+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Seit der umstrittenen Justizreform in Polen üben Legislative und Exekutive starken Einfluss auf den Nationalen Justizrat aus – das Verfassungsorgan, das für die Besetzung aller Richterposten zuständig ist. Gegen die Ablehnung ihrer Bewerbungen wehren sich zwei Richterinnen vor einer eigens geschaffenen Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs – ohne Erfolg.
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Einordnung des Falls
Richterliche Unabhängigkeit nach EMRK
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet ein Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteiischen Gericht.
Ja, in der Tat!
Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet das Recht auf Verhandlung einer Rechtssache durch ein auf Gesetz beruhendes, unabhängiges und unparteiisches Gericht (sog. fair-trial-Garantien). Durch die beiden daraus folgenden subjektiven Rechte auf einen gesetzlichen Richter und auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht wird der Einzelne befähigt, die Organisationsgarantien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung durchzusetzen. Art. 6 Abs. 1 EMRK setzt damit zugleich objektive rechtsstaatliche Bedingungen für die Gerichtsorganisation in den EMRK-Konventionsstaaten.
Bisher prüft der EGMR Konventionverletzungen im Rahmen der polnischen Justizreform einzelfallbasiert (vgl. auch EGMR, Xero Flor we Polsce vs. Polen und Reczkowicz vs. Polen). Angesichts der strukturellen Natur wäre auch ein sog. Piloturteilsverfahren nach Art. 61 EGMR-Verfahrensordnung denkbar.
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2. Die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK setzt ein Verfahren über einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine strafrechtliche Anklage voraus. Fehlt es daran?
Nein!
Art. 6 Abs. 1 EMRK setzt nach seinem Wortlaut Verfahren über zivilrechtliche Anspruch oder Verpflichtungen oder eine strafrechtliche Anklage voraus. Dabei wird der Begriff der zivilrechtlichen Ansprüche weit verstanden. Darunter fallen auch Verfahren über solche Rechte, die unmittelbare und erhebliche Auswirkungen auf ein zivilrechtliches, (nicht-)vermögensrechtliches Recht einer Person zeitigen können. Die Ablehnung der Richterinnen betrifft deren Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern und damit eine öffentlich-rechtliche Garantie (RdNr. 230). Da die Realisierung dieses Rechts entscheidend ist für die berufliche Laufbahn, die finanziellen Situation und den Status, hat das Verfahren um die Ablehnung potenziell unmittelbare und erhebliche Auswirkungen auf zahlreiche private Rechte der Richterinnen. Ein Verfahren über einen zivilrechtlichen Anspruch i.S.d. Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt vor (RdNr. 231).
Der EGMR entscheidet über Beschwerden, nicht (Menschenrechts-)Klagen. Potenziell Verletzte treten als Beschwerdeführer, nicht Kläger auf, die beschwerde-, nicht klagebefugt sein müssen. Beachte diese Nomenklatur in deiner Falllösung.
3. Die Beschwerdebefugnis scheitert allerdings, weil die Richterinnen öffentliche Gewalt ausüben und daher keinen Schutz unter Art. 6 Abs. 1 EMRK genießen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Da öffentlich Bedienstete öffentliche Gewalt ausüben und damit in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat stehen, schränkt der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein. In diesen Fällen kann die Regel-Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK. ausnahmsweise entfallen, wenn ein Konventionsstaat (1) in seinem innerstaatlichen Recht den Zugang öffentlicher Bediensteter zu einem Gericht ausdrücklich ausschließt und (2) dieser Ausschluss durch objektive Gründe im Interesse des Staates gerechtfertigt ist (erstmals EGMR, Vilho Eskelinen vs. Finnland, 2007, RdNr. 50 ff.) Statt den Zugang auszuschließen, eröffnet polnisches Recht Richtern ausdrücklich eine Rechtsbehelfsmöglichkeit vor der sog. „Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten“, sodass die Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar bleiben (Rdnr. 231). Die Richterinnen sind beschwerdebefugt.
4. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet das Recht auf den gesetzlichen Richter und damit auch auf ordnungsgemäße Ernennung der richtenden Personen.
Ja, in der Tat!
Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet das Recht auf Verhandlung einer Rechtssache durch ein auf Gesetz beruhendes, unabhängiges und unparteiisches Gericht (sog. fair-trial-Garantien). Dazu zählt das eng mit den Garantien der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verknüpfte Recht auf den gesetzlichen Richter. Bereits in der Phase der Ernennung müssen die Konventionsstaaten die Judikative vor unzulässiger Einflussnahme der anderen Staatsgewalten schützen (RdNr. 316). Der EGMR versteht das Recht auf den gesetzlichen Richter daher auch als Recht auf Auswahl der richtenden Personen anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln .
Bei der Festlegung der Ernennungsregeln genießen Staaten einen weiten Ermessensspielraum. Schranken des Ermessensspielraums sind die Prinzipien der Gewaltentrennung und der Rechtsstaatlichkeit.
5. Das Recht der Richterinnen auf den gesetzlichen Richter ist gewahrt, wenn die Richter der entscheidenden Disziplinarkammer anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln ausgewählt wurden.
Ja!
