Einwilligungsfähigkeit

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

S schenkt sich zu ihrem 15-jährigen Geburtstag eine großflächige Tätowierung, deren Entfernung eine aufwendige und teure Behandlung erfordern würde. Tätowierer T hat S vor ihrer Zustimmung aufgeklärt. T weiß, dass die Eltern der S nicht zugestimmt haben.

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Einordnung des Falls

Einwilligungsfähigkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Er könnte hier aufgrund einer Einwilligung der S gerechtfertigt sein.

Genau, so ist das!

Die rechtfertigende Einwilligung stellt einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund dar. Sie setzt voraus: (1) Verfügbarkeit des geschützten Rechtsguts, (2) Verfügungsbefugnis, (3) Einwilligungsfähigkeit, (4) Einwilligungserklärung, (5) Freiheit von Willensmängeln und (6) Handeln in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung. Die Voraussetzungen sind gesetzlich nicht geregelt. Sie erschließen sich aus dem Selbstbestimmungsrecht, das ihr zugrunde liegt, und aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).
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2. Die körperliche Unversehrtheit ist als Individual-Rechtsgut disponibel.

Ja, in der Tat!

Das die Einwilligung betreffende Rechtsgut muss disponibel sein. Grundsätzlich verfügbar sind nur höchstpersönliche Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum. Dabei müssen die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 StGB beachtet werden. Rechtsgüter der Allgemeinheit und Tatbestände, die solche schützen, sind nicht einwilligungsfähig.

3. S besitzt hinreichende Einwilligungsfähigkeit und ist als Inhaberin des Rechtsguts verfügungsbefugt.

Nein!

Maßgeblich ist die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers. Er muss nach seiner geistigen und sittlichen Reife in der Lage sein, die Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen. Bei Minderjährigen beurteilt sich die Selbstbestimmungsfähigkeit danach, wie nah sie an der Volljährigkeitsgrenze stehen und wie schwerwiegend der Eingriff ist. Verfügungsbefugt ist der Inhaber des Rechtsguts. Fehlt ihm die Einwilligungsfähigkeit, geht die Verfügungsbefugnis auf den gesetzlichen Vertreter über.Eine Tätowierung ist – anders als ein Piercing – ein gravierender Eingriff. Mit Blick darauf ist die Einwilligungsfähigkeit der 15-jährigen S hier abzulehnen. T hätte die Zustimmung der Eltern benötigt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DO

Dominik

29.1.2023, 23:11:06

Wonach bestimmt sich denn, was ein gravierender Eingriff ist? Das ist wohl wieder mal eine nicht kodifizierte Begrifflichkeit und die Bewertung einzelfallbezogen? Wie ließe sich beispielsweise ein ,Tunnel‘ bewerten?

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

29.6.2023, 07:16:54

Ich kenne es aus der Uni so, dass die Urteilsfähigkeit entweder auf die Einsichtsfähigkeit, die analog auf den Schuldausschließungsgründe beruht, abstellt, oder man die Regelungen zur rechtsgeschäftlichen Einwilligung aus dem BGB heranzieht. Beide ist nicht unumstritten

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

17.6.2024, 14:40:14

In der Klausur geht es darum, das Problem so nah am Sachverhalt wie möglich zu diskutieren und damit zu einer gut begründeten Konklusion zu kommen. Das Ergebnis ist dabei zweitrangig und oftmals ist auch viel vertretbar.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

28.9.2024, 09:24:28

Hallo @Dominik, was ein "schwer wiegender" Eingriff ist, lässt sich in der Tat nur anhand einer umfassenden Abwägung der Umstände des konkreten Falls beurteilen. Der BGH behält sich mit dieser und ähnlichen Formulierungen (s zB BGH NStZ 2021, 494, 497) ein hohes Maß an Entscheidungsspielraum vor und sorgt tendenziell für hohe Einzelfallgerechtigkeit, natürlich zu Lasten der Vorhersehbarkeit. In unserem Fall ist die Sachverhaltsdarstellung eher dünn, man hätte aber darauf abstellen können, dass es sich um eine recht großflächige Tätowierung handelt (nicht nur um eine kleine), die nicht ohne Weiteres wieder zu entfernen ist, nämlich nur mit einer teuren und aufwändigen Behandlung. S ist zudem "erst" 15 und damit zwar nicht mehr all zu weit von der Volljährigkeit entfernt, aber auch nicht sehr nahe dran. Insgesamt sprechen diese Punkte tendenziell dagegen, dass S selbst einwilligungsfähig ist. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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