„Kruzifix-Beschluss“

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Kruzifix-Beschluss (BVerfG, Beschl. v. 16.05.1995): In einem Klassenzimmer hängt ein Kreuz an der Wand. Eine Lehrerin lehrt die Kinder, die an den Tischen sitzen.

§ 13 Abs. 1 BayVSO schreibt vor, dass in jedem bayerischen Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist. Die anthroposophisch geprägten Eltern E von Schulkind S fürchten sich vor dem christlichen Einfluss und klagen im Namen des S. Die eingelegten Rechtsmittel von S scheitern jedoch vor dem BayVerGH.

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Einordnung des Falls

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 1995 darüber zu entscheiden, ob § 13 Abs. 1 BayVSO, der vorschreibt, dass in jedem bayerischen Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, verfassungswidrig sei. Durch die Kreuze im Klassenraum wird die Freiheit der Schüler:innen berührt, von Glaubenssymbolen nicht geteilter Religionen fernzubleiben. Überdies befinden sich die Schüler:innen im Schulunterricht in einer unausweichlichen Situation, die nicht von Freiwilligkeit geprägt ist. Dies widerspricht gerade dem Minderheitenschutz, den Art. 4 Abs. 1 GG intendiert. Die Schule als staatliche Institution muss dabei in den Grenzen der zulässigen religiösen Bezüge grundsätzlich neutral bleiben. § 13 Abs. 1 BayVSO ist daher nichtig. § 13 Abs. 1 BayVSO verstößt mithin gegen die negative Glaubensfreiheit.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist die von S erhobene Verfassungsbeschwerde zulässig?

Ja, in der Tat!

Das BVerfG ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig. Das Urteil des BayVerGH ist als Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu qualifizieren. Darüber hinaus ist S durch das ablehnende Urteil auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Vorliegend ist ferner der Rechtsweg erschöpft. Der Kruzifix-Beschluss des BVerfG vom 16.05.1995 erzeugte heftigste Proteststürme. Der Beschluss wurde in Politik, Gesellschaft und juristischer Literatur extrem kontrovers rezensiert. Der größte Gegenwind kam dabei aus Bayern.
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2. Umfasst die von Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Glaubensfreiheit auch die negative Glaubensfreiheit?

Ja!

Auf der einen Seite gewährleistet die positive Glaubensfreiheit die Freiheit, sich einen Glauben anzueignen (forum internum) und diesen nach außen zu praktizieren (forum externum). Als Gegenstück garantiert Art. 4 Abs. 1 GG "umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben" (RdNr. 34). Eng verknüpft ist die negative Glaubensfreiheit dabei mit dem Gebot der staatlichen Neutralität. Der Staat kann nämlich nur dann eine friedliche Koexistenz der Religionen gewährleisten, wenn er selbst neutral bleibt.

3. Ist das Kreuz nach der Senatsmehrheit kein Ausdruck religiöser Überzeugungen, sondern nur Ausdruck der albländischen Kultur? Ist der Schutzbereich vorliegend nicht eröffnet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der Senatsmehrheit handelt es sich bei den strittigen Kreuzen um ein spezifisches Glaubenssymbol des Christentums. Zwar hat das Christentum über Jahrhunderte die abendländische Kultur geprägt, jedoch bleibt es Bezugspunkt des christlichen Glaubens. Es ist "geradezu Glaubenssymbol schlechthin" (RdNr. 44). Eine andere Auffassung käme der "Profanisierung des Kreuzes" gleich. Der Schutzbereich ist daher eröffnet. Die Senatsminderheit hielt das Kreuz demgegenüber nur für ein unspezifisches abendländisches Kultursymbol.

4. Hängt von der Bedeutung und Wirkung des Kreuzes auf die Schulkinder ab, ob ein Eingriff durch das im Klassenzimmer hängende Kreuz vorliegt?

Ja, in der Tat!

