Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Tätowierungsverbot für Polizeivollzugsbeamte in Bayern
Tätowierungsverbot für Polizeivollzugsbeamte in Bayern
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Ps Dienstherr verbietet P, sich über den gesamten Unterarm den Schriftzug „Aloha“ tätowieren zu lassen. Der Dienstherr stützt seine Weisung auf Art. 75 Abs. 2 S. 2 BayBG, der Bestimmungen über das Erscheinungsbild von Beamten während des Dienstes erlaubt.
Diesen Fall lösen 70,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Tätowierungsverbot für Polizeivollzugsbeamte in Bayern
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. In der Verweigerung der Genehmigung zur Tätowierung ist ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG zu sehen.
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. P will für sein Recht auf das Tattoo klagen. Der Weg zu den Verwaltungsgerichten ergibt sich für P aus § 126 Abs. 1 BRRG bzw. § 54 Abs. 1 BeamtStG.
Ja!
3. P hält die Bestimmung des Art. 75 Abs. 2 S. 2 BayBG für untauglich, ihm gegenüber eine Tätowierung zu verbieten. Statthafte Klageart ist die Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO).
Genau, so ist das!
4. Ps zulässige Klage müsste auch begründet sein. Art. 75 Abs. 2 S. 2 BayBG ist formell rechtswidrig, weil der Bund die Gesetzgebungskompetenz hierfür innehat.
Nein, das trifft nicht zu!
5. Eine grundrechtsbezogene Prüfung kommt nicht in Betracht, weil P als Polizist zum Staat in einem besonderen Gewaltverhältnis steht.
Nein!
6. Durch das Verbot der Tätowierung wird in Ps allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eingegriffen.
Genau, so ist das!
7. Art. 75 Abs. 2 S. 2 BayBG knüpft an das Merkmal des „zu wahrenden äußeren Erscheinungsbilds“, zu dem „neben Haar- und Barttracht auch sonstige nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale“ gehören. Genügt dies dem Bestimmtheitsgebot?
Ja, in der Tat!
8. Als Rechtsfolge der Norm „kann die oberste Dienstbehörde nähere Bestimmungen [...] treffen“. Überlässt die Norm der Behörde nähere Bestimmungen über Tattoos im sichtbaren Bereich nach eigenem Ermessen?
Nein!
9. Der Gesetzgeber hat nach dem BVerwG mit Art. 75 BayBG selbst die Entscheidung darüber getroffen, dass sichtbare Tätowierungen und andere nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale generell Verboten sind.
Genau, so ist das!
10. Folgt man der Ansicht des BVerwG wäre die Verhältnismäßigkeit des Art. 75 Abs. 2 S. 2 BayBG zu prüfen. Verfolgt die Norm in geeigneter Weise einen legitimen Zweck?
Ja, in der Tat!
11. Ist das Verbot von Tätowierungen auch erforderlich und angemessen?
Ja!
12. Nach dem BVerfG ist die verfassungskonforme Auslegung der Norm möglich.
Nein, das trifft nicht zu!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Isabell
1.6.2022, 08:33:11
In Kombination mit der Thematik rechtsextremer Chats und einem rechten Tattoo lief das Mai dieses Jahr als V2 im 2. Examen in NRW
Philipp Paasch
1.6.2022, 23:56:05
Ich kann nach wie vor nicht nachvollziehen was ein "Aloha" mit dem Neutralitätsgebot zu tun hat? Ist er dann zu hawaiianisch? 🤔
Nora Mommsen
2.6.2022, 13:40:07
Hallo Philipp Paasch, danke für deine Frage. Das Neutralitätsgebot ist hier nicht im politischen Sinne zu verstehen. Vielmehr soll dadurch ein einheitliches Auftreten von Amtsträgern, die mit hoheitliche Befugnissen ausgestattet sind, gewährleistet werden. Daher hat der Gesetzgeber ein generelles Verbot für Tätowierungen und andere nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale erlassen. Dies umfasst auch Piercings und anderes. Viele Grüße - Nora, für das Jurafuchs-Team.
Philipp Paasch
11.6.2022, 23:46:26
Das macht natürlich mehr Sinn. Oder eine Allergie des Dienstherrn gegen überbackenen Schinken und Ananas auf Toast und Pizza^^. Spaß beiseite. Es wäre erhellend, wenn man die Begründung des Ausgangsverbots irgendwo sehen könnte, aber das bleibt wohl für immer ein Traum.
Lee
2.6.2022, 08:13:48
Warum wurde beim Rechtsweg nicht auf 54 BeamtStG abgestellt?
