Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2019
Motorradhelmpflicht für Turbanträger
Motorradhelmpflicht für Turbanträger
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
S ist praktizierender Sikh und trägt aus religiösen Gründen einen Turban. Er beantragt eine Ausnahmegenehmigung zur Befreiung von der Helmpflicht beim Motorradfahren. Die Behörde lehnt den Antrag ab, denn eine solche Befreiung könne nur aus gesundheitlichen Gründen gewährt werden.
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Einordnung des Falls
Motorradhelmpflicht für Turbanträger
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Grundsätzlich besteht die Pflicht, beim Motorradfahren einen Schutzhelm zu tragen.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Nach der sog. Wesentlichkeitstheorie müssen besonders grundrechtsrelevante Maßnahmen vom Gesetzgeber selbst getroffen werden.
Genau, so ist das!
3. Die Helmpflicht (§ 21a Abs. 2 S. 1 StVO) ist verfassungswidrig, da sie aufgrund der damit verbundenen Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit in einem Parlamentsgesetz hätte geregelt werden müssen.
Nein, das trifft nicht zu!
4. S kann die von ihm begehrte Erteilung der Ausnahmegenehmigung mit der Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO) gerichtlich geltend machen.
Ja!
5. Die Rechtsgrundlage für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung (§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO) hat keine Tatbestandsvoraussetzungen.
Genau, so ist das!
6. S hat einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung, wenn das behördliche Ermessen auf Null reduziert ist.
Ja, in der Tat!
7. Eine Ermessensreduzierung auf Null könnte sich vorliegend aus der Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit des S (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) ergeben.
Ja!
8. Das Tragen des Turbans ist vom Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) umfasst.
Genau, so ist das!
9. Die Helmpflicht stellt einen Eingriff in die Glaubensfreiheit des S (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) dar.
Ja, in der Tat!
10. Eingriffe in die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) unterliegen nach der h.M. einem einfachen Gesetzesvorbehalt.
Nein!
11. Hier kommt als verfassungsimmanente Schranke die körperliche Unversehrtheit Dritter (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) in Betracht.
Genau, so ist das!
12. Der Konflikt zwischen der körperlichen Integrität Dritter (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und der Glaubensfreiheit des S (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) ist nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen.
Ja, in der Tat!
13. Bei der Abwägung überwiegt die Glaubensfreiheit des S, sodass ihm ein Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung zusteht.
Nein!
14. S hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung seines Antrags (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO).
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Waterink
15.5.2020, 10:52:28
Hallo, kann ich i.R.d. verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Helmpflicht auch mit der Schutzpflicht des Staates gegenüber S argumentieren?
deryaa
18.5.2020, 23:05:49
Gute Frage. Würde mich auch interessieren. Geht es bei der Schutzpflicht des Staates nicht darum, dass der Staat die Bürger vor gegenseitigen Übergriffen schützt? Bez. der körperlichen Unversehrtheit anderer könnte man sagen: Mit der Helmpflicht "schützt der Staat Unfallbetroffene/Dritte vor traumatisierenden Bildern eines Unfalls"; diesen Eindrücken werden Unfallsbetroffene/Dritte eben ausgesetzt, sobald jemand ohne Helm einen Unfall erleidet. Vielleicht ein Ansatz... aber mit der Schutzpflicht des Staates ggü S kann ich leider nichts anfangen. Mir drängt sich die Frage auf, was genau darunter zu verstehen ist: "Muss der Staat S vor sich selbst schützen" oder "Schützt der Staat S mit der Helmpflicht vor Verletzungen, die durch andere verursacht werden könnten?" Vielleicht weiß jemand mehr
Waterink
19.5.2020, 08:49:12
Guter Punkt. Mit einer Schutzpflicht des Staates gegenüber S lässt sich wohl nicht argumentieren, der Staat muss/darf/soll selbstverantwortliche Bürger nicht vor sich selbst schützen (BVerfGE 142, 313 (339)). Interessant wäre aber, ob - wie du schreibst - eine Schutzpflicht des Staates gegenüber potentiellen Unfallbeteiligten besteht, die bei einem Unfall des S dem Anblick schwerer Kopfverletzungen ausgesetzt wären. Ich kann mir vorstellen, dass es diesbzgl. am einer hinreichend konkreten Gefährdung der Gesundheit von Unfallbeteiligten fehlt - schließlich muss erst 1. ein Unfall passieren, 2. S eine entspr. Kopfverletzung erleiden und, 3. Unfallbeteiligte einen gesundheitlichen Schaden davon tragen.
Abcdef
19.5.2020, 17:09:59
Genau, der Staat darf den Menschen nicht zwangsweise vor sich selbst schützen, außer es mangelt an der Selbstbestimmungsfähigkeit. Deshalb kann nicht auf die körperliche Unversehrtheit des K abgestellt werden, sondern es muss auf die Dritter abgestellt werden. Der Gesetzgeber darf schon die Entstehung von Gefährdungslagen bekämpfen und auf eine Risikominimierung hinwirken. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Leben oder die körperliche Unversehrtheit; das Grundrecht stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet, noch bevor sich das Risiko konkret realisiert hat.
Lukas_Mengestu
21.10.2021, 10:11:45
Hallo zusammen, vollkommen richtig, dass hier die Schutzpflicht gegenüber S nicht als Argument herangezogen werden kann. @ Waterink: in der Tat hat das BVerfG dagegen auch auf die traumatisierende Wirkung auf andere abgestellt, d.h. auch diese darf berücksichtigt werden. So stellt es wörtlich fest: "Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung kann die Möglichkeit einer Traumatisierung durch den Anblick schwerer Kopfverletzungen auch nicht als rein hypothetische oder "weit hergeholte" Erwägung abgetan werden. Vielmehr sind entsprechende Beeinträchtigungen etwa bei Lokführern allgemein bekannt. Es ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt, in Ausübung seiner Schutzpflicht schon die Entsteehung von Gefährudnslagen zu bekäfung und auf eine Risikominimierung hinzuwirken. Art. 2II 1 GG gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Leben oder die körperliche Unversehrtheit; das Grundrecht stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet." (RdNr. 22) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
ri
20.10.2021, 14:36:42
Durch eine Befreiung werden auch die Rechte der anderen Pflichtversicherten beeinträchtigt. Ein Unfall ohne Helm führt zu erheblich schwereren Verletzungen und dementsprechend zu einer größeren Belastung für die Versicherung, die diese Belastung ausgleicht über eine generelle Anhebung der Pflichtbeiträge, wodurch indirekt alle Mitversicherten betroffen sind.