Zivilrecht

Sachenrecht

Negatorischer Abwehr- und Unterlassungsanspruch

Kann der Eigentümer die Beseitigung eines entschuldigten Überbaus verlangen (§ 912 BGB)?

Kann der Eigentümer die Beseitigung eines entschuldigten Überbaus verlangen (§ 912 BGB)?

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E beauftragt die Architektin A, eine Garage auf ihrem Grundstück zu bauen. Die Bauarbeiten werden von Bauunternehmer U und seinen Gehilfen ausgeführt. Dabei orientieren sich die Gehilfen des U versehentlich nicht am tatsächlichen Verlauf der Grenzsteine, sondern am Zaun, den Nachbarin N nahe der Grenze errichtet hat. N bemerkt nicht, dass das Gebäude 30 cm über die Grenzlinie ragt.

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Einordnung des Falls

Kann der Eigentümer die Beseitigung eines entschuldigten Überbaus verlangen (§ 912 BGB)?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. N erlangt Eigentum an dem Gebäudeteil, dass auf ihr Grundstück ragt (§§ 946, 93, 94 Abs. 1 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 946 BGB erwirbt der Eigentümer das Eigentum an beweglichen Sachen, die mit seinem Grundstück derart verbunden werden, dass sie wesentlicher Bestandteil des Grundstücks werden. §§ 93, 94 BGB definieren, wann ein Bestandteil wesentlich ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Allerdings bleibt hier der Überbau gemäß § 95 Abs. 1 S. 2 BGB analog wesentlicher Bestandteil des Stammgrundstücks, bleibt also im Eigentum des Überbauenden.
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2. N könnte ein Anspruch auf Beseitigung des Überbaus zustehen (§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB).

Ja!

Der Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB setzt voraus (1) eine eingetretene Eigentumsverletzung, (2) eine fortdauernde Beeinträchtigung, (3) Rechtswidrigkeit des Zustands (keine Duldungspflicht, § 1004 Abs. 2 BGB) und (4) die Störereigenschaft des Anspruchsgegners. N ist Eigentümerin ihres Grundstücks. Die Beeinträchtigung ihres Eigentums durch den Überbau dauert an. E hat auf dem Grundstück der N gebaut und ist damit Störerin und richtige Anspruchsgegnerin. Näher zu prüfen ist aber, ob eine Duldungspflicht besteht.

3. Eine Pflicht zur Duldung des Überbaus könnte sich aus § 912 Abs. 1 BGB ergeben.

Genau, so ist das!

§ 912 Abs. 1 setzt (1) die Errichtung eines einheitlichen Gebäudes durch den Grundstückseigentümer und (2) eine Grenzüberbauung (Grenzüberschreitung) voraus. Dies darf (3) weder vorsätzlich noch grob fahrlässig geschehen sein. Es darf (4) keine Gestattung und (5) kein sofortiger Widerspruch des Eigentümers des Nachbargrundstücks vorliegen. Liegen diese Voraussetzungen vor, so muss der Nachbar den Überbau dulden.

4. Es liegt ein Überbau vor (vgl. § 912 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Ein Überbau ist ein einheitliches Gebäude, welches über die Grenze des eigenen, auf ein fremdes Grundstück errichtet wird. Die Garage ist ein einheitliches Gebäude, welches über die Grenze von Es Grundstück auf das fremde Grundstück der N errichtet wurde. Sie stellt einen Überbau dar.

5. E trifft bezüglich des Überbaus grobe Fahrlässigkeit.

Nein!

Grobe Fahrlässigkeit ist das Außerachtlassen der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße. E trifft kein eigenes Verschulden. Fraglich ist, ob E für eventuelles Fehlverhalten von A und U haftet. Der BGH und ein Teil der Literatur wendet auf die Achitektin § 166 BGB analog an, da sie als Repräsentantin des Bauherrn dessen Interessen zu wahren habe. A ist hier allerdings kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Bauunternehmer U und seine Gehilfen sind dagegen nach Auffassung des BGH schon keine Repräsentanten des Bauherrn, sondern stehen zu ihm in einem normalen vertraglichen Austauschverhältnis. Ihr Verschulden könne E auch nicht über § 278 BGB oder § 831 BGB entgegengehalten werden. Gegenansichten in der Literatur halten § 278 BGB oder § 831 BGB analog dagegen sehr wohl für grundsätzlich anwendbar und verweisen auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis bzw. die Ähnlichkeit des Überbaus zur unerlaubten Handlung.

