Aggressivnotstand

14. Juni 2025

10 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A und B gehen mit ihren Hunden spazieren. Auf einmal reißt sich der Hund des A (Hasso) los und greift Bs Hund (Rudi) an. Um Rudi zu schützen, entreißt B der Passantin P einen Regenschirm und schlägt damit auf Hasso ein. Dabei geht der Schirm zu Bruch. Hasso wird nur leicht verletzt.

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Einordnung des Falls

Aggressivnotstand

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Eigentumsverletzung der P durch B ist durch einen Defensivnotstand gerechtfertigt (§ 228 BGB).

Nein!

Die Beschädigung oder die Zerstörung einer Sache ist nicht rechtswidrig, wenn sie zur Abwendung einer Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht (Defensivnotstand (§ 228 BGB)). Dabei ist es erforderlich, dass (1) eine Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut besteht, (2) diese gegenwärtig ist und (3) die Gefahr von einer fremden Sache ausgeht. Damit kann im Gegensatz zu dem strafrechtlichen Notstand (§ 34 StGB) nur die Beschädigung oder Zerstörung einer Sache gerechtfertigt werden. Hier ging allerdings keine Gefahr von dem zerstörten Gegenstand (Schirm), sondern von Hasso aus.
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2. Die Eigentumsverletzung der P durch B ist durch einen Aggressivnotstand gerechtfertigt (§ 904 S. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Die Beschädigung oder die Zerstörung einer Sache ist nicht rechtswidrig, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist (Aggressivnotstand (§ 904 S. 1 BGB)). Die Unterscheidung zum Defensivnotstand liegt darin, dass beim Aggressivnotstand auf eine Sache zugegriffen wird, von der selbst keine Gefahr ausgeht. Daher sind die Anforderungen an das Verhältnis zwischen dem eingetretenen Schaden an der Sache und dem verhinderten Schaden an dem verteidigten Rechtsgut höher. (1) Eine gegenwärtige Gefahr für das Eigentum der B (Hund Rudi) lag durch den angreifenden Hasso vor. (2) Die Einwirkung mit dem Regenschirm bezweckte die Gefahrenabwehr und war zur Abwehr dieser Gefahr auch erforderlich. (3) Der drohende Schaden für B ist gegenüber dem sich aus der Einwirkung ergebenden Schaden für P auch unverhältnismäßig groß. (4) B hat auch in Kenntnis der Umstände und zum Zwecke der Gefahrenabwehr gehandelt.

3. P hat gegen B einen Anspruch auf Schadensersatz wegen der Einwirkung auf ihr Eigentum (§ 904 S. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Selbst wenn der Schädiger in Bezug auf deliktische Ansprüche gerechtfertigt ist, muss der Eigentümer die Beschädigung oder Zerstörung seines Eigentums nicht ersatzlos hinnehmen. Vielmehr kann der Eigentümer Ersatz des ihm entstehenden Schadens vom Einwirkenden verlangen. Zwar ist der Einwirkende dann immer noch einem Schadensersatzanspruch ausgesetzt, er handelt allerdings nicht mehr rechtswidrig. Dies ist insbesondere in Verbindung mit strafrechtlichen Normen relevant. Insoweit handelt es sich bei § 904 BGB auch um einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

21.11.2020, 14:17:37

Ein Aufbauschema dazu wäre noch schön.

EVA

evanici

11.9.2023, 13:42:18

§ 228 S. 2 ist ja auch eine AGL. Was könnte man sich darunter vorstellen? Wenn man den angreifenden Hund als Angegriffener zum Beispiel provoziert? Dann würde man bei der tatbestandlichen

Rechtswidrigkeit

im Rahmen von § 823 I trotzdem rausfliegen?

