+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
2011 nimmt E, Mitarbeiter des syrischen Geheimdiensts, Demonstranten gegen das syrische Assad-Regime fest. E bringt sie in ein für systematische Folter berüchtigtes Gefängnis. Die dort drohenden Misshandlungen nimmt E billigend in Kauf. In Deutschland wird E verhaftet und angeklagt.
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Einordnung des Falls
Das Urteil des OLG Koblenz im ersten Strafprozess wegen staatlicher Folter in Syrien wurde von Politikern, Menschenrechtsorganisationen und Opfern des Bürgerkriegs als "Meilenstein im Völkerrecht" und "Signal im Kampf gegen Straflosigkeit" gefeiert. Anwar R., ein syrischer Staatsbürger, wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter die Verantwortung für die Folter von mindestens 4.000 Menschen in einem Gefängnis des General Intelligence Directorate in Damaskus. Das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit im internationalen Strafrecht ermöglicht die Verfolgung möglicher Kriegsverbrechen, die von Ausländern in anderen Ländern begangen wurden.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Soweit ein hinreichender Anknüpfungspunkt zum Inland besteht, ist die Ausübung deutscher Strafgewalt über Straftaten mit Auslandsbezug völkerrechtlich zulässiG?
Genau, so ist das!
Das Völkerrecht misst jedem Staat das ausschließliche Recht zu, auf seinem Territorium Hoheitsgewalt auszuüben. Deshalb ist die Ausdehnung der Strafgewalt eines Staates auf fremde Territorien nicht zulässig, es sei denn, es besteht ein hinreichender inländischer Anknüpfungspunkt (sog. genuine link). Einen solchen liefern die Jurisdiktionsprinzipien des Strafanwendungsrechts: Territorialitätsprinzip (vgl. §§ 3, 9 Abs. 1 StGB), passives und aktives Personalitätsprinzip (vgl. § 7 Abs. 1, 2 StGB) und Schutzprinzip (vgl. § 5 StGB). Diese stellen einen Bezug zwischen Straftat und Inland her, der die Ausübung deutscher Strafgewalt über Straftaten mit Drittstaatsbezug zulässt. Das ist Spezialwissen und kommt allenfalls im völkerrechtlichen Schwerpunktklausuren dran.
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2. Wenn die Tat nicht in Deutschland verübt und der Täter kein deutscher Staatsbürger ist, darf ausnahmsweise die deutsche Strafgewalt auch ausgeübt werden?
Ja, in der Tat!
Das sog. Weltrechtsprinzip (auch: Universalitätsprinzip) erlaubt die Ausübung von Strafgewalt unabhängig von Tatort und Nationalität des Täters bei Straftaten gegen international geschützte Rechtsgüter. Diese sind der sog. domaine réservé (alleinige innere Angelegenheit) und damit dem Schutz der ausschließlichen Souveränität der Staaten entzogen. § 1 S. 1 des Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) verankert das Weltrechtsprinzip im deutschen Strafrecht für die Verfolgung und Aburteilung völkerstrafrechtlicher Kernverbrechen. Aufgenommen wurde § 1 Abs. 1 VStGB 2002 im Zuge des Umsetzungsgesetzes des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.
3. Erlaubt das Weltrechtsprinzip die Aburteilung ausländischer Straftaten nur bei hinreichendem Bezug zum Inland?
Nein!
Das Weltrechtsprinzip erlaubt die Ausübung von Strafgewalt unabhängig von Tatort und Nationalität des Täters. Auf einen inländischen Anknüpfungspunkt kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass die Straftat gegen international geschützte Rechtsgüter gerichtet ist. Aus Gründen der Praktikabilität und Prozessökonomie kann das innerstaatliche Recht jedoch Einschränkungen vorsehen. So hegt § 153f StPO das Weltrechtsprinzip ein: Bei Abwesenheit und keiner erwartbaren Anwesenheit des Tatverdächtigen auf deutschem Territorium greift anstatt des Legalitäts-, das Opportunitätsprinzip, der zuständige Generalbundesanwalt kann das Verfahren einstellen.
4. Beruhen die Strafverfolgung des E durch deutsche Behörden - hier den Generalbundesanwalt - und die Anklage vor deutschen Gerichten - hier dem OLG Koblenz - auf dem Weltrechtsprinzip?
Genau, so ist das!
Das Weltrechtsprinzip lässt Strafverfolgung und Strafjustiz unabhängig von Tatort und Nationalität des Täters bei Straftaten gegen international geschützte Rechtsgüter zu. Vorliegend geht es um von Mitgliedern des Assad-Regimes verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB). Deren Tatbestand schützt das Interesse der Völkergemeinschaft. Die Aussichtslosigkeit der Strafverfolgung durch die syrische Justiz verdeutlicht die Bedeutung des Weltrechtsprinzips, Straflosigkeit von Kernverbrechen des Völkerstrafrechts zu verhindern. Die Zuständigkeit des OLG Koblenz ergibt sich aus § 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG, die des Generalbundesanwalts aus § 142a GVG.
