Öffentliches Recht

VwGO

Anfechtungsklage

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

22. November 2024

4,8(20.266 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A demonstriert in Berlin für die Umsetzung eines Volksentscheids. Sie schwenkt eine Fahne, die weder Menschen gefährdet noch den Verkehr blockiert. Polizist P spricht gegenüber A formell rechtmäßig die Sicherstellung der Fahne nach der einschlägigen polizeirechtlichen (landesrechtlichen) Rechtsgrundlage aus. A erhebt Anfechtungsklage.

Diesen Fall lösen 78,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A begehrt die Herausgabe ihrer Fahne. Statthaft ist damit die allgemeine Leistungsklage.

Nein!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren. Begehrt der Kläger ein behördliches Realhandeln, ist die allgemeine Leistungsklage statthaft. Steht dem begehrten Realhandeln jedoch ein wirksamer Verwaltungsakt entgegen, muss der Kläger diesen zunächst anfechten (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO). A kommt es zwar letztlich darauf an, ihre Fahne wiederzubekommen. Die Sicherstellung (= polizeirechtliche Standardmaßnahme) ist allerdings ein Verwaltungsakt. A muss erst die wirksame Sicherstellung anfechten, bevor sie erfolgreich die Herausgabe der Fahne verlangen kann. Die Herausgabe der Fahne kann A im Rahmen eines Annexantrags zur Anfechtungsklage verlangen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Die Begründetheit der Anfechtungsklage setzt voraus, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Genau, so ist das!

Eine Anfechtungsklage ist begründet, soweit der (belastende) Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Geprüft wird die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakt sowie die individuelle Rechtsverletzung. Ein Verwaltungsakt, durch den der Kläger in seinen Rechten verletzt wird, ist immer auch rechtswidrig, aber ein Verwaltungsakt, der rechtswidrig ist, verletzt nicht auch immer Rechte des Klägers. In dieser zusätzlichen Voraussetzung spiegelt sich wider, dass die Anfechtungsklage kein objektives Beanstandungsverfahren rechtswidriger Verwaltungsakte ist, sondern immer auch eine subjektive Rechtsverletzung erfordert.

3. Die Sicherstellung ist aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen.

Ja, in der Tat!

Ein Verwaltungsakt ist rechtmäßig, wenn er aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen ist und im übrigen formell und materiell rechtmäßig ist. Im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage wird daher zunächst geprüft, ob eine rechtmäßige Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Verwaltungsakts bestand. Als Ermächtigungsgrundlage kommt hier die jeweils einschlägige landesrechtliche Rechtsgrundlage für die Sicherstellung in Betracht (hier: § 38 ASOG Bln; vgl. auch § 26 NPOG, Art. 25 PAG, § 43 PolG NRW). An der Rechtmäßigkeit dieser Vorschriften bestehen keine Zweifel. Eine Ermächtigungsgrundlage ist rechtmäßig, wenn sie mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Sollte dies in der Klausur einmal ausführlicher zu thematisieren sein, wirst Du dazu entsprechende Hinweise im Sachverhalt finden.

4. Die Sicherstellung war formell rechtswidrig.

Nein!

Es muss (1) eine rechtmäßige Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Verwaltungsakts gegeben haben. Zudem muss der Verwaltungsakt (2) formell rechtmäßig ergangen sein. Formell rechtmäßig ist ein Verwaltungsakt, wenn er die anwendbaren Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften einhält. Die Zuständigkeit der Polizei ergibt sich aus den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen. Die Sicherstellung war auch im übrigen formell rechtmäßig, insbesondere konnte sie mündlich ausgesprochen werden (§ 37 Abs. 2 S. 1 Alt. 3 VwVfG). Aus der Ermächtigungsgrundlage ergeben sich häufig spezielle formelle Regelungen für den Erlass des Verwaltungsakts. Prüfe erst das speziellere Gesetz, bevor Du auf die allgemeinen Regeln des VwVfG abstellst.

5. Die materielle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt zunächst voraus, dass der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist. Ist der Tatbestand der Sicherstellung (§ 38 ASOG Bln) hier erfüllt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Im letzten Schritt muss im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage geprüft werden, ob der Verwaltungsakt materiell rechtmäßig ist. Materiell rechtmäßig ist ein Verwaltungsakt, wenn er mit dem materiellen Recht vereinbar ist. Dafür müssen die materiellen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt sein. Das bedeutet, dass der Tatbestand der Norm erfüllt ist und die Behörde richtige Rechtsfolge angeordnet hat. Die Sicherstellung setzt tatbestandlich eine gegenwärtige Gefahr voraus. Das Schwenken der Fahne ist keine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 38 Nr. 1 ASOG Bln. Auch die anderen Tatbestandsalternativen kommen nicht in Betracht. Damit ist schon der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage nicht erfüllt.