Nora Mommsen
2.6.2022, 13:29:03
Hallo Lee, danke für die aufmerksame Frage. In den Erwägungsgründen zum BeamStG geht der Gesetzgeber davon aus, dass das BRRG grundsätzlich außer Kraft tritt. Ausdrücklich ausgenommen davon ist aber das Kapitel II des BRRG, das auch den § 126 BRRG enthält, sodass dieser die vorrangige Rechtswegzuweisung darstellt. Viele Grüße - Nora, für das Jurafuchs-Team
Lee
2.6.2022, 14:27:01
Google hat folgende Antwort gegeben: Zum Verhältnis von § 54 Abs. 1 BeamtStG und § 126 Abs. 1 BRRG zueinander siehe z. B. Terhechte (NVwZ 2010, 996 ff.), der davon ausgeht, dass beide Vorschriften nach wie vor nebeneinander bestehen (ebenso Ehlers/Schneider, in: Schoch/Schneider/Bier, § 40 Rn. 40). Nach anderer Ansicht wird § 126 Abs. 1 BRRG durch § 54 Abs. 1 BeamtStG i.S. der Lex-Posterior-Regel und Lex-Specialis- Regel verdrängt (so Auerbach, ZBR 2009, 217, 222). Die Bundeskompetenz für die Rechtswegzuweisung ergibt sich jedenfalls nach wie vor aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
Jan M.
9.11.2022, 13:19:26
Fortsetzung der Geschichte ist ein Beschluss des BVerfG vom 18.5.2022, in dem die verfassungskonforme Auslegung von Art. 75 II BayBG des BVerwG für methodisch unkorrekt und damit verfassungswidrig erklärt wurde (was angesichts des klaren Wortlauts auch beruhigt). Besprechung unter JuS 2022, 993, 1083 ff. :-)
Nora Mommsen
12.11.2022, 13:44:46
Hallo Jan M., danke dir für den Hinweis! Absolut richtig und noch wichtiger das Ergebnis des Verfahrens vorm Bundesverfassungsgericht. Wir haben dies nun im Rahmen der Aufgabe ergänzt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Doli
6.7.2023, 15:19:34
Dann müsste man aber bei den Fragen vorher noch anführen, dass die eben die Meinung des BVerwG ist. Meiner Meinung nach ist es insgesamt eine schlechte Idee, die Fragen mit den Antworten so stehen zu lassen, da das BVerfG diese Auslegung eben als mit der Verfassung nicht vereinbar erklärt hat
Eichhörnchen I
16.2.2023, 09:34:38
Hallo, wäre in der Klausur auch der Gang über die allg.
Leistungsklageauf
Duldungder Tätowierung denkbar? Die
Feststellungsklageist gem. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO subsidiär und die Nichtanwendung der Subsidiarität durch die Rspr. wird in der Lit. als contra legem kritisiert. Das Argument der Rspr. von der Rechtstreue der Verwaltung, sodass die
Feststellungsklagegenauso rechtsschutzintensiv ist, überzeugt nicht (alle). Beste Grüße
Nora Mommsen
16.2.2023, 10:42:45
Hallo Eichhörnchen I, danke für deine Frage. Wenn du (verständlicherweise) dem Argument der Rechtsprechung nicht folgen möchtest, ist es natürlich nur konsequent die
Subsidiarität der Feststellungsklagezu beachten und die
Leistungsklagezu wählen. Dies sollte dann überzeugend vertreten werden. Generell macht es aber natürlich durchaus Sinn sich klausurtaktisch zu überlegen, ob man doch der Rechtsprechung (und damit meistens der Lösungsskizze) folgt, gerade zu Beginn einer Klausur. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Maxi97
1.6.2023, 16:00:31
Ich verstehe nicht so ganz warum niemand (bis auf eine Person) die Rechtswegeeröffnung hinterfragt? Warum wird das Verhältnis von § 54 I beamstG mit § 126 I BRRG nicht diskutiert oder der Unterschied herausgestellt? Und es ist ziemlich sicher, dass das was Nora da geschrieben hat einfach falsch ist. Finde selber sehr viele unterschiedliche Auffassungen, könnte man da nochmal Stellung beziehen?
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:23:38
Hi Maxi, super, dass Du hier noch einmal einhakst. Am klarsten wird es, wenn man sich kurz die Gesetzesentwicklung anschaut:
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:24:23
Früher galt sowohl für Landes- als auch Bundesbeamte das Beamtenrechtsrahmengesetz (BRRG), wobei die Länder die dortigen Regelungen dann noch in Landesrecht umsetzen mussten. Am 17.6.2008 wurde dann vom Bundestag das Beamtenstatusgesetz beschlossen (https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl108s1010.pdf%27%5D__1685630276015), welches mit Wirkung zum 1.
