Garantenstellung bei der Aussetzung mit Todesfolge („Weidener Flutkanal-Prozess")


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A, B und O trinken zusammen in einer Bar. Als ihre Bekannte F sie abholt, müssen A und B den stark alkoholisierten O auf dem Weg nach draußen stützen. Während F ihr Auto holt, fällt O zunächst unbemerkt das Kanalufer hinab. A und B gehen zu ihm, helfen ihm aber nicht. Beim Versuch aufzustehen, fällt O ins Wasser, treibt außer Sicht und ertrinkt. Als sie ihn nicht mehr finden, fahren A, B und F nach Hause. Per SMS erkundigen sie sich nach ihm.

Einordnung des Falls

Garantenstellung bei der Aussetzung mit Todesfolge („Weidener Flutkanal-Prozess")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A, B und F könnten sich eines Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 Abs. 1, 13 StGB schuldig gemacht haben.

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Ja, in der Tat!

Objektiv erfordert ein Totschlag durch Unterlassen (1) den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs (Tod), (2) das Unterlassen der gebotenen und möglichen Rettungshandlung, (3) die (Quasi-)Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolg, (4) die objektive Zurechenbarkeit sowie (5) eine Garantenstellung. Subjektiv ist Tötungsvorsatz erforderlich.

2. Eine Strafbarkeit von A, B und F wegen Totschlags durch Unterlassen scheitert mangels Tötungsvorsatz (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB).

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Ja!

Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands (voluntatives Element) in Kenntnis aller objektiven Tatumstände (kognitives Element) handelt. Er muss zumindest mit bedingtem Vorsatz handeln (dolus eventualis). Nach der h.M. liegt bedingter Vorsatz vor, wenn der Täter den Erfolg ernsthaft für möglich hält und diesen billigend in Kauf nimmt. Dies ist anhand einer Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände zu beurteilen. Dass A und B zu O hinabgestiegen sind, zeigt zwar, dass sie seine Gefahrenlage erkannt haben. Es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass A, B oder F den Tod des O billigend in Kauf genommen haben. Dass sie sich per SMS nach seinem Wohlbefinden erkundigt haben, zeigt auch, dass sie auf ein gutes Ende vertrauten. Sie handelten nicht vorsätzlich (RdNr. 36ff. ).Fehlt es offensichtlich am Tötungsvorsatz, so kann es sich anbieten, die Prüfung direkt unter Verweis auf den fehlenden Vorsatz abzubrechen.

3. A, B und F könnten sich aber wegen Aussetzung mit Todesfolge strafbar gemacht haben (§ 221 Abs. 1, 3 StGB).

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Genau, so ist das!

§ 221 Abs. 1 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt in Form eines zusammengesetzten Delikts: Es hat einen Handlungs- und einen Gefährdungsteil. Der Handlungsteil unterscheidet zwei Tatvarianten: Das Versetzen in eine hilflose Lage (Nr. 1) und das Im-Stich-Lassen in einer hilflosen Lage (§ 13 StGB) (Nr. 2). Der Gefährdungsteil ist für beide Tatvarianten identisch: Voraussetzung ist der Eintritt einer konkreten Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung. Die Gefahr muss durch die Tathandlung eingetreten sein, also kausal und zurechenbar auf der Handlung beruhen. § 221 Abs. 3 StGB normiert eine Erfolgsqualifikation, die erfüllt ist, wenn sich die der Aussetzung eigentümliche Gefahr im Tod realisiert.

4. O befand sich in einer hilflosen Lage, als er am Ufer des Flutkanals lag und sich nicht helfen konnte (§ 221 Abs. 1, 3 StGB).

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Ja, in der Tat!

Eine hilflose Lage ist eine Situation, in der das Opfer außerstande ist, sich aus eigener Kraft oder mit Hilfe schutzbereiter und schutzfähiger anderer Personen vor drohenden abstrakten Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahren zu schützen. O war, als er am Ufer des Flutkanals lag, so stark alkoholisiert, dass er dort nicht mehr selbst wegkam. Es waren auch keine hilfsbereiten Personen anwesend. O war in einer hilflosen Lage.

5. A, B und F haben O in diese hilflose Lage versetzt (§ 221 Abs. 1, 3 StGB).

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Nein!

Der Begriff des Versetzens ist nach h.M. weit zu verstehen und meint die auf beliebige Art und Weise erfolgende Herbeiführung der hilflosen Lage durch den Täter. O ist ohne Zutun von A, B und F zum Ufer hinab gestürzt, er hat sich also selbst in die hilflose Lage verbracht. A, B und F haben die Lage nicht herbeigeführt.

6. A, B und F haben O aber im Stich gelassen (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

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Genau, so ist das!

