Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Rechtfertigungsgründe
Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum
Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum
4. Juli 2025
23 Kommentare
4,8 ★ (71.368 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
O streckt seine Arme aus, um T zu umarmen. T deutet die Bewegung des O fälschlicherweise als Angriff und schlägt O zu Boden.
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Einordnung des Falls
Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T hat den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) erfüllt, indem er O zu Boden schlug.
Genau, so ist das!
2. Handelte T mit Vorsatz im Hinblick auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands?
Ja, in der Tat!
3. T handelte in Notwehr (§ 32 StGB). Seine Körperverletzung gegen O ist gerechtfertigt.
Nein!
4. Ist die rechtliche Behandlung des vorliegenden Irrtums über die tatsächlichen Umstände eines Rechtfertigungsgrundes in §§ 16, 17 StGB explizit geregelt?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Nach der „strengen Schuldtheorie“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.
Ja, in der Tat!
6. Nach der „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.
Nein!
7. Nach der „vorsatzunrechtsausschließenden eingeschränkten Schuldtheorie“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung strafbar gemacht.
Nein, das trifft nicht zu!
9. Ist vorliegend ein Streitentscheid notwendig?
Ja!
10. Wenn man sich gegen die „strenge Schuldtheorie“ entscheidet, bleibt T straffrei.
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jonas22
26.6.2023, 15:34:48
Ihr schreibt in dem Einen Maßstabstext im Bereich der RECHTFERTIGUNGSGRÜNDE führe allein § 17 […]. Aber ist § 17 nicht ein Ent
schuldigungsgrund und kein Rechtfertigungsgrund?

Nora Mommsen
27.6.2023, 12:28:53
Hallo Jonas22, das ist absolut richtig. Allerdings geht es an der Stelle auch nicht um Rechtfertigung der Tathandlung, sondern um die Ent
schuldigung aufrgund eines Irrtums. Und
§ 17 StGBist die einzige Norm, die einen Irrtum über Rechtfertigungsgründe (Vorliegen/Nichtvorliegen) regelt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
sinaaaa
31.1.2024, 15:48:42
Ich verstehe nicht wann man Vorsatz bei dieser Theorie (eingeschränkte
Schuldtheorie) bejaht und wann nicht?

F. Rosenberg 🦅
11.11.2024, 16:37:34
Es gibt drei eingeschränkte
Schuldtheorien: 1. Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen: Demnach ist das Nichtvorliegen eine Rechtfertigungsgrundes ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Beim ETBI irrt sich hiernach der Täter über einen Rechtfertigungsgrund und damit über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Deswegen wird § 16 I 1 direkt angewandt mit der Rechtsfolge, dass der Vorsatz entfällt. 2. Vorsatzunrechtsausschließende, eingeschränkte
Schuldtheorie: Demnach sind
Tatbestandsirrtumund ETBI nicht identisch, aber wertungsmäßig so nahe, dass sie gleich behandelt werden müssen. Deshalb wird § 16 I 1 analog angewandt mit der Rechtsfolge, dass der Vorsatz entfällt. 3. Vorsatz
schuldausschließende, eingeschränkte
Schuldtheorie: Demnach sind Vorsatzunrecht und Vorsatz
schuldzu trennen. Die Theorie wendet zwar auch § 16 I 1 analog an, ABER lässt nicht das Vorsatzunrecht (= Vorsatz) entfallen, sondern die Vorsatz
schuld(= Merkmal der
Schuld). Die Rechtsfolge ist, dass der Täter zwar vorsätzlich und
rechtswidrig, jedoch
schuldlos gehandelt hat.

