Zivilrecht

Deliktsrecht

§ 823 Abs. 1 BGB

Samenzellen-Fall (Körperverletzung und Schmerzensgeld), kein Kinderwunsch mehr

Samenzellen-Fall (Körperverletzung und Schmerzensgeld), kein Kinderwunsch mehr

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Patient P unterzieht sich einer Operation, durch die er zeugungsunfähig werden wird. Um dennoch später Kinder haben zu können, lässt er vorher Samenzellen einfrieren. P gibt jedoch den Kinderwunsch endgültig auf. Ein Mitarbeiter des Krankenhauses K vernichtet die Samenzellen versehentlich, aber schuldhaft.

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Einordnung des Falls

Samenzellen-Fall (Körperverletzung und Schmerzensgeld), kein Kinderwunsch mehr

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K hat eine Pflicht aus dem Verwahrungsvertrag verletzt (§ 280 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

P und das Krankenhaus K haben einen entgeltlichen Verwahrvertrag (§ 688 BGB) geschlossen. Durch die Vernichtung hat K die Pflicht zur Herausgabe der verwahrten Sache (§ 695 BGB) verletzt. Dies geschah auch schuldhaft durch den Mitarbeiter. Das Verschulden des Mitarbeiters wird dem Krankenhaus K zugerechnet (§ 278 BGB).
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2. Das Deliktsrecht ist nicht anwendbar, wenn ein Vertrag zwischen den Parteien besteht.

Nein!

Im Zivilrecht gilt grundsätzlich uneingeschränkte Anspruchskonkurrenz. Das bedeutet, dass alle Ansprüche nebeneinander geltend gemacht werden können. Die Ansprüche aus dem Deliktsrecht stehen damit neben den Ansprüchen aus den Schadensersatzansprüchen aus dem Allgemeinen Teil des Schuldrechts.

3. Indem K die Samenzellen vernichtet hat, hat er den P in seinem Rechtsgut Körper verletzt (§ 823 Abs. 1 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Grundsätzlich erlangt ein Körperteil durch das Abtrennen vom Körper Sacheigenschaft, mit der Folge, dass der Betroffene Eigentümer des Körperteils wird. Eine Ausnahme besteht dann, wenn der abgetrennte Körperteil später wieder in den Körper eingefügt werden soll, beispielsweise bei Eigenblutspenden. Das Gleiche gilt auch, wenn der Körperteil zwar nicht mehr in den Körper zurückgeführt, aber funktionsgerecht verwendet werden soll. Da P in der Zwischenzeit seinen Kinderwunsch aufgegeben hat, haben die Spermazellen Sacheigenschaft gewonnen. Damit liegt "lediglich" eine Eigentumsverletzung vor.

4. P ist ein materieller Schaden (§§ 249ff. BGB) dadurch entstanden, dass er keine Kinder mehr bekommen kann.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Schaden ist jeder unfreiwillige Nachteil. Das Gesetz unterscheidet in den §§ 249ff. BGB zwischen dem materiellen und dem immateriellen Schaden. Materielle Schäden betreffen die Einbuße an geldwerten Rechtsgütern. Immaterielle Schäden betreffen alle sonstigen nicht geldwerten Nachteile. Ohne die Samenzellen kann P keine Kinder zeugen. Kinder wiederum stellen kein Vermögen dar. Damit hat die Vernichtung der Samenzellen keinen materiellen Schaden zur Folge.

5. P kann Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) verlangen.

Nein!

Immaterielle Schäden sind nur in den gesetzlich vorgeschriebenen Fällen ersatzfähig (§ 253 Abs. 1 BGB). Ein solcher ist das sog. Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB). Gesetzlich benannt sind die Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung. Eine analoge Anwendung kommt auch bei vergleichbaren Rechten in Betracht, zum Beispiel bei der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Soweit aber keine funktionsgerechte Verwendung mehr gewollt ist, erlangt der abgetrennte Körperteil Sacheigenschaft und wird zum Eigentum des Betroffenen. Für eine Eigentumsverletzung kann der Geschädigte kein Schmerzensgeld verlangen.

6. P hat gegen K nur einen vertraglichen Schadensersatzanspruch.

Nein, das ist nicht der Fall!