Unter dem Im-Stich-Lassen versteht man jedes Nichthelfen trotz Helfenkönnens und Helfenmüssens. Unter § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB fallen also nicht nur Fälle, in denen sich Täter von der ihm anvertrauten Person räumlich entfernt oder von vorneherein eine Anwesenheit vermeidet, sondern auch solche in denen der Täter beim Opfer bleibt, ihm aber die mögliche Hilfe nicht leistet. A, B und F haben O nicht geholfen, obwohl es ihnen möglich gewesen wäre, O zu helfen vom Ufer wegzukommen oder zumindest einen Notruf abzugeben. Sie haben ihn in seiner hilflosen Lage im Stich gelassen.

7. Um § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwirklichen zu können, müssen A, B und F eine Garantenstellung innehaben.

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Ja, in der Tat!

§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt ein Sonderdelikt dar, das nur von Garanten (§ 13 Abs. 1 StGB) verwirklicht werden kann (,,in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist‘‘). Obhut ist ein faktisch bestehendes Schutz- und Betreuungsverhältnis. Für eine Beistandspflicht sind die Grundsätze heranzuziehen, die auch für die Garantenstellung bei unechten Unterlassungsdelikten gelten. Die allgemeinen Hilfspflichten nach § 323c Abs. 1 StGB (unterlassene Hilfeleistung) reichen nicht aus.

8. Haben A und B eine Garantenstellung innegehabt?

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Ja!

BGH: Eine Obhuts- und Beistandspflicht entstehe nicht schon dadurch, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen in irgendeiner Art Unterstützung geleistet wird. Allerdings könne eine bereits begonnene Hilfeleistung eine Garantenpflicht begründen, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen so wesentlich verändert, dass andere Rettungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden oder so vorher nicht bestehende Gefahren geschaffen werden (RdNr. 21). Indem A und B dem O aus der Bar geholfen haben, haben sie ihn aus dem Einflussbereich anderer Gäste und des Wirtes entfernt. Zudem waren die dem O drohenden Gefahren außerhalb der Bar wesentlich höher. So wurde eine Garantenstellung aus tatsächlicher Übernahme begründet (RdNr. 22).

9. Auch F traf eine Garantenpflicht.

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Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Bezüglich F sei eine Garantenpflicht zu verneinen. Zwar habe sie aufgrund des gemeinsamen Ausflugs mit ihren Bekannten A, B und O eine Gemeinschaft gebildet. Doch ergeben sich aus der bloßen Gruppenzugehörigkeit noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. F habe lediglich Fahrdienste angeboten. Darüber hinaus habe sie weder durch ausdrückliche Erklärung noch durch schlüssiges Verhalten erklärt, für das Wohl des O einsetehen zu wollen. Sie habe keine unmittelbare Hilfe geleistet und auch sonst eine gewisse Distanz zum Geschädigten gehalten (RdNr. 31ff.).

10. Die Garantenpflicht von A und B entfiel, als O sich selbstständig unbemerkt von der Gruppe entfernte.

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Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Eine Garantenstellung aus tatsächlicher Übernahme könne grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Jedoch erlösche die Pflicht zum Beistand erst, wenn der auf Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen kann, sich nicht mehr in der hilflosen Lage befindet oder die Hilfe erkennbar nicht mehr möchte (RdNr. 23). Vorliegend verblieb O in einer hilflosen Lage und konnte keine anderweitige Gefahrenvorsorge treffen. Darüber hinaus war er zu stark alkoholisiert, um eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber treffen zu können, ob er fremde Hilfe annehmen will oder nicht. Die Garantenpflicht bestand fort.

11. A und B haben sich der schweren Aussetzung nach § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB strafbar gemacht.

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Ja!

Indem A und B den O weder vom Ufer weggeholfen haben noch den Notruf gewählt haben, haben sie ihn in einer hilflosen Lage im Stich gelassen und ihn so der Gefahr des Todes ausgesetzt. Damit haben sie den objektiven Tatbestand des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt. Die der Aussetzung eigentümliche Gefahr hat sich in der schweren Folge, dem Tod des O, verwirklicht. Sie kannten alle Umstände, die zur Tatbestandsverwirklichung führen, und billigten den Erfolgseintritt (Gefährdung, nicht Tod!). Sie handelten also vorsätzlich. Hinsichtlich der schweren Folge waren sie wenigstens fahrlässig. Sie handelten rechtswidrig und schuldhaft.

12. F bleibt dagegen straflos.

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Nein, das ist nicht der Fall!

F ist zwar mangels einer sie treffenden Garantenpflichten nicht der schweren Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB) strafbar. In Betracht kommt jedoch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB).Den objektiven Tatbestand des § 323c Abs. 1 StGB verwirklicht, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. Indem F erkannte, dass O Hilfe benötigt und trotzdem keine ihr mögliche und zumutbare Hilfeleistungshandlung unternahm, erfüllt sie den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Sie handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. Eine Strafbarkeit nach § 323c Abs. 1 StGB liegt vor. Bei A und B tritt der tateinheitlich verwirklichte § 323c Abs. 1 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) zurück.

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