6. N widerspricht dem Überbau unmittelbar nach der Fertigstellung der Garage. Stellt dies noch einen sofortigen Widerspruch i.S.d. § 912 Abs. 1 BGB dar?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein sofortiger Widerspruch liegt vor, wenn er so rechtzeitig erfolgt, dass die Beseitigung noch ohne Zerstörung erheblicher Werte möglich ist. N hat hier erst widersprochen als die Garage bereits fertig erbaut war. Die Beseitigung würde also zur Zerstörung erheblicher Werte führen. Der Widerspruch erfolgte somit nicht rechtzeitig.

7. Muss N die Eigentumsbeeinträchtigung durch die übergebaute Garage dulden (§ 912 Abs. 1 BGB)?

Ja, in der Tat!

Die Voraussetzungen der Duldungspflicht des Überbaus sind erfüllt. Es liegt ein sogenannter entschuldigter Überbau vor. Demnach war die Beeinträchtigung nicht rechtswidrig. N kann deshalb nicht die Beseitigung des auf ihrem Grundstück errichteten Garagenteils verlangen (§ 1004 Abs. 2 BGB). N kann für die Duldung allerdings von E eine Entschädigung in Form einer Geldrente verlangen (§ 912 Abs. 2 BGB). Diese bemisst sich an dem Verkehrswert des überbauten Grundstücksteils zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAN

Daniel

13.2.2023, 22:06:06

Könnt ihr näher auf die analoge Anwendung von § 95 I 2 eingehen?

JO

JonasRehder

4.9.2023, 11:33:13

Moin! Es stößt sich bei der Einordnung des Überbaus das Akzessionsprinzip (§ 94 I S. 1, § 93 -> Rechtseinheit zwischen Grundstück und den darüber befindlichen Bauteilen) mit dem der Maßgeblichkeit des Gebäudezusammenhangs (§ 94 II). Dabei hat das Prinzip der Rechtseinheit grds. Vorrang, wobei es jedoch entscheidend darauf ankommt, ob der Überbau entschuldigt erfolgte oder nicht. Dies lässt sich damit erklären, dass der Überbau in einer entschuldigten Situation den beeinträchtigten Grundstückseigentümer nicht schutzlos stellt, da er sich dann auf § 912 II BGB auf die Entschädigung durch eine Geldrente berufen kann. Ist das ganze unentschuldigt erfolgt, bedarf es der Konstellation des § 912 II BGB gerade nicht, da dann bereits keine

Duldung

spflicht besteht. Demnach wäre nach gesetzgeberischer Wirkung in diesem Fall die Wertung des § 94 I S. 1 BGB anzuwenden.

JO

JonasRehder

4.9.2023, 11:34:17

Kurz zusammengefasst: gesetzgeberische Wertung der widerstreitenden Interessen begründet abhängig von der Einschlägigkeit des

§ 912 BGB

die Eigentumsstellung und die analoge Anwendbarkeit des § 95 I S. 2 BGB

JO

JonasRehder

4.9.2023, 14:52:32

ich muss noch einmal korrigierend klarstellen: Prinzip der Rechtseinheit meint in dem Fall, dass grundsätzlich die Wirtschaftseinheit zusammenbetrachtet wird (ergo Vorrang für den Beeinträchtigenden)

Sophix58

Sophix58

2.4.2024, 08:11:03

Dementsprechend fände ich es eigentlich schon fast sinnvoller, die Frage, ob ein Eigentumserwerb stattfindet oder nicht, am Ende der Aufgabe zu stellen. Dann nimmt (hier) die erste Frage nämlich nicht schon das Ergebnis vorweg, ob es sich nun um einen entschuldigten oder einen unentschuldigten Überbau handelt :)

CR7

CR7

8.4.2024, 19:58:13

@[Sophix58](22547) Ja, das finde ich auch :-)

AM

amélie

15.1.2024, 19:11:49

Bemerkt N nicht, dass das Gebäude die Grenze überschreitet oder A? Das Bild passt irgendwie nicht zum Sachverhalt

OLDE

oldenfuchs

9.8.2024, 12:53:23

Liebes Jurafuchs-Team, In der Lösung steht, N würde nach der Fertigstellung der Garage widersprechen, im Sachverhalt steht aber nichts davon, sondern im Gegenteil, dass N den Überbau überhaupt nicht bemerken würde. Das Bild deutet wiederum an, dass sie widersprechen würde. Könnt ihr das präzisieren bitte?

Paulah

Paulah

10.8.2024, 11:26:37

Das ist das übliche Problem: Die Bilder gehören bei Jurafuchs zum Sachverhalt dazu - auch wenn sie in den meistens Fällen gar keine neuen Informationen enthalten, sondern nur illustrieren.


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