P hat grundsätzlich einen vertraglichen Schadensersatzanspruch wegen Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) und hinsichtlich der Eigentumsverletzung einen deliktischen Anspruch (§ 823 Abs. 1 BGB). Soweit die Samenzellen aber nicht mehr zur Zeugung verwendet werden sollen, sind sie kein Teil des Körpers mehr und gewinnen Sacheigenschaft. Diese Unterscheidung ist wichtig, da ein immaterieller Schaden nur im Falle der Körperverletzung ersatzfähig ist (§ 253 Abs. 2 BGB). Ohne den Kinderwunsch fehlt es dem P insofern an einem ersatzfähigen Schaden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TRUD

Trude

24.11.2020, 09:58:13

Sind die Samenzellen dann aber nicht sein Eigentum, das zerstört wird, was wiederum dazu führt dass der Wert zu ersetzen ist? Ich verstehe schon dass es in diesem Fall darum geht den Unterschied zum vorherigen Fall zu sehen, aber trotzdem würde mich das interessieren.

IUS

iustus

1.2.2021, 18:47:24

Mich auch. Der Patient hat ja dann einen Anspruch aus

Eigentumsverletzung

.

Jurianne

Jurianne

12.3.2021, 07:53:52

Aber geht es hier nicht vielmehr um die Rechtsfolgenseite und darum dass er hier gerade keinen bezifferten materiellen Schaden erlitten hat? Wenn das so wäre, würde er ja durchaus einen Anspruch haben neben 253 II BGB, der hier halt nicht gegeben wäre

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.5.2021, 12:51:05

Hallo zusammen, ihr habt natürlich grundsätzlich recht, dass es sich bei der Zerstörung des Eigentums grundsätzlich Schadensersatzansprüche in Betracht kommen. Julianne bringt es indes schon richtig auf den Punkt, dass mögliche Ansprüche hier mangels bezifferbaren Schadens letztlich leerlaufen. Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) ist hier naturgemäß nicht möglich, also käme insoweit allein eine Kompensation durch Geld in Betracht (§ 251 Abs. 1 BGB). Die Geldentschädigung nach § 251 Abs. 1 BGB bestimmt sich nach dem sog. Summeninteresse. Zu ersetzen ist die Differenz zwischen dem Wert des Vermögens, wie es sich ohne das schädigende Ereignis darstellen würde und dem durch das schädigende Ereignis vermindertene Wert. Bei Zerstörung bemisst sich der Ersatzanspruch bei nicht wieder zu beschaffenden Sachen nach dem durch Verkauf erzielbaren Wert (vgl. Palandt/Grüneberg, § 251 Rn. 10). Wie bereits in der Fall-Antwort aufgezeigt, stellt die fehlende Möglichkeit Kinder zu bekommen, für sich genommen keinen bezifferbaren Schaden dar. Man könnte also allein auf den "Wert" des Samens an sich abstellen. Fraglich ist, ob diesem ein eigenständiger Wert beigemessen werden kann. Die Samenspende stellt in Deutschland - ebenso wie die Blutspende - eine soziale, freiwillige Leistung dar. Insofern wird in der Regel keine "Vergütung", sondern eine "Aufwandsentschädigung" (vgl. § 10 TFG) für die aufgewendete Zeit bezahlt. Vor diesem Hintergrund ist der Wert des Samens mit 0 Euro zu bemessen, weswegen der grundsätzlich bestehende Schadensersatzanspruch mangels Schaden leer läuft (aA gut vertretbar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass im Anschluss an die "Spende" die entsprechenden Körperteile durchaus einen Verkehrswert haben. So liegt der Verkaufswert einer Blutkonserve nach der Spende zB bei etwa 80-100€ und hat insofern durchaus einen Wert. Bei der Spermienspende käme es dann aber noch zusätzlich noch auf die Qualität an (zB Vorerkrankungen des Spenders), um ermitteln zu können, ob die Spermien einen Verkehrswert haben). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CAR

Carl

15.12.2020, 00:21:50

Samenzellen können doch gehandelt werden? (Bspw. Samenbank)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.5.2021, 12:53:35