6. Der rechtswidrige Verwaltungsakt verletzt A in ihren Rechten. Die Klage ist begründet.

Ja, in der Tat!

Ist der Kläger der Adressat eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, muss die subjektive Rechtsverletzung nicht zusätzlich geprüft werden. Dass der rechtswidrige Verwaltungsakt Wirkung für und gegen den Kläger entfaltet, beinhaltet die erforderliche subjektive Rechtsverletzung. Die Anfechtungsklage ist begründet und das Gericht hebt den Verwaltungsakt auf (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Liegt eine Verletzung eines speziellen subjektiven Rechts vor, sollte diese aber genannt werden. A ist bereits als Adressatin des materiell rechtswidrigen Verwaltungsakts in ihren subjektiven Rechten verletzt. Die zunächst denkbare Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG solltest Du an dieser Stelle nicht thematisieren. Denn Art. 14 Abs. 1 GG wird als normgeprägtes Grundrecht ja gerade durch § 38 ASOG Bln ausgeformt.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dolusdave

Dolusdave

17.5.2022, 21:06:23

Warum ist in diesem Fall keine Fortsetzungs

feststellungsklage

einschlägig? Hat sich der VA nicht durch die Sicherstellung erledigt?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

18.5.2022, 15:41:26

Hallo Dolusdave, der Vollzug der Sicherstellungsanordnung führt noch nicht zu deren Erledigung, da die Anordnung weiterhin den Rechtsgrund dafür bildet, dass die Fahne einbehalten werden darf. Sollten die Voraussetzungen der Sicherstellung anfangs vorgelegen haben und später weggefallen sein, so muss allerdings nach hM nicht erst der VA angefochten werden. In diesem Fall kommt vielmehr direkt die

Leistungsklage

in Betracht (vgl. https://applink.jurafuchs.de/HtCJg25c8pb). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PR

Prokurist

19.10.2022, 12:44:07

Ein sehr gutes Kapitel mit vielen hilfreichen Klausurhinweisen 👍

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

11.11.2023, 13:42:25

Hi, handelt es sich hierbei um den Folgenbeseitigungsansruch als besondere Form der allg.

Leistungsklage

? LG benny :)

LELEE

Leo Lee

11.11.2023, 14:41:56

Hallo Benny0707, genauso ist es! Die prozessuale Einkleidung des FBA ist eine allg. LK, da hier eine schlichte hoheitliche Habdlung (Beseitigung) begehrt wird :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

15.11.2023, 15:41:37

Super. Vielen Dank für die rasche Feststellung!

LELEE

Leo Lee

15.11.2023, 15:43:12

Sehr gerne :)!

HI

Hille93

31.7.2024, 16:56:57

Liebes Jura🦊 Team, vllt könntet ihr zur Vertiefung noch etwas zur Begründung des öffentlich-rechtlichen Verwahrungsverhältnisses durch die Sicherstellung ergänzen. Falls es gut reinpasst... Besten Dank :)

Foxxy

Foxxy

5.8.2024, 16:41:03

Hallo Hille93, vielen Dank für Deinen Vorschlag! Wir haben ihn notiert und werden in einer der nächsten Redaktionssitzungen prüfen, inwiefern wir hierzu noch weitere Aufgaben mit aufnehmen können. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community

Weitere für Dich ausgwählte Fälle

Jurafuchs

Grundfall: Isolierte Anfechtung begründet, weil NB rechtswidrig

A ist Träger einer Waldorfschule, welche als Ersatzschule genehmigt ist. A beantragt eine Genehmigung für die Erweiterung der Schule um die Klassen 7 bis 9. Behörde B erlässt die Genehmigung mit dem formell rechtmäßigen Zusatz, dass diese widerrufen werden kann, wenn kombinierte Klassen aus verschiedenen Jahrgangsstufen gebildet werden.

Fall lesen

Jurafuchs

Isolierte Anfechtung unbegründet, weil NB rechtmäßig

L hat die libanesische Staatsangehörigkeit. Von der zuständigen Ausländerbehörde B bekommt L eine Duldung mit folgendem Zusatz erteilt: „Erlischt bei Besitz eines zur Ausreise bzw. Rückführung berechtigenden Dokuments“. L meint, die Nebenbestimmung sei zu unbestimmt.

Fall lesen

Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen