Ukraine I: Krim-Annexion 1

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Mit dem Machtwechsel in der Ukraine hin zu einer pro-europäischen Regierung kommt es auf der Krim 2014 zu Konfrontationen zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften. Russland besetzt die Halbinsel in einer verdeckten Militäraktion und orchestriert die Abhaltung eines nach ukrainischem Recht verfassungswidrigen Referendums über die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Am 18. März 2014 unterzeichnet der russische Präsident einen Vertrag über die Eingliederung.

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Einordnung des Falls

Ukraine I: Krim-Annexion 1

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die territoriale Souveränität gewährt dem innehabenden Staat ausschließliche Verfügungsgewalt über sein Staatsgebiet.

Ja!

Dabei handelt es sich um eine Konkretisierung der staatlichen Souveränität. Weitere Ausformungen der staatlichen Souveränität sind daneben die politische Souveränität sowie die Personal- und Gebietshoheit. Territoriale Souveränität und Gebietshoheit stehen zueinander wie Eigentum und Besitz und können damit auseinander fallen.
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2. Das Staatsgebiet umfasst einen durch Grenzen festgelegten Ausschnitt der Erdoberfläche, das darunter liegende Erdreich sowie den darüber befindlichen Luftraum.

Genau, so ist das!

Dem Staatsgebiet kommt eine außerordentlich hohe Bedeutung zu, da es nach der sog. Drei-Elemente-Lehre neben Staatsvolk und Staatsgewalt konstitutive Voraussetzung für das Bestehen eines Staates ist. Entscheidend ist dafür, dass die Grenzen im Wesentlichen feststehen, sodass ein umstrittener Grenzverlauf nicht das Staatsgebiet und damit die Staatlichkeit des betroffenen Staates in Frage stellt.

3. Die Festlegung der Grenzen kann sich aus vertraglichen Regelungen, geschichtlicher Entwicklung oder völkergewohnheitsrechtlicher Anerkennung durch andere Staaten ergeben.

Ja, in der Tat!

Typischerweise ergibt sich der Grenzverlauf aus bi- oder multilateralen Abkommen. Bekanntes Beispiel sollte der Zwei-Plus-Vier-Vertrag sein, der die Grenzen der heutigen Bundesrepublik Deutschland festlegt (vgl. Art. 1).

4. Den Staaten ist die Verfügungsgewalt über den Grenzverlauf und damit ihr Staatsgebiet entzogen.

Nein!

Gegen Verfügungen von Staaten über ihr Gebiet bestehen zumindest aus völkerrechtlicher Perspektive keine Bedenken. Das Völkerrecht anerkennt legale Modi des Gebietswechsels wie die Zession (Abtretung), die heute faktisch ausgeschlossene Okkupation (Besetzung von Niemandsland), die Anschwemmung von Land oder das Auftauchen neuer Inseln in den Territorialgewässern oder auch die Dismembration (einvernehmliche Abspaltung eines Teilgebiets eines Staates).

5. 1954 überträgt die Sowjetunion die Krim der Ukrainischen SSR. Damit gehört die Krim-Halbinsel zu ukrainischem Staatsgebiet.

Genau, so ist das!

Die völkerrechtskonforme Abtretung von Staatsgebiet richtet sich nach zivilrechtlichen Kategorien und setzt eine wirksame Einigung der Staaten, den effektiven Gebietswechsel sowie die Verfügungsgewalt des abtretenden Staates voraus. Nichtig kann eine Abtretung sein, wenn sie unter Gewaltanwendung oder -androhung erfolgte (vgl. 52 Wiener Vertragsrechtskonvention.) Mangels Vorliegen von Nichtigkeitsgründen erfolgte der Gebietswechsel zwischen der Sowjetunion und der Ukrainischer SSR völkerrechtskonform. Die russische Föderation argumentiert mit Blick auf die Krim gerne mit der Wiedergutmachung einer „historischen Ungerechtigkeit“: der damalige Gebietswechsel sei durch innerstaatlich nicht-zuständige Stellen erfolgt. Das jedoch ist ein für die Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge nicht maßgeblicher Umstand (vgl. heute Art. 46 Wiener Vertragsrechtskonvention). Anderes ergibt sich auch nicht aus der 1992 erfolgten einseitigen Nichtigerklärung durch die Sowjetunion: mangels Verfügungsgewalt liegt auch hierin ein völkerrechtliches Nullum

