Öffentliche Ordnung: Verfassungsmäßigkeit

21. November 2024

5,0(268 mal geöffnet in Jurafuchs)

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Beamter B findet, dass das „unsittliche“ Anbieten sexueller Dienste in einem modernen Rechtsstaat nicht gebilligt werden dürfe. Er will daher – gestützt auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung – allen Prostituierten ihre weitere Tätigkeit verbieten.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Öffentliche Ordnung: Verfassungsmäßigkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Als zuständiger Beamter darf B seine eigenen Moral- und Sozialvorstellungen als Grundlage zur Bestimmung des Begriffs der öffentlichen Ordnung heranziehen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Begriff der öffentlichen Ordnung meint die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird. Das persönliche Befinden des B ist somit irrelevant. Entscheidend ist, dass die herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen betroffen sind. Genau hier liegt ein Problem, denn diese Anschauungen sind praktisch schwer zu ermitteln. Es besteht die Gefahr, dass subjektive Anschauungen Einzelner herangezogen werden. Nach der Rechtsprechung sind hier auf grundlegende Wertungen des Grundgesetzes zurückzugreifen. In der Lehre wird vielfach eine stärkere Ausrichtung anhand der empirischen Sozialforschung gefordert.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Wesentliche grundrechtsrelevante Entscheidungen sind grundsätzlich vom Gesetzgeber durch Rechtsnormen zu treffen.

Ja, in der Tat!

Nach dem Vorbehalt des Gesetzes sind die wesentlichen Entscheidungen im Bereich der Grundrechte durch den Gesetzgeber selbst zu treffen und dürfen nicht der Exekutive oder den Gerichten überlassen werden (Wesentlichkeitstheorie). Teilweise wird vertreten der Begriff der öffentlichen Ordnung genüge diesen Anforderungen nicht und die Polizei- und Ordnungsbehörden dürfen nicht „Sittenwächter“ spielen. Dem lässt sich entgegnen, dass der Begriff sogar im Grundgesetz verwendet wird (Art. 13 Abs. 7, 35 Abs. 2 S. 1 GG) und der Gesetzgeber auch an anderen Stellen auf gesellschaftliche Anschauungen zurückgreift (§§ 138, 242 BGB). Außerdem erfüllt der Begriff eine wichtige Reservefunktion für unvorhersehbare Störungen des sozialen Friedens. In jedem Fall ist jedoch eine restriktive Handhabung geboten.

3. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ableitbare Bestimmtheitsgebot verlangt eine hinreichende Bestimmtheit von Rechtsnormen. Der Begriff der öffentlichen Ordnung genügt diesem.

Ja!

Mess- und Berechenbarkeit staatlichen Handelns setzen voraus, dass Gesetze und daraus abgeleitete Einzelfallentscheidungen hinreichend bestimmt sind (Bestimmtheitsgebot). Dies schließt jedoch die - oftmals notwendige - Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht aus. Erforderlich bleibt jedoch die Bestimmbarkeit einer Norm. Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist durch die Entwicklungen in Rechtsprechungen und Literatur nach Inhalt, Zweck und Ausmaß präzisiert worden, sodass der Begriff zumindest bestimmbar ist und damit nicht gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot verstößt. Dieses Problem sollte in einer Klausur kurz angesprochen werden, dann aber unter Hinweis auf die ausreichende Präzisierung und Bestimmbarkeit verworfen werden.

4. Das Anbieten sexueller Dienste verstößt gegen die öffentliche Ordnung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Aus dem Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 2 GG folgt, dass eine Tätigkeit die vom Gesetzgeber grundsätzlich erlaubt wurde, nicht unter Rückgriff auf die öffentliche Ordnung verboten werden kann. Auch soweit man die Durchsetzung herrschender Anschauungen durch das Schutzgut der öffentlichen Ordnung zulässt, bleibt es Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers verbindliche Wertvorstellungen zu normieren. Hat er dies für einen Bereich getan, ist die hierdurch getroffene Wertung vorrangig. Das Anbieten sexueller Dienste ist unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 ProstSchG grundsätzlich erlaubt. Der Gesetzgeber hat somit eine verbindliche Wertung getroffen, die nicht unter Rückgriff auf die öffentliche Ordnung revidiert werden kann.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MAG

Magie99Capona

2.6.2024, 17:31:15

finde es in der einen Frage ein bisschen seltsam das es stimmt das die öffentliche Ordnung hinreichend bestimmt ist, aber in der Erklärung selbst steht das der Begriff durch Rechtsprechung und Literatur konkretisiert werden musste. Also ist er ja anscheinend nicht hinreichend bestimmt, zumindest ist das aber strittig.

LELEE

Leo Lee

3.6.2024, 10:23:11

Hallo Maggie99Capona, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat ist diese Thematik umstritten (allerdings wird in der Klausur die h.M. i.d.R. ausreichen). Auch stimmt es, dass hier ein gewisser Zirkelschluss dadurch entsteht, dass die Bestimmtheit dadurch gegeben sein soll, dass die Lit. und Rsp. Diesen Begriff durch Konturierung erst bestimmt haben. Das ist dogmatisch zwar unglücklich, jedoch i.R.d. Streits die h.M., die in Klausuren zwecks Taktik erstmal „so hingenommen“ werden muss! Achte i.Ü. auch darauf, dass bei dem Begriff der Beleidigung i.R.d. 185 StGB ein ähnliches Problem existiert, dort aber genauso wie hier argumentiert wird (Beleidigung als TBM ist bestimmt genug, weil die Rspr. durch jahrelange Praxis eine Definition entwickelt hat) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen