungsverwaltung: Formelle Privatisierung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Versorgung der Bevölkerung mit Strom gehört grundsätzlich zur staatlichen Daseinsvorsoge.

Genau, so ist das!

Die Vorsorgeverwaltung oder auch Daseinsvorsorge ist die „Leistung durch Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen sowie öffentlicher Sachen zwecks Nutzung. Die ursprüngliche Form der Daseinsvorsorge umfasste insbesondere die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern wie z.B. Strom, Gas, Wasser, Wohnraum sowie das Betreiben des öffentlichen Personennnahverkehrs und den Straßenbau. Heute wird der Begriff der Daseinsvorsorge weiter verstanden. Er umfasst z.B. auch die Erteilung von Informationen oder die Bereitstellung von Bildungseinrichtungen.
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2. Der Staat darf sich zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben nur öffentlich rechtlichen Handlungsformen bedienen.

Nein, das trifft nicht zu!

Staatliche Aufgaben können grundsätzlich auch durch privatrechtliches Handeln erfüllt werden. Die eigentlich staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge wird heute kaum noch vom Staat oder von den Gemeinden selbst wahrgenommen. Die öffentliche Verwaltung ist vielmehr dazu übergegangen, Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu privatisieren. Das bedeutet, dass ursprünglich öffentlich rechtliche Einrichtungen auf Private übertragen werden, z.B. auf eine GmbH oder AG.

3. Eine GmbH ist eine juristische Person des Privatrechts. Ist die Stadtwerke GmbH trotzdem Teil der öffentlichen Verwaltung?

Ja!

Eine GmbH ist eine juristische Person des Privatrechts. Sie schließt privatrechtliche Verträge und handelt gerade nicht hoheitlich. Allerdings sind die Aufgaben, die durch die GmbH ausgeführt werden, weiterhin staatliche Aufgaben der Daseinsvorsorge. Beherrscht der Staat die juristische Person des Privatrechts, verbleibt die von ihr wahrgenommene Aufgabe in öffentlicher Verantwortung. Der Staat bedient sich lediglich einer privatrechtlichen Organisationsform (sog. Verwaltungsprivatrecht bzw. formelle Privatisierung). Auch bei der Privatisierung staatlicher Aufgaben ist der Staat weiterhin verantwortlich, dass diese ordnungsgemäß wahrgenommen werden („Keine Flucht ins Privatrecht“).

4. Die Stadtwerke GmbH gehört zu 100 % zu einer Anstalt des öffentlichen Rechts. Sie ist damit der öffentlichen Verwaltung zuzuordnen.

Genau, so ist das!

Kennzeichnend für das Verwaltungsprivatrecht (= formelle Privatisierung) ist, dass der Staat die Unternehmensmehrheit an dem privatrechtlichen Unternehmen behält. Beispiele sind die Deutsche Bahn AG, deren Unternehmensanteile sich im Eigentum des Bundes befindet. Sobald jedoch alle oder die überwiegende Unternehmensanteile an Private übertragen werden, liegt eine materielle Privatisierung. Das bedeutet, dass der Staat sich gänzlich von der bisher staatlich wahrgenommenen Aufgabe zurückzieht und sie der Marktwirtschaft überlässt. Beispiele sind die Deutsche Telekom AG und die Deutsche Post AG. Eine Anstalt öffentlichen Rechts hält 100 % der Anteile der Stadtwerke GmbH. Es liegt somit ein Fall der formellen Privatisierung vor. Die Stadtwerke GmbH ist der öffentlichen Verwaltung zuzuordnen. Während eine lediglich formelle Privatisierung in der Regel unproblematisch ist, sind die Grenzen der materiellen Privatisierung umstritten. Es gibt Bereiche, die der Staat nicht vollständige privaten Dritten überlassen darf.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Vermieterpfandrechtbelastetes Anwartschaftsrecht

Vermieterpfandrechtbelastetes Anwartschaftsrecht

31.5.2024, 13:31:21

Hier könnte ggf. noch ein Hinweis ergänzt werden, dass in der Regel der Verwaltungsrechtsweg auch für juristische Personen des Privatrechts in (überwiegend) öffentlicher Hand eröffnet sein muss, weil sonst die Gefahr bestünde, dass eine unzulässige "Flucht ins Privatrecht" erfolgt. Relevant vor allem bei einem Anspruch auf

Zugang zu öffentlichen Einrichtungen

.

PAT

Patrick4219

3.6.2024, 20:32:54

Auch weiterführende Informationen dazu wofür die Differenzierung zwischen formeller und materieller Privatisierung erforderlich ist sowie ein Verweis auf die VGH Kassel, Urteil vom 4.3.2010 - 8 A 2613/09 zur Grenze materieller Privatisierung wäre sehr cool.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

6.6.2024, 09:37:43

Hallo @[Vermieterpfandrechtbelastetes

Anwartschaftsrecht

](169486), hallo @[Patrick4219](231635)! Danke für Eure richtigen Hinweise. Die Privatisierung der Verwaltung ist ein umfangreiches Thema. In diesem Einführungskapitel wollten wir dieses zunächst einmal – überblickshalber – als einen der vielen Bereiche des Verwaltungsrechts vorstellen. Tiefere Auseinandersetzungen, vor allem auch mit der Thematik des Zugangs zu öffentlichen Einrichtungen, erfolgen an anderer Stelle. Wir haben Eure Hinweise aber in dieser und der nächsten Aufgabe (zur materiellen Privatisierung) als Vertiefungshinweise aufgenommen. :) Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team


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