Besonders die Eingriffsschwelle ist in Kruzifix-Entscheidungen Gegenstand kontroverser Diskussion. Dem Kreuz im Klassenzimmer sei gerade wegen der unausweichlichen Situation eine Eingriffsintensität zuzumessen. Demgegenüber wird argumentiert, dass das Kreuz keine Verhaltenserwartung der Schüler hervorruft und der Einfluss nur gering ist. Nachdem die italienische Regierung Berufung eingelegt hatte, verneinte die Große Kammer des EGMR schließlich, dass das Kreuz Einfluss auf die Schüler habe (EGMR, Rs. 30814/06, Urt. v. 18.03.2011). Gerade an diesen Stellen bedarf es in der Klausur der Verwertung der Sachverhaltsinformationen mit eigenständiger Argumentation! Vertretbar ist hier recht viel.

5. Liegt ein Eingriff in die negative Glaubensfreiheit des S vor, aufgrund der Unausweichlichkeit die hinsichtlich des Lernens "unter dem Kreuz" besteht?

Ja!

Die Senatsmehrheit maß dem Kreuz einen appellativen Charakter zu. Zudem trifft die Wirkung des Kreuzes auf junge Schüler, die einer mentalen Beeinflussung besonders zugänglich sind.Deshalb ist die Eingriffsschwelle nach der Senatsmehrheit überschritten. Gerade, dass die Ausführungen des BVerfG an dieser Stelle recht dünn blieben, rief enorme Kritik in der juristischen Literatur hervor. Hauptkritikpunkt war, dass vom Kreuz keine Verhaltenserwartung an die Schüler ausging.

6. Kann der Eingriff gerechtfertigt werden, da S auch im Alltag außerhalb der Schule mit Kreuzen konfrontiert wird?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Konfrontation im Alltag mit dem Kreuz hat nach der Senatsmehrheit „nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit“ (RdNr. 39). Vielmehr werden die Schüler von Seiten des Staats im Unterricht gezwungen, „unter dem Kreuz“ zu lernen.

7. Kann der Eingriff durch Art. 7 GG gerechtfertigt werden?

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 7 Abs. 1 GG erteilt dem Staat einen Erziehungsauftrag. Bei der Erfüllung dieses Auftrags stehen die positive und negative Religionsfreiheit im Widerstreit. Diese Konflikte sind grundsätzlich im Wege der praktischen Konkordanz und mit Rücksicht auf das Toleranzgebot zu lösen. Der Staat muss bei der Erfüllung des Erziehungsauftrages nicht vollkommen auf religiöse Bezüge verzichten. Diese sind jedoch auf ein unerlässliches Minimum an Zwangselementen zu beschränken. Auch an dieser Stelle wurde die Senatsmehrheit kritisiert. Unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte von Art. 7 GG, argumentierte eine abweichende Meinung im Senat, dass "eine weitgehende Selbstständigkeit der Länder in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung der öffentlichen Schulen beabsichtigt war" (RdNr. 62).

8. Ist das Anbringen der Kreuze in Klassenräumen durch die Glaubensfreiheit von Schülern christlichen Glaubens gerechtfertigt?

Nein!

Die negative Glaubensfreiheit wird vorbehaltlos gewährleistet. Es bedarf deshalb eines widerstreitenden Gutes mit Verfassungsrang. Zwar ist die positive Glaubensfreiheit der Schüler christlichen Glaubens ein solches Gut. Jedoch verwies die Senatsmehrheit darauf, dass es in der Schule als staatliche Institution keinen Anspruch darauf gibt, die positive Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Hinzu kommt, dass die Glaubensfreiheit auf den Minderheitenschutz zielt. Eine Lösung nach dem Mehrheitsprinzip darf daher nicht erfolgen. Vielmehr muss der Staat seine Neutralität wahren. Die Kritik argumentierte, dass sich die widerstreitenden Glaubensfreiheiten nicht verdrängen, sondern Konflikte im Geiste des Toleranzgebotes zu lösen sind.

9. Verstößt § 13 Abs. 1 BayVSO gegen die negative Glaubensfreiheit von S und ist deshalb nichtig?

Genau, so ist das!