6. Der Anschluss der Krim an die Russische Föderation wäre völkerrechtskonform, wenn die Bevölkerung der Krim damit ein ihr zustehendes Selbstbestimmungsrecht wirksam ausgeübt hat.

Ja, in der Tat!

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker folgt aus der UN-Charta und Art. 1 der UN-Pakte. Hierbei wird unterschieden: (1)) In Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts können sich Völker ausnahmsweise von ihrem Heimatstaat lossagen, um einen eigenen Staat zu gründen oder sich einem bestehenden Staat anzuschließen (sog. remedial secession bzw. äußeres Selbstbestimmungsrecht) (str.). (2)) Regelmäßig verpflichtet das Selbstbestimmungsrecht den Heimatstaat nur dazu, dem „Volk“ <>Autonomie- und Minderheitenrechte einzuräumen (sog. inneres Selbstbestimmungsrecht). Nur ausnahmsweise – bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen durch den Heimatstaat, bei endgültig verweigerter Ausübung des inneren Selbstbestimmungsrechts, bei Dekolonialisierung oder bei Fremdherrschaft – besteht ein Recht auf remedial secession.

7. Wirkte die Bevölkerung der Krim durch das Referendum ihr Selbstbestimmungsrecht wirksam aus, mit der Folge, dass der Anschluss völkerrechtskonform war?

Nein!

Ein Recht auf remedial secession besteht nur in Ausnahmefällen: bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen durch den Heimatstaat, bei endgültig verweigerter Ausübung des inneren Selbstbestimmungsrechts durch den Heimatstaat, bei Dekolonialisierung oder bei Fremdherrschaft. Die letzten Varianten kommen hier nicht in Betracht. Zudem wurden der russischsprachigen Minderheit auf der Krim weitreichende Autonomierechte gewährt. Ein Recht auf remedial secession kann sich nur ergeben, wenn die krim'sche Minderheit Opfer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen geworden ist. Für solche Menschenrechtsverletzungen gibt es laut unabhängiger Berichte diverser Menschenrechtsorganisationen keinerlei Anhaltspunkte. Ein Recht auf remedial secession besteht nicht. Zudem liegt es nahe, dass das Referendum auf der Krim erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufwies, die seine Wirksamkeit ebenfalls entfallen lassen. Die Präsenz des russischen Militärs sowie die zur Verfügung stehenden Abstimmungsfelder verzerrten die Freiheit der Abstimmung massiv.

8. Die Eingliederung der Krim erfolgte im Wege der Annexion. Ist die Annexion völkerrechtlich zulässig?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Annexion als Modus des Gebietswechsels ist insbesondere dann völkerrechtswidrig, wenn sie gegen völkerrechtliche Grundsätze verstößt. Die Aneignung im Wege der Annexion erfolgt unter Gewaltanwendung und damit unter Verletzung des Gewaltverbots aus Art. 2 Nr. 4 UN-Charta sowie der souveränen Gleichheit der Staaten aus Art. 2 Nr. 1 UN-Charta. Annexionsweise Einverleibungen fremden Territoriums sind damit völkerrechtlich geächtet. Eine „Ersitzung“ durch den annektierenden Staat heilt diesen völkerrechtswidrigen Zustand genauso wenig wie die faktische Anerkennung durch andere Staaten, etwa durch die Aufnahme von Handelsbeziehungen.
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