Kann der Eigentümer die Beseitigung eines entschuldigten Überbaus verlangen (§ 912 BGB)?


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E beauftragt die Architektin A, eine Garage auf ihrem Grundstück zu bauen. Dabei baut A nicht anhand des Verlaufs der Grenzsteine, sondern orientiert sich an dem Zaun, den Nachbarin N nahe der Grenze errichtet hat. N bemerkt nicht, dass das Gebäude 30cm über die Grenzlinie ragt.

Einordnung des Falls

Kann der Eigentümer die Beseitigung eines entschuldigten Überbaus verlangen (§ 912 BGB)?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. N erlangt Eigentum an dem Gebäudeteil, dass auf ihr Grundstück ragt (§§ 946, 93, 94 Abs. 1 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 946 BGB erwirbt der Eigentümer das Eigentum an beweglichen Sachen, die mit seinem Grundstück derart verbunden werden, dass sie wesentlicher Bestandteil des Grundstücks werden. §§ 93, 94 BGB definieren, wann ein Bestandteil wesentlich ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Allerdings bleibt hier der Überbau gemäß § 95 Abs. 1 S. 2 BGB analog wesentlicher Bestandteil des Stammgrundstücks, bleibt also im Eigentum des Überbauenden.

2. N könnte ein Anspruch auf Beseitigung des Überbaus zustehen (§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB).

Ja!

Der Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB setzt voraus (1) eine eingetretene Eigentumsverletzung, (2) eine fortdauernde Beeinträchtigung, (3) Rechtswidrigkeit des Zustands (keine Duldungspflicht, § 1004 Abs. 2 BGB) und (4) die Störereigenschaft des Anspruchsgegners. N ist Eigentümerin ihres Grundstücks. Die Beeinträchtigung ihres Eigentums durch den Überbau dauert an. E hat auf dem Grundstück der N gebaut und ist damit Störerin und richtige Anspruchsgegnerin. Näher zu prüfen ist aber, ob eine Duldungspflicht besteht.

3. Eine Pflicht zur Duldung des Überbaus könnte sich aus § 912 Abs. 1 BGB ergeben.

Genau, so ist das!

§ 912 Abs. 1 setzt (1) die Errichtung eines einheitlichen Gebäudes durch den Grundstückseigentümer und (2) eine Grenzüberbauung (Grenzüberschreitung) voraus. Dies darf (3) weder vorsätzlich noch grob fahrlässig geschehen sein. Es darf (4) keine Gestattung und (5) kein sofortiger Widerspruch des Eigentümers des Nachbargrundstücks vorliegen. Liegen diese Voraussetzungen vor, so muss der Nachbar den Überbau dulden.

4. Es liegt ein Überbau vor (vgl. § 912 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Ein Überbau ist ein einheitliches Gebäude, welches über die Grenze des eigenen, auf ein fremdes Grundstück errichtet wird. Die Garage ist ein einheitliches Gebäude, welches über die Grenze von Es Grundstück auf das fremde Grundstück der N errichtet wurde. Sie stellt einen Überbau dar.

5. E trifft bezüglich des Überbaus grobe Fahrlässigkeit.

Nein!

Grobe Fahrlässigkeit ist das Außerachtlassen der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße. E trifft kein eigenes Verschulden. Fraglich ist, ob E für die Handlung der A haftet. Die h.M. wendet auf den Überbau § 831 BGB analog an, da der Überbau einen Eingriff in fremdes Eigentum und somit eine unerlaubte Handlung darstellt. A ist aber nicht weisungsabhängig, also kein Verrichtungsgehilfe. Eine Haftung für As Handeln aus § 831 BGB scheidet damit aus. Nach der Rspr. kommt eine Verschuldenszurechnung über § 166 BGB analog in Betracht. Dies soll aber nur für das Verschulden des Architekten als Repräsentant des Bauherren, nicht aber für Bauunternehmer gelten. Auch insoweit scheidet eine Zurechnung insofern aus.