April 2009 in Kraft trat. Dieses löste weitgehend das BRRG ab, bezieht sich aber nur auf Landesbeamte und gilt – anders als noch das BRRG – unmittelbar. Es bedarf hier keines Umsetzungsaktes durch die Länder mehr. Allerdings wurde durch Einführung des BeamtStG explizit nicht Kapitel II und damit § 126 BRRG außer Kraft gesetzt (vgl. § 63 Abs. 3 S. 2 BeamtStG). Am 05.02.2009 wurden dann auch Änderungen des Bundesbeamtengesetzes (BBG) beschlossen und unter anderem § 126 BBG geschaffen, der eine
aufdrängende Sonderzuweisungfür Bundesbeamte schaffte (https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl109s0160.pdf%27%5D__1685630158069).
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:26:34
Link 1: Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – BeamtStG) vom 17. Juni 2008 Link 2: Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechts (Dienstrechtsneuordnungsgesetz – DNeuG) vom 5. Februar 2009
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:27:06
Jetzt stellt sich die spannende Frage, wie das Verhältnis von BBG/BeamtStG zum BRRG ist. (1) Teilweise wird vertreten, die neuen Regelungen gingen dem BRRG vor (lex posterior) und es sei allein auf diese abzustellen. Der Grund dafür, dass das zweite Kapitel nicht direkt aufgehoben worden sei, läge allein darin, dass es im Hinblick auf Bundesbeamte zum Zeitpunkt der Beschlussfassung (Juni 2008) noch keine äquivalente Regelung für Bundesbeamte gegeben habe. Da der Gesetzgeber hierauf aber reagiert und mit § 126 BBG eine entsprechende Regelung geschafft habe, sei § 126 BRRG nun nicht mehr anzuwenden (so explizit Kopp/Schenke, VwGO, § 40 RdNr. 75, aber auch Thomsen, in: BeckOK-BeamtenR Bund, 29. Ed. 1.11.2021, BeamtStG § 63 Rn. 5).
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:27:19
(2) Dagegen wird argumentiert, dass die explizit angeordnete Fortgeltung in § 63 BeamtStG einer „Ablösung“ gerade entgegenstehe. Insofern stünden die Regelungen nebeneinander (zB Terhechte, Rechtswegzuweisungen im Sog der Föderalismusreform – Zum Verhältnis von § 126 BRRG und § 54 BeamtStG, NVwZ 2010, 996). Zudem bedürfte es für den Vorrang des späteren Gesetzes („lex posterior derogat legi priori“) eines tatsächlichen Normkonfliktes. Da die Vorschriften aber dieselbe Rechtsfolge hätten, bestehe dieser nicht (Ehlers/Schneider, in: Schoch/Schneider/Ehlers/Schneider, 43. EL August 2022, VwGO § 40 Rn. 40). Bis zu einer gesetzlichen Aufhebung sei deshalb von einem Nebeneinander auszugehen.
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:27:40
(3) In einer Entscheidung des BGH, die kurz nach Inkrafttreten der neuen Vorschrift erging, geht der BGH auch von einem Nebeneinander der Vorschriften auszugehen, indem er sowohl § 54 BeamtStG als auch § 126 BRRG zitierte (BGH, Beschluss vom 9. 4. 2009 - III ZR 200/08 = NVwZ 2009, 928). Auch später hielt er an der Fortgeltung fest (BGH, Beschl. v. 25. 7. 2013 – III ZB 18/13 = NVwZ 2013, 1630).
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:27:58
(4) Auch das BVerwG ging noch 2013 von einer Fortgeltung des § 126 BRRG aus (BVerwG, Urt. v. 30.10.2013 – 2 C 23/12 = NVwZ 2014, 676).
Lukas_Mengestu
1.6.2023, 17:29:08
Was heißt das für Dich jetzt in der Klausur? Der Streit wirkt sich faktisch nicht aus, da sowohl nach dem BRRG als auch nach dem BeamtStG/BBG eine
aufdrängende Sonderzuweisungbesteht. Insofern würde ich Dir in der Klausur empfehlen, die passende Vorschrift aus dem BBG (Bundesbeamte) bzw. BeamStG (Landesbeamte) heranzuziehen und zu diesem dogmatischen Streit kein Wort zu verlieren. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team