§ 13 Abs. 1 BayVSO ist nichtig, wenn durch das obligatorische Anbringen von Kreuzen die negative Glaubensfreiheit des S verletzt ist und dieser Eingriff nicht gerechtfertigt werden kann. Durch die Kreuze im Klassenraum wird die Freiheit des S berührt, von Glaubenssymbolen nicht geteilter Religionen fernzubleiben. Überdies befindet er sich im Schulunterricht in einer unausweichlichen Situation, die nicht von Freiwilligkeit geprägt ist. Dies widerspricht gerade dem Minderheitenschutz, den Art. 4 Abs. 1 GG intendiert. Die Schule als staatliche Institution muss dabei in den Grenzen der zulässigen religiösen Bezüge grundsätzlich neutral bleiben. § 13 Abs. 1 BayVSO ist daher nichtig.

10. Kurz nach dem Kruzifix-Beschluss erließ der bayerische Gesetzgeber ein Gesetz, das die Aufhängepflicht zwar beibehielt, aber um eine Regelung im Konfliktfall ergänzte.

Ja, in der Tat!

Der bayerische Gesetzgeber reagierte ungewöhnlich schnell mit einer gesetzlichen Neuregelung. So behält Art. 7 Abs. 3 BayEUG die Pflicht zum Aufhängen von Kreuzen in bayerischen Klassenzimmern bei. Bei Widerspruch durch Schüler bzw. Eltern soll durch den Schulleiter eine gütliche Einigung gefunden werden. Im Ergebnis wurde daher der Kruzifix-Beschluss des BVerfG nicht in Vollzug gesetzt. Diese Gesetzesnovelle war Gegenstand von Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (BayVerGH 50,156) sowie des BVerwG (BVerwG 6 C 18/98 - Urt. v. 21.4.1999). Beide Gerichten erachteten die Neuregelung für verfassungsgemäß.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jan M.

Jan M.

1.3.2022, 23:24:56

Finde ich mega dass ihr die Klassiker im Verfassungsrecht ausbaut! Die verfassungsrechtliche Dogmatik lernt man am besten mit den Urteilen, aus denen sie resultieren – gerne mehr davon, ich freue mich :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2022, 09:01:41

Lieben Dank, Jan. Wir bleiben auch hier weiter dran :-)

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

12.3.2022, 09:59:59

Finde die Klassiker super! Im Sachverhalt und der ersten Frage hat sich mir nicht ganz erschlossen, wer die VerfBeschwerde erhebt. S oder die Eltern E?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

14.3.2022, 13:55:02

Hallo Louvain, vielen Dank für den Hinweis. Der Fall ist hier auf die Verletzung von S Grundrechten zugeschnitten, weswegen wir es dahingehend präzisiert haben. Im Originalfall hatten die Eltern sowohl im eigenen Namen, als auch im Namen ihrer drei schulpflichtigen Kinder geklagt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CH

ChrisLeu

20.12.2023, 17:05:42

Ändert sich etwas mit dem BVerwG Urteil vom 19. Dezember 2023? Vielleicht kann man das mit einarbeiten. Ist natürlich noch sehr neu, also mehr Anregung als Kritik.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.1.2024, 09:31:22

Hallo ChrisLeu, bislang ist leider nur eine Pressemitteilung (https://www.bverwg.de/pm/2023/96) veröffentlicht und nicht die vollständigen Urteilsgründe. Die Pressemitteilung ist dabei durchaus nicht frei von Widersprüchen, wenn einerseits eingeräumt wird, es handele sich bei dem Kreuz um ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens. Andererseits wird letztlich nur behauptet, dass sich der Freistaat durch das Aufhängen nicht mit christlichen Glaubenssätzen identifiziere, sondern es sich dabei - ausweislich des Wortlautes der Verwaltungsvorschrift - lediglich um einen Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns handele (Kritisch dazu: Jacobs/Middeller, Jede hat ihr Kreuz zu tragen, Verfassungsblog vom 22.12.2023 = https://verfassungsblog.de/jede-hat-ihr-kreuz-zu-tragen/). Sobald die vollständigen Urteilsgründe vorliegen, werden wir uns damit noch einmal näher auseinandersetzen. Vorweg: Ein wesentlicher Unterschied der Fälle liegt aber u.a. darin, dass die Besucher der

Behörde

mit den Kreuzen nur flüchtig konfrontiert sind, während die Schüler "unter dem Kreuz" lernen mussten. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JI

Jimmy105

28.10.2024, 23:05:47

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