Juristische Methodik

Juristische Auslegung

Systematische Auslegung

Was ist die europarechtskonforme Auslegung?

Was ist die europarechtskonforme Auslegung?

23. Juni 2025

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Jurafuchs

Lawra (L) liest in der Zeitung von einer italienischen GmbH (G) mit Sitz in Bologna, die avantgardistische Designer-Möbel produziert und vertreibt. G hatte die Möbel auch in Bayern vertrieben. Das örtliche Gewerbeamt hat das verboten. L fragt sich, ob G sich auf Art. 12 GG berufen kann.

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Einordnung des Falls

Was ist die europarechtskonforme Auslegung?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nach Art. 19 Abs. 3 GG können die Grundrechte grundsätzlich auch auf juristische Personen anwendbar sein.

Ja!

Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Grundrechte sind ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar, wenn das Grundrecht kollektiv ausgeübt werden kann, d.h. wenn das Grundrecht nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen anknüpft. Die Wahrnehmung der Berufsfreiheit knüpft nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen an. Vielmehr wird die berufliche Tätigkeit oft und regelmäßig von und in juristischen Personen und Personenvereinigungen des Privatrechts ausgeübt. Nach Art. 19 Abs. 3 GG können sich daher juristische inländische Personen grundsätzlich auf Art. 12 GG berufen. Zur Erinnerung: Der Wortlaut einer Norm ist der Ausgangspunkt Deiner Auslegung.
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2. G hat ihren Sitz nicht in Deutschland. Umfasst der ausdrückliche Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG auch ausländische juristische Personen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Inländisch bedeutet, dass die juristische Person ihren Sitz in Deutschland hat. Damit sind ausländische juristische Personen, also solche ohne Sitz in Deutschland, gerade nicht vom Wortlaut der Norm umfasst.Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG könnte G sich damit nicht auf deutsche Grundrechte bzw. konkret auf Art. 12 GG berufen. Die Wortlautauslegung bildet in den meisten Fällen jedoch nicht das Ende Deiner Prüfung. Das Ergebnis der Auslegung des reinen Wortlaut kannst Du ggf. durch andere Auslegungsmethoden relativieren. Wegen des eindeutigen Wortlauts von Art. 19 Abs. 3 GG hat das BVerfG die Anwendbarkeit auf ausländische juristische Personen ausgeschlossen (vgl. BVerfGE 12, 6, 8; 18, 441, 447; 21, 362, 373; 64, 1, 11). Mit der – hier relevanten – spezielleren Frage, ob ausländische juristische Personen, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben, Träger materieller Grundrechte des Grundgesetzes sein können, befasste sich das BVerfG erstmalig im Jahr 2011 (BVerfG, Besch. v. 19.07.2011 - 1 BvR 1916/09).

3. L liest weiter, dass sich G auf das europäische Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV berufen hat. Können europarechtliche Regelungen grundsätzlich Auswirkung auf das Ergebnis einer Auslegung haben?

Ja, in der Tat!

Die Rechtsordnung ist hierarchisch aufgebaut. Innerhalb dieser Hierarchie muss man Wertungswidersprüche vermeiden. Zur systematischen Auslegung kann man deswegen auch die verfassungskonforme, die völkerrechtskonforme und die europarechtskonforme Auslegung zählen. Auslegungsziel ist es, die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu sichern (= geltungserhaltende Auslegung). Stehen zwei oder mehr Auslegungsmöglichkeiten zur Verfügung, von denen nur eine dem höherrangigen Recht entspricht, so musst Du diese wählen. Art. 18 AEUV verbietet jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts.

4. Nach der europarechtskonformen Auslegung könnte Art. 19 Abs. 3 GG auch für juristische Personen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat gelten.

Ja!

Auslegungsziel ist es, die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu sichern (= geltungserhaltende Auslegung). Die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 Abs. 1 AEUV) stehen im Anwendungsbereich des Unionsrechts einer Ungleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen aus der EU entgegen. Das EU-Recht beansprucht gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten Anwendungsvorrang und muss wirksam durchgesetzt werden (effet utile). Das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV hat damit eine Ausstrahlungswirkung auf die Auslegung von Art. 19 Abs. 3 GG.

5. Wäre Art. 19 Abs. 3 GG auch dann auch ausländische juristische Personen des Privatrechts anwendbar, wenn damit die äußerste Wortlautgrenze von Art. 19 Abs. 3 GG überschritten würde?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zur Erinnerung: Die Wortlautauslegung ist der Ausgangspunkt der Auslegung und zugleich die Begrenzung hinsichtlich der möglichen Auslegungsziele. Eine Auslegung, die mit der maximal möglichen Bedeutung des Wortlauts nicht vereinbar ist, ist unzulässig. Die „maximal mögliche Bedeutung“ eines Wortes musst Du ebenfalls durch Auslegung ermitteln, wobei ein gewisser Spielraum besteht (wie insbesondere dieser Fall zeigt). Das BVerfG hat festgestellt: Der Verfassungsgesetzgeber wollte mit dem gewählten Wort „inländisch“ nicht bewusst eine Berufung auf die Grundrechte auch seitens juristischer Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union dauerhaft auszuschließen. Vielmehr hat der Verfassungsgeber diesen möglichen Anwendungsfall gar nicht „mitgedacht“, da die Entwicklung eines „gemeinsamen Europas“ in den Jahren 1948/49 noch am Anfang stand (RdNr. 84). Hintergrund der konkreten Formulierung von Art. 19 Abs. 3 GG war allein die Überlegung, dass es keinen Grund dafür gäbe, ausländischen juristischen Personen die Berufung auf deutsche Grundrechte zu gewähren (RdNr. 84). Das BVerfG erforscht hier also mit Hilfe der historischen Auslegung, was der Gesetzgeber mit „inländisch“ gemeint haben könnte und kommt zu dem Schluss, dass die äußerste Wortlautgrenze nicht überschritten sei, da das Wort hier nur im Gegensatz zu „ausländischen“ Nicht-Mitgliedstaaten gedacht sei. Dieses Beispiel zeigt anschaulich das Zusammenspiel verschiedener Auslegungsmethoden.
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