Nils
20.12.2024, 18:32:06
Tolle Übersicht. Danke!
Moritz
13.5.2025, 19:05:22
Kleiner Hinweis: Bei der Vorsatzunrechtsausschließenden eingeschränkten
Schuldtheorie entfällt nicht der Vorsatz (im Sinne des Tatbestandsvorsatzes), sondern das Vorsatzunrecht.
Magnum
4.11.2024, 18:41:14
Kann mir jemand erklären wie es zu den Bezeichnungen "vorsatzunrechtausschließende" und "rechtsfolgenverweisende" eingeschränkte
Schuldtheorie kommt? Ich kann mir das beim besten Willen nicht merken. Und Vorsatzunrecht meint die Verwirklichung von Tatbestand und
Rechtswidrigkeit in vorsätzlicher Weise, oder?
galapagosgarry
30.12.2024, 21:26:05
Die vorsatzausschließende eingeschränkte
Schuldtheorie wird auch "reine"
Schuldtheorie genannt. Hierbei entfällt bereits das Vorsatzunrecht und damit die vorsätzlich begangene Tat. § 16 StGB wird analog angewandt => der Vorsatz entfällt => "vorsatzausschließend" Die rechtsfolgenverweisende eingeschränkte
Schuldtheorie nimmt hingegen eine vorsätzliche und
rechtswidrige Tat an, sieht aber ein Fehlen der fehlerhaften Einstellung zur Rechtsordnung und lässt daher die
Schuldentfallen. Von § 16 StGB werden lediglich die Rechtsfolgen herangezogen => "rechtsfolgenverweisend" (nämlich auf die Rechtsfolgen des § 16 StGB verweisend)
QuiGonTim
15.1.2025, 22:47:54
Wie ist das ganze in der Klausur darzustellen? Obj. + subj. TB bejahen,
Rechtswidrigkeit mangels tatsächlicher Rechtfertigungslage verneinen, dann den Streit auf der Ebene der
Schuldführen und diese mit der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten
Schuldtheorie verneinen? Ist es für die Klausur, insbesondere im Examen, notwendig, alle Theorien zu kennen und den Streit mit allen Theorien zu führen? Oder würde es genügen sich zwei Theorien mit unterschiedlichen Rechtsfolgen (z.B. strenge und rechtsfolgenverweisende eingeschränkte
Schuldtheorie) zu merken und den Streit auf diese zu beschränken?
simonr
16.1.2025, 12:01:22
Im Rep wurde vorgeschlagen, den Fall des ETBI im Rahmen der
Rechtswidrigkeit anzusprechen, da dort erstmals relevant. Also wie du sagtest obj. und subj. TB (+), RW entfällt nicht nach § 32 StGB, da ex post keine obj. Notwehrlage mangels Angriff besteht. Dann unter einem nächsten Punkt die Prüfung des ETBI einleiten. --> Enge Ansicht/weite Ansicht darstellen und dann klausurtaktisch entscheiden (generell von der strengen
Schuldtheorie absehen und für eine der eingeschränkten
Schuldtheorien und die analoge Anwendung des § 16 I 1 StGB entscheiden). Wenn der Sachverhalt dann so gestaltet sein sollte, dass Folgeprobleme bzgl. Teilnahme bestehen könnten (Stichwort vorsätzliche,
rechtswidrige Haupttat) am besten innerhalb der eingeschränkten
Schuldtheorien herausarbeiten, dass eine Ansicht den Vorsatz entfallen lassen möchte, was problematisch bzgl. Teilnahmestrafbarkeiten ist, um dann auf den Entfall der Vorsatz
schuldzu verweisen. Dann Prüfungspunkt
Schuldaufmachen und unter Verweis nach oben die
Schuldverneinen. Bzgl. der Examensklausur kann ich leider nichts sagen, da ich selber erst im Februar schreibe, also noch keine Erfahrung gesammelt habe. Tendenziell würde ich aber deinem Vorschlag zustimmen.
Jessica
2.4.2025, 22:42:19
Ich würde sagen, dass man im Examen idealerweise alle Theorien kennt und idealerweise einen extra Punkt namens ETBI zwischen
Rechtswidrigkeit und
Schuldaufmacht

cSchmitt
5.6.2025, 16:09:07
Wie ist es vereinbar, dass nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten
Schuldtheorie zwar der Vorsatz bestehen bleibt, weil lediglich die Vorsatz
schuldentfällt, dann jedoch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit möglich ist? Normalerweise schließen sich Vorsatz und Fahrlässigkeit doch aus? Hier im Fall wird ja gesagt, dass (bis auf die strenge
Schuldtheorie) alle anderen Theorien die Strafbarkeit wegen §
223 StGBentfallen lassen würden, jedoch für sie eine fahrlässige Strafbarkeit in Frage käme.

Major Tom(as)
5.6.2025, 16:31:36
Genau das habe ich mich auch gefragt, als ich das Thema letztens durchgearbeitet habe und hab mir das Ganze mal genauer angeschaut. Es ist aber wohl so, dass eben nicht jede Ansicht vertritt, dass sich Vorsatz und Fahrlässigkeit ausschließen. (Ist aber absolute hM in der Rspr) Vielmehr sei nach einer Literaturansicht eben gerade der Vorsatz gegenüber der Fahrlässigkeit ein "Plus", aber kein "Aliud" - das jeweilig geforderte Willens-/Wissenselement sei nur ein "Zusatz", schließe aber die Fahrlässigkeit nicht aus. Insoweit könne man die Fahrlässigkeit nicht mit einem "negativen Merkmal" des Nicht-Wissens oder Nicht-Wollens beschreiben. (In anderen Worten: Wenn Fahrlässigkeit und Vorsatz Farben wären, wäre z.B. die Fahrlässigkeit "Blau", beim Vorsatz mischt man "Gelb" dazu und erhält Grün. Nur, wenn ich jetzt sage: Fahrlässigkeit ist "Nicht-mit-Gelb-gemischt" schließt es den Vorsatz aus, man solle aber doch einfach sagen, es ist "Blau". Dann ist Fahrlässigkeit (bzw. Blau) unproblematisch im Vorsatz (Grün) enthalten. Wenn man also dieses "Nicht-xyz" wegließe, würden sich Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht ausschließen) Zusätzlich wendest du für die vorsatz
schuldverneinende rechtsfolgenverweisende eingeschränkte
Schuldtheorie ja gerade § 16 I 1 StGB analog an - da liegt wenigstens nahe, auch den § 16 I 2 StGB ansprechen zu müssen.

cSchmitt
5.6.2025, 18:04:44
Gute Punkte, danke für die Anmerkung.

Major Tom(as)
5.6.2025, 18:30:22
Kein Ding, dass das mit Vorsatz und Fahrlässigkeit umstritten ist, war damals ehrlich mindblowing für mich, daher musste ich das teilen :D (erscheint mir aber mittlerweile eigentlich logisch!)