6. N widerspricht dem Überbau unmittelbar nach der Fertigstellung der Garage. Stellt dies noch einen sofortigen Widerspruch i.S.d. § 912 Abs. 1 BGB dar?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein sofortiger Widerspruch liegt vor, wenn er so rechtzeitig erfolgt, dass die Beseitigung noch ohne Zerstörung erheblicher Werte möglich ist. N hat hier erst widersprochen als die Garage bereits fertig erbaut war. Die Beseitigung würde also zur Zerstörung erheblicher Werte führen. Der Widerspruch erfolgte somit nicht rechtzeitig.

7. Muss N die Eigentumsbeeinträchtigung durch die übergebaute Garage dulden (§ 912 Abs. 1 BGB)?

Ja, in der Tat!

Die Voraussetzungen der Duldungspflicht des Überbaus sind erfüllt. Es liegt ein sogenannter entschuldigter Überbau vor. Demnach war die Beeinträchtigung nicht rechtswidrig. N kann deshalb nicht die Beseitigung des auf ihrem Grundstück errichteten Garagenteils verlangen (§ 1004 Abs. 2 BGB). N kann für die Duldung allerdings von E eine Entschädigung in Form einer Geldrente verlangen (§ 912 Abs. 2 BGB). Diese bemisst sich an dem Verkehrswert des überbauten Grundstücksteils zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung.

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DAN

Daniel

13.2.2023, 22:06:06

Könnt ihr näher auf die analoge Anwendung von § 95 I 2 eingehen?

JO

JonasRehder

4.9.2023, 11:33:13

Moin! Es stößt sich bei der Einordnung des Überbaus das Akzessionsprinzip (§ 94 I S. 1, § 93 -> Rechtseinheit zwischen Grundstück und den darüber befindlichen Bauteilen) mit dem der Maßgeblichkeit des Gebäudezusammenhangs (§ 94 II). Dabei hat das Prinzip der Rechtseinheit grds. Vorrang, wobei es jedoch entscheidend darauf ankommt, ob der Überbau entschuldigt erfolgte oder nicht. Dies lässt sich damit erklären, dass der Überbau in einer entschuldigten Situation den beeinträchtigten Grundstückseigentümer nicht schutzlos stellt, da er sich dann auf § 912 II BGB auf die Entschädigung durch eine Geldrente berufen kann. Ist das ganze unentschuldigt erfolgt, bedarf es der Konstellation des § 912 II BGB gerade nicht, da dann bereits keine Duldungspflicht besteht. Demnach wäre nach gesetzgeberischer Wirkung in diesem Fall die Wertung des § 94 I S. 1 BGB anzuwenden.

JO

JonasRehder

4.9.2023, 11:34:17

Kurz zusammengefasst: gesetzgeberische Wertung der widerstreitenden Interessen begründet abhängig von der Einschlägigkeit des § 912 BGB die Eigentumsstellung und die analoge Anwendbarkeit des § 95 I S. 2 BGB

JO

JonasRehder

4.9.2023, 14:52:32

ich muss noch einmal korrigierend klarstellen: Prinzip der Rechtseinheit meint in dem Fall, dass grundsätzlich die Wirtschaftseinheit zusammenbetrachtet wird (ergo Vorrang für den Beeinträchtigenden)

Sophix58

Sophix58

2.4.2024, 08:11:03

Dementsprechend fände ich es eigentlich schon fast sinnvoller, die Frage, ob ein Eigentumserwerb stattfindet oder nicht, am Ende der Aufgabe zu stellen. Dann nimmt (hier) die erste Frage nämlich nicht schon das Ergebnis vorweg, ob es sich nun um einen entschuldigten oder einen unentschuldigten Überbau handelt :)

CR7

CR7

8.4.2024, 19:58:13

@[Sophix58](22547) Ja, das finde ich auch :-)

AM

amélie

15.1.2024, 19:11:49

Bemerkt N nicht, dass das Gebäude die Grenze überschreitet oder A? Das Bild passt irgendwie nicht zum Sachverhalt

LS2024

LS2024

8.7.2024, 16:18:30

Ich verstehe nicht, wieso § 166 BGB hier nicht analog anwendbar ist. Ihr schreibt, dass dieser zwar nicht bei Bauunternehmern, aber bei Architekten anwendbar sei. A ist ja aber Architekt, sodass dieser Erklärung nach § 166 BGB hier analog anwendbar wäre. Woran scheitert die Anwendung dann, wenn nicht daran?


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