Hallo Carl, da hast Du natürlich recht. Die Spender selbst erhalten indes in der Regel kein Geld für ihre Spermien, sondern lediglich eine Aufwandsentschädigung für ihre Zeit. Insofern lässt sich argumentieren, dass der Verlust der Spermien für P hier keinen bezifferbaren Schaden darstellt, da diese keinen eigenen Wert haben (aA gut vertretbar, siehe hierzu auch den parallelen Thread). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

23.5.2021, 12:45:50

Wie wäre es wenn P plötzlich wieder Kinder bekommen möchte? Kann man dann davon sprechen, dass eine Sache zum Körper wird?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.5.2021, 13:03:06

Hallo LEXDEROGANS, da hast Du Dir eine der vielen offenen Flanken ausgesucht, die der BGH mit dieser Entscheidung geöffnet hat. Die Fokussierung auf die subjektive Seite des Spenders zur Differenzierung, ob es sich bei den Spermien um eine Sache und damit Eigentum oder einen Teil des Körpers handelt, führt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Man könnte das Beispiel von Dir noch weiterspinnen und einen besonders wankelmütigen P ersinnen, der quasi täglich seine Meinung ändert, ob er denn nun Kinder will. Je nachdem, wie sein Meinungsstand zum Zeitpunkt der Zerstörung war, würde er dann entweder Schmerzensgeld erhalten oder gänzlich leer ausgehen. Wie sich der BGH in einem solchen Fall entscheiden würde, kann natürlich nur prognostiziert werden. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit ist eine neuerliche Umwandlung des Körpers zur Sache im Grunde eher abzulehnen, sodass es hier wohl bei einer Sachbeschädigung bleiben dürfte. Ein entsprechender Fall wurde bislang aber in der Rechtsprechung nicht entschieden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DIAA

Diaa

17.7.2023, 14:25:37

Wieso ist der Schaden immateriell, wenn 1. P sowieso keine Kinder mehr haben möchte und 2. den Samenzellen die Sacheigenschaft zugeschrieben und somit zum Eigentum wurde? Eine

Eigentumsverletzung

stellt jedoch einen materiellen Schaden dar.

Skywalker

Skywalker

31.7.2023, 21:39:44

Der Schaden liegt ja darin, dass der Geschädigte keine Kinder mehr bekommen kann. Das er dies im Moment nicht will schließt den Schaden nicht aus, weil ihm damit auch die Möglichkeit verloren geht später einen Kinderwunsch zu verwirklichen. Darin liegt der unfreiwillige Nachteil des Geschädigten. Da dieser Nachteil kein Vermögensschaden ist, unterliegt der Geschädigte einem immateriellen Schaden. Das der Geschädigten gleichzeitig einer

Eigentumsverletzung

unterliegt, schließt nicht aus, dass die Möglichkeit keine Kinder mehr zu bekommen ein immaterieller Schaden ist. Der Geschädigte könnte sogar gleichzeitig einen materieller Schaden haben. Das eine

Eigentumsverletzung

einen solchen materiellen Schaden in jedem Fall begründet, würde ich nicht sagen, da eine

Eigentumsverletzung

nicht zwangsläufig eine nachteilige finanzielle Auswirkung (Vermögensschaden) darstellen muss. Sofern das Eigentum keinen finanziellen Wert hat, liegt insofern auch kein materieller Schaden vor. So wahrscheinlich auch in diesem Fall, wo in den Samenzellen des Geschädigten an sich scheinbar kein Vermögenswerter Gegenstand gesehen wurde und dem Geschädigten somit kein ersatzfähiger Schaden vorliegt.

WO

wolfsophia99@gmail.com

14.8.2024, 17:13:25

Kann man die Vernichtung der Samenzellen nicht als Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung sehen weil dadurch die Entscheidungsfreiheit genommen wird später ein Kind zu zeugen?

JUDI

judith

15.8.2024, 11:58:05

Ich glaube dass das generelle Zeugen von Nachkommen eher Teil der persönlichen Lebensgestaltung zuzuordnen wäre, jedoch nicht der sexuellen Selbstbestimmung, zu der die Geschlechtsidentität oder die Freiheit zur Vornahme oder Unterlassung von sexuellen Handlung zählt. So eine künstliche Befruchtung hat ja im Zweifel wenig mit einer sexuellen Handlung zu tun, sondern ist ja eher eine medizinische Indikation.


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