LI

Linitus

5.1.2025, 16:45:29

Sehe ich es richtig, dass es sich dann beim § 904 S. 2 um eine sachenrechtliche AGL Handelt? Falls ja, müsste man doch streng genommen nach der üblichen Reihenfolge erst den sachenrechtlichen und dann den deliktischen Anspruch prüfen oder nicht? Hier ist es doch aber so, dass wir erst durch die Prüfung des § 823 I auf den § 904 kommen…

Linne Hempel

Linne Hempel

24.4.2025, 15:49:22

Hey @[Linitus](277875), danke für die wichtige Frage! Zunächst einmal hast Du Recht damit, dass es sich bei dem Anspruch aus § 904 S. 2 BGB um eine sachenrechtliche Ausgleichsanspruch handelt. §

904 BGB

steht im Sachenrecht und regelt die Befugnis zur Einwirkung auf eine fremde Sache zur Gefahrenabwehr. Satz 2 enthält eine eigenständige, gesetzliche Anspruchsgrundlage für den Ersatz des Schadens, der dem Eigentümer durch diese gerechtfertigte Einwirkung entsteht. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen Schadensersatzanspruch im klassischen Sinne (so wie

§ 823 Abs. 1 BGB

), sondern soll einen Ausgleich für die Duldungspflicht aus § 904 S. 1 BGB schaffen. Letzteres wirkt sich auf die Prüfungsreihenfolge aus: Bei § 904 S. 2 BGB ist der Prüfungsaufbau etwas speziell, weil dieser Anspruch nur dann relevant wird, wenn eine Rechtfertigungslage nach § 904 S. 1 BGB vorliegt. Der Anspruch setzt damit also voraus, dass ein

rechtswidrig

es Handeln i.S.v.

§ 823 Abs. 1 BGB

nicht vorliegt. In der Prüfung ist es daher vorzugswürdiger, wie folgt vorzugehen: 1. Du prüfst zunächst den deliktischen Anspruch aus § 823 I BGB. -> Dabei kommst du zur Frage: Ist die Handlung

rechtswidrig

? -> Die

Rechtswidrigkeit

wird durch § 904 S. 1 BGB verneint (Rechtfertigungsgrund). 2. Erst dann kommt § 904 S. 2 BGB ins Spiel, weil er den Ausgleich trotz Rechtfertigung regelt. In der Regel geht eine Klausurfrage von dem deliktischen Anspruch gemäß

§ 823 Abs. 1 BGB

aus. Wenn die Frage aber einmal ausdrücklich nur auf etwaige Ausgleichsansprüche gerichtet sein sollte, kannst Du auch direkt § 904 S. 2 BGB prüfen und musst dann inzident feststellen, dass eine Rechtfertigung nach § 904 S. 2 BGB vorliegt. Jedenfalls ist es kein „Aufbaufehler“, wenn Du zuerst

§ 823 Abs. 1 BGB

prüfst, vielmehr wird dies gängigerweise erwartet werden:

§ 823 Abs. 1 BGB

ist der „natürliche“ erste Schritt bei einer

Eigentumsverletzung

. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

JC1909

jc1909

25.2.2025, 16:32:55

Kann man sich den Schadensersatz bei dem Hundehalter, der die Person zur Realisierung des Schadens am Regenschirm quasi herausgefordert hat, regress nehmen?

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

6.5.2025, 14:52:46

Hallo @[jc1909](167873), deine Idee ist völlig richtig: Es kann eigentlich nicht sein, dass B hier auf dem Schaden sitzen bleibt. Das Regressinteresse des B wird man in Form eines Anspruchs gegen A aus § 833 S 1 BGB zu prüfen haben. Dort wird man sicher kurz etwas dazu sagen müssen, dass hier das Verhalten des Hundes zwar kausal für die Rechts(guts)verletzung war, der Hund aber ja zB den Regenschirm nicht selbst zerbissen hat. In der Sache wird man das "selbstschädigende" Verhalten des B (indem der sich dem SchE-Anspruch nach § 904 S 2 BGB aussetzte) aber nach denselben Grundsätzen wie bei den Herausforderungsfällen zu beurteilen haben (dazu MüKoBGB/Wagner, 9. Aufl 2024, § 833 Rn 16). Man käme dann zum Ergebnis, dass B sich sehr wohl herausgefordert fühlen durfte und sogar nach § 904 S 1 BGB gerechtfertigt war und daher den SchE, den er an P zahlen muss, als eigenen Schaden ggü B geltend machen kann. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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