Öffentliches Recht

VwGO

Anfechtungsklage

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A demonstriert in Berlin für die Umsetzung eines Volksentscheids. Sie schwenkt eine Fahne, die weder Menschen gefährdet noch den Verkehr blockiert. Polizist P spricht gegenüber A formell rechtmäßig die Sicherstellung der Fahne nach der einschlägigen polizeirechtlichen (landesrechtlichen) Rechtsgrundlage aus. A erhebt Anfechtungsklage.

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Einordnung des Falls

§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO: AK begründet, weil VA materiell rechtswidrig

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A begehrt die Herausgabe ihrer Fahne. Statthaft ist damit die allgemeine Leistungsklage.

Nein!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren. Begehrt der Kläger ein behördliches Realhandeln, ist die allgemeine Leistungsklage statthaft. Steht dem begehrten Realhandeln jedoch ein wirksamer Verwaltungsakt entgegen, muss der Kläger diesen zunächst anfechten (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO). A kommt es zwar letztlich darauf an, ihre Fahne wiederzubekommen. Die Sicherstellung (= polizeirechtliche Standardmaßnahme) ist allerdings ein Verwaltungsakt. A muss erst die wirksame Sicherstellung anfechten, bevor sie erfolgreich die Herausgabe der Fahne verlangen kann. Die Herausgabe der Fahne kann A im Rahmen eines Annexantrags zur Anfechtungsklage verlangen.
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2. Die Begründetheit der Anfechtungsklage setzt voraus, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Genau, so ist das!

Eine Anfechtungsklage ist begründet, soweit der (belastende) Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Geprüft wird die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakt sowie die individuelle Rechtsverletzung. Ein Verwaltungsakt, durch den der Kläger in seinen Rechten verletzt wird, ist immer auch rechtswidrig, aber ein Verwaltungsakt, der rechtswidrig ist, verletzt nicht auch immer Rechte des Klägers. In dieser zusätzlichen Voraussetzung spiegelt sich wider, dass die Anfechtungsklage kein objektives Beanstandungsverfahren rechtswidriger Verwaltungsakte ist, sondern immer auch eine subjektive Rechtsverletzung erfordert.

3. Die Sicherstellung ist aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen.

Ja, in der Tat!

Ein Verwaltungsakt ist rechtmäßig, wenn er aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen ist und im übrigen formell und materiell rechtmäßig ist. Im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage wird daher zunächst geprüft, ob eine rechtmäßige Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Verwaltungsakts bestand. Als Ermächtigungsgrundlage kommt hier die jeweils einschlägige landesrechtliche Rechtsgrundlage für die Sicherstellung in Betracht (hier: § 38 ASOG Bln; vgl. auch § 26 NPOG, Art. 25 PAG, § 43 PolG NRW). An der Rechtmäßigkeit dieser Vorschriften bestehen keine Zweifel. Eine Ermächtigungsgrundlage ist rechtmäßig, wenn sie mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Sollte dies in der Klausur einmal ausführlicher zu thematisieren sein, wirst Du dazu entsprechende Hinweise im Sachverhalt finden.

4. Die Sicherstellung war formell rechtswidrig.

Nein!

Es muss (1) eine rechtmäßige Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Verwaltungsakts gegeben haben. Zudem muss der Verwaltungsakt (2) formell rechtmäßig ergangen sein. Formell rechtmäßig ist ein Verwaltungsakt, wenn er die anwendbaren Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften einhält. Die Zuständigkeit der Polizei ergibt sich aus den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen. Die Sicherstellung war auch im übrigen formell rechtmäßig, insbesondere konnte sie mündlich ausgesprochen werden (§ 37 Abs. 2 S. 1 Alt. 3 VwVfG). Aus der Ermächtigungsgrundlage ergeben sich häufig spezielle formelle Regelungen für den Erlass des Verwaltungsakts. Prüfe erst das speziellere Gesetz, bevor Du auf die allgemeinen Regeln des VwVfG abstellst.

5. Die materielle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt zunächst voraus, dass der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist. Ist der Tatbestand der Sicherstellung (§ 38 ASOG Bln) hier erfüllt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Im letzten Schritt muss im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage geprüft werden, ob der Verwaltungsakt materiell rechtmäßig ist. Materiell rechtmäßig ist ein Verwaltungsakt, wenn er mit dem materiellen Recht vereinbar ist. Dafür müssen die materiellen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt sein. Das bedeutet, dass der Tatbestand der Norm erfüllt ist und die Behörde richtige Rechtsfolge angeordnet hat. Die Sicherstellung setzt tatbestandlich eine gegenwärtige Gefahr voraus. Das Schwenken der Fahne ist keine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 38 Nr. 1 ASOG Bln. Auch die anderen Tatbestandsalternativen kommen nicht in Betracht. Damit ist schon der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage nicht erfüllt.

6. Der rechtswidrige Verwaltungsakt verletzt A in ihren Rechten. Die Klage ist begründet.

Ja, in der Tat!

Ist der Kläger der Adressat eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, muss die subjektive Rechtsverletzung nicht zusätzlich geprüft werden. Dass der rechtswidrige Verwaltungsakt Wirkung für und gegen den Kläger entfaltet, beinhaltet die erforderliche subjektive Rechtsverletzung. Die Anfechtungsklage ist begründet und das Gericht hebt den Verwaltungsakt auf (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Liegt eine Verletzung eines speziellen subjektiven Rechts vor, sollte diese aber genannt werden. A ist bereits als Adressatin des materiell rechtswidrigen Verwaltungsakts in ihren subjektiven Rechten verletzt. Die zunächst denkbare Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG solltest Du an dieser Stelle nicht thematisieren. Denn Art. 14 Abs. 1 GG wird als normgeprägtes Grundrecht ja gerade durch § 38 ASOG Bln ausgeformt.
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