Strafrecht AT | Vorsatz | Das Wissen um die Tatbestandsverwirklichung, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB (Vermeintliches Wildschwein)


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S, der nicht gut sehen kann, geht auf die Jagd. Als es im Gebüsch raschelt und sich etwas bewegt, nimmt er an, ein Wildschwein vor sich zu haben und drückt ab. In Wirklichkeit handelt es sich aber um seinen Jägerkollegen J. S trifft ihn tödlich.

Einordnung des Falls

Strafrecht AT | Vorsatz | Das Wissen um die Tatbestandsverwirklichung, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB (Vermeintliches Wildschwein)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, ist strafbar wegen Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Richtig! "Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht" (§ 15 StGB). Vorsätzliche Tötungen werden nach § 212 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft. Wenn eines der sog. "Mordmerkmale" des § 211 Abs. 1 StGB vorliegt (z.B. Tötung aus Habgier oder heimtückische Tötung), handelt es sich um eine ganz besonders verwerfliche Art der vorsätzlichen Tötung, auf die zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe folgt. Wer "nur" fahrlässig tötet, d.h. ohne Vorsatz, wird nach § 222 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

2. S hat sich strafbar gemacht wegen Totschlags, indem er J vorsätzlich getötet hat (§ 212 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Der objektive Tatbestand ist hier leicht zu prüfen: J ist tot und S hat dies verursacht. Die Frage ist, ob S mit Vorsatz handelte. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Nicht vorsätzlich handelt, wer „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“ (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Kenntnis der konkreten Tatumstände verlangt Wissen, wobei auch ein Für-möglich-Halten genügt. Indem S sich vorstellte, auf ein Wildschwein zu schießen, hatte er eine Fehlvorstellung. Er kannte den Umstand nicht, dass er einen Menschen erschießt und er hielt dies auch nicht für möglich. S unterlag einem Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Er ist nicht strafbar wegen vorsätzlicher Tötung.

3. S hat sich strafbar gemacht wegen fahrlässiger Tötung, indem er J erschossen hat (§ 222 StGB).

Ja!

Der Tatbestandsirrtum schließt nur die Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Totschlags aus, nicht jedoch die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung (§ 16 Abs. 1 S. 2 StGB). § 222 StGB setzt voraus, dass der Täter den Tod eines Menschen verursacht, indem er eine Sorgfaltspflicht verletzt und den Tod als mögliche Folge hätte voraussehen können. Welche Sorgfaltspflichten gelten, hängt davon ab, wie ein gewissenhafter Mensch sich verhalten würde. Ein sorgfältiger Jäger mit nur eingeschränktem Sehvermögen prüft vor Schussabgabe die Identität des Zielobjektes. Indem S ohne jegliche Absicherung auf J geschossen hat, hat er die verkehrserforderliche Sorgfalt verletzt und sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht (§ 222 StGB).

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JEI

Jeilla

26.8.2020, 13:36:24

Muss man den Tatbestandsirrtum vom error in objecto abgrenzen?

LH

L. H.

1.12.2020, 16:27:40

Hallo Jeilla, ja, das muss man. Beim error in persona vel objecto will der Täter den Tatbestand (hier: das Töten eines [!] anderen Menschen) verwirklichen und tut dies auch. Dass er dabei über die Identität des angegriffenen Menschen bzw. Objektes irrt, ändert nichts an der Tatbestandsmäßigkeit. Der Vorsatz entfällt dort nämlich nicht.

Edward Hopper

Edward Hopper

31.5.2022, 22:23:06

Bin der Meinung, der SV gibt nicht genug Anhaltspunkte für einen 222, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.6.2022, 19:17:36

Hallo besserwisser, vielen Dank für Deinen Kommentar :-) Welche Angaben haben Dir hier denn gefehlt? Grundsätzlich muss man beim Umgang mit Schusswaffen besonders große Vorsicht an den Tag legen. Aus unserer Sicht genügen deshalb die vorliegenden Angaben, um eine fahrlässige Tötung hier zu bejahen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Edward Hopper

Edward Hopper

20.6.2022, 17:34:26

Zum Beispiel, dass die Route oft von anderen Jägern benutzt wird oder dass gerade Jagdsaison eröffnet ist o. Ä. Aber kann auch die andere ansicht nachvollziehen

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

21.10.2022, 20:53:12

Könnte man die Tatsache, dass der S, trotz seines eingeschränkten Sehvermögens, den Jagdschein besitzt und trotz diesen Umstandes eine scharfe Waffe bedient hat, anfechten? Im Grunde wurde auch dort die Sorgfaltspflicht verletzt, was schlussendlich dazu geführt hat, dass ein Mensch gestorben ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.10.2022, 11:02:56

Hallo M_, vielen Dank für Deine Nachfrage. So ganz konnte ich ihr allerdings noch nicht folgen. Dass sich jedenfalls S der fahrlässigen Tötung strafbar gemacht hat, ist hier eindeutig. Denn zumindest für ihn war klar, dass er nicht gut sehen konnte. Geht es Dir nun um die strafrechtlicheh Verantwortlichkeit der Mitarbeiter:in, die den Jagdschein ausgestellt hat? Daran könnte man in der Tat denken. Denn bei fehlender körperlicher EIgnung ist der Jagdschein zu versagen (vgl. zB § 17 Abs. 1 Nr. 2 BJagdG). Allerdings fehlen hierfür Sachverhaltsangaben. Insbesondere ist nicht klar, ob die Sehschwäche bereits bei Ausstellung des Jagdscheins vorlag. Natürlich kann man den Jagdschein auch nachträglich einziehen, dazu müsste die Behörde aber zunächst einmal Kenntnis davon erlangen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung des Jagdscheins nachträglich weggefallen sind. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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