Das Recht auf den gesetzlichen Richter erstreckt sich auch auf die Phase der Ernennung und gewährt daher ein Recht auf Auswahl der Richter anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln. Möglicher Anknüpfungspunkt einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die Disziplinarkammer, die über die Beschwerde der Richterinnen gegen die Ablehnung ihrer Bewerbungen um Richterposten durch den Nationalen Justizrat entscheidet. Diese wahrt Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn ihre Besetzung und Ernennung anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln erfolgte.
6. Jeder Verstoß gegen innerstaatliches Recht im Rahmen der Ernennung der Kammerrichter verletzt die Richterinnen in ihrem Recht auf Auswahl der richtenden Personen anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln.
Nein, das ist nicht der Fall!
Nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliches Recht im Rahmen der Richterernennung reicht für eine Konventionsverletzung. Notwendige Qualifikationen ergeben sich aus dem Schutzzweck des Rechts auf den gesetzlichen Richter – der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Daher stellt der EGMR eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter durch das Ernennungsverfahren anhand von drei Kriterien fest (sog. Ástráðsson-Test): (1) es müsse ein schwerwiegender Verstoß gegen innerstaatliches Recht vorliegen, (2) dieser Verstoß müsse geeignet sein, die richterliche Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu untergraben und (3) nicht wirksam von innerstaatlichen Gerichten kontrolliert worden sein (RdNr. 243).
Diesen Test entwickelte der EGMR erstmals 2020 in Guðmundur Andri Ástráðsson vs. Island. Die Literatur sah bereits in dieser Entscheidung den „Sargnagel“ für Elemente der polnischen Justizreform.
7. Ein polnisches Gesetz erlaubt dem Parlament die Mitbestimmung über die Besetzung des Nationalen Justizrates. Fehlt es deshalb am für Art. 6 Abs. 1 EMRK erforderlichen Verstoß gegen innerstaatliches Recht?
Nein, das trifft nicht zu!
Eine Verletzung des Rechts auf Auswahl der richtenden Personen anhand objektiver, transparenter und gesetzlich festgelegter Regeln setzt nach den Kriterien des sog. Ástráðsson-Test einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht voraus. Zwar bildet ein polnisches Gesetz die innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Mitbestimmung des Parlaments über die Besetzung des Landesjustizrates. In dieser erheblichen Einflussnahme der Legislative auf die Judikative liege jedoch ein „Affront gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung“ (RdNr. 318) – übergeordnete Prinzipien der EMRK (vgl. RdNr. 315) und auch der polnischen Verfassung (RdNr. 313 f.) Die Besetzungspraxis verstoße damit gegen polnisches Recht (RdNr. 320). Auch die übrigen Voraussetzungen des Ástráðsson-Tests seien erfüllt (RdNr. 353 ff.).
Der polnische Oberste Gerichtshof verneinte die Verfassungskonformität des neugeregelten Besetzungsverfahrens des Nationalen Justizrats – anders als das polnische Verfassungsgericht. Dessen a.A. weist der EGMR als willkürlich zurück (RdNr. 317) und schließt sich der Auffassung des Obersten Gerichtshofs (und des EuGH) an.
8. Der polnische Präsident ernannte die Richter der Kammer, obwohl der Oberste Gerichtshof die Aussetzung der Ernennung einstweilen angeordnet hatte. Liegt darin liegt eine Verletzung der Beschwerdeführerinnen in Art. 6 Abs. 1 EMRK?
Ja!
Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK setzt einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht voraus. Dieser Verstoß muss geeignet sein, die richterliche Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu untergraben und nicht wirksam von innerstaatlichen Gerichten kontrolliert worden sein. Indem der polnische Präsident durch die Ernennung der Richter vollendete Tatsachen schaffe, nehme er die anhängige gerichtliche Kontrolle vorweg (RdNr. 328) und missachte damit in eklatanter Weise das Rechtsstaatlichkeitsprinzip (RdNr. 338). Die übrigen Kriterien des Ástráðsson-Tests sein damit erfüllt und Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt (RdNr. 353ff.).
9. Eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerinnen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt vor. Ordnet der EGMR die Einstellung der Beschwerdeführerinnen als Richterinnen an?
Nein, das ist nicht der Fall!
Der EGMR hält Konventionsverletzungen in Feststellungsurteilen fest. Aus der Bindungswirkung (Art. 46 Abs. 1 EMRK) folgt die Aufforderung an den Staat, Verletzungen zu beheben bzw. einzustellen. Dabei kann der EGMR Vorgaben hinsichtlich des „Wie“ der Behebung machen. Art. 41 EMRK a.E. ermächtigt den EGMR, der verletzten Partei eine „gerechte Entschädigung“ monetärer Natur zuzusprechen. Der EGMR spricht den Beschwerdeführerinnen statt Schadensersatz für entgangenen Gewinn eine Entschädigung für immaterielle Schäden zu (RdNr. 363). Eine Einstellungsanordnung ermöglicht Art. 41 EMRK a.E. aber nicht. Zudem verzichtet der EGMR explizit auf Hinweise zur Behebung der rechtsstaatlichen Schieflage im polnischen Justizwesen (RdNr. 368).