5. Steht die Anklage des E vor einem deutschen Gericht - hier dem örtlich und sachlich zuständigen OLG Koblenz - in Konflikt zu der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs?
Nein, das trifft nicht zu!
Im Verhältnis des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)zu den (Vertrags-)Staaten greift der Komplementaritätsgrundsatz (Art. 17 Abs. 1 lit. a, b des Römischen Statuts des IStGH): Der IStGH soll nur tätig werden, wenn die staatliche Justiz zur Strafverfolgung nicht willens oder in der Lage ist. Syrien ist zudem keine Vertragspartei des Römischen Statuts und unterliegt damit nicht der (örtlichen) Zuständigkeit des IStGH. Eine Überweisung der „Situation“ in Syrien in die Zuständigkeit des IStGH durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats (Art. 13 lit. b des Römischen Statuts des IStGH) scheiterte bisher an den Vetos Chinas und Russlands.
6. Steht einer Strafverfolgung des E bei Anwendung der Regeln des Völkerrechts das Verfahrenshindernis der Immunität entgegen?
Nein!
Bei der Ausübung staatlicher Funktionen genießen Individuen funktionale Immunität. Das gilt unstrittig für staatliche Hoheitsträger. Im Einzelnen strittig ist die Ausdehnung der Immunität auf einfache Staatsbedienstete. Diese wird teilweise gänzlich verneint, teilweise bejaht (so Art. 5, 2 lit. e der Draft Articles on Immunity of State Officials from foreign criminal Jurisdiction der International Law Commission). Bei schwersten Völkerrechtsverbrechen wird Immunität allerdings überwiegend abgelehnt. E werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet, sodass Immunität kein Verfahrenshindernis darstellt (vgl. auch BGH, 28.01.2021 – 3 StR 564/19).
7. Leistete E Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Genau, so ist das!
Auf Taten nach dem VStGB findet das allgemeine Strafrecht Anwendung, § 2 VStGB. Die Gehilfenstrafbarkeit bestimmt sich nach § 27 Abs. 1 StGB. Vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttaten sind vorliegend Verbrechen gegen die Menschlichkeit, § 7 Abs. 1 Nr. 5 (Folter) und 9 (Freiheitsentziehung) VStGB. Die Hilfeleistungshandlungen des E bestanden in Verhaftungen und Verbringen von Demonstranten in das Gefängnis. OLG Koblenz: E sei die Freiheitsentziehung und systematische Folter in der Haftanstalt bekannt gewesen. Entsprechende Behandlung der festgenommenen Demonstranten habe E billigend in Kauf genommen, sodass an seinem doppeltem Gehilfenvorsatz keine Zweifel bestünden.
8. Befand sich E angesichts der Einbindung in die hierarchische, keine Abweichung duldende Befehlsstruktur des syrischen Geheimdiensts in einem Nötigungsnotstand?
Nein, das trifft nicht zu!
Der entschuldigende (Nötigungs-)Notstands bestimmt sich nach § 35 StGB i.V.m. § 2 VStGB. Auf diesen können sich Befehlsempfängern berufen, wenn angesichts bei Befehlsverweigerung drohender Sanktionen tatsächlich kein Widerstand möglich ist. In einer solchen unfreiwilligen Zwangslage befand sich E laut OLG Koblenz nicht: Der Angeklagte habe sich freiwillig in den Geheimdienst eingegliedert und sich während der Proteste 2011 von einer Bürotätigkeit in den operativen Bereich zurückversetzen lassen. Allerdings liege angesichts der hierarchischen, keine Abweichung duldenden Befehlsstruktur ein minder schwerer Fall nach § 7 Abs. 2 VStGB vor. Die Mindeststrafe für Folter reduziert sich damit auf zwei Jahre.
9. Macht E bei seiner polizeilichen Vernehmung Aussagen, die zur Anklage von A, des Vernehmungschefs des berüchtigten Gefängnisses, führen. Hierin liegt ein Milderungsgrund nach § 46b Abs. 1 Nr. 1, S. 3 StGB?
Ja!
Auch Milderungsgründe des StGB finden über § 2 VStGB Anwendung. Eine Strafmilderung wegen Aufklärungshilfe nach § 46b Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3 StGB setzt voraus, dass ein Zusammenhang zur angeklagten Tat besteht, die Aufklärung aber über den eigenen Tatbeitrag hinausgeht. Es Angaben führten zu A, dem die Bundesanwaltschaft 58-fachen Mord und Verantwortung für die Folter von 4000 Menschen zur Last legte. Gegen E verhängte das OLG eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach §§ 7 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 9 VStGB, 27 StGB. Es ist das weltweit erste nationale Strafurteil unter Anwendung des Weltrechtsprinzips. Der von E belastete A wurde vom OLG Koblenz am 13.01.2022 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt (1 StE 9/19).
Amboss, in: MüKo, 3. A., 2018, § 1 VStGB, RdNr. Satzger, Europäisches und Internationales Strafrecht, 9. A., 2020, § 5, RdNr. 77 ff.