Strafrecht

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Klassiker im Strafrecht

Klassiker im Strafrecht: Hells Angels-Rocker erschießt SEK-Beamten und bleibt straffrei: Der Erlaubnistatbestandsirrtum - Jurafuchs

Klassiker im Strafrecht: Hells Angels-Rocker erschießt SEK-Beamten und bleibt straffrei: Der Erlaubnistatbestandsirrtum - Jurafuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Rocker R steht mit Schlafkleidung in seinem Haus und sieht eine dunkle Gestalt draußen, die er erschießt.

Rocker R ("Hells Angels") hört des Nachts dumpfe Geräusche. Jemand versucht, die Haustür zu öffnen, obwohl R ihn auffordert, zu verschwinden. R erwartet einen Killer und schießt durch die geschlossene Tür. Er tötet dabei den SEK-Beamten P, der R festnehmen wollte.

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Einordnung des Falls

Der Strafrechtsklassiker, den jeder Jurastudierende wohl im ersten Semester kennenlernt: der „Hell-Angels-Fall“. Ein Mitglied des Motorradclubs Hells Angels erschoss einen Polizisten während einer Razzia in seinem Haus. Der Mann glaubte, dass die Eindringlinge rivalisierende Gangmitglieder seien, die ihn töten wollten und er sich somit in einer lebensbedrohlichen Situation befand. Er befand sich also in dem Glauben, es läge eine Notwehrlage vor. Auch der sofortige Einsatz einer tödlichen Waffe des Täters sei angesichts seiner Wahrnehmung unmittelbarer Gefahr gerechtfertigt gewesen. Der Rocker befand sich also in einem straffreien Erlaubnistatbestandsirrtum.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat R den Tatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) erfüllt?

Genau, so ist das!

Durch den Schuss hat R den Tod des P in objektiv zurechenbarer Weise herbeigeführt und so den objektiven Tatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) erfüllt. Subjektiv ist vorsätzliches Handeln erforderlich. Vorsatz bedeutet Wissen und Wollen der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes. R dachte, er schieße auf einen Killer und nicht auf P. Diese Abweichung vom vorgestellten Tatverlauf (error in persona) ist jedoch wegen Gleichwertigkeit von vorgestelltem und tatsächlich getroffenem Ziel unbeachtlich. Weiter erkannte R die Möglichkeit eines tödlichen Treffers und nahm diesen zumindest billigend in Kauf. Mithin erfüllte R sowohl den objektiven, als auch den subjektiven Tatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).
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2. R handelte in Notwehr (§ 32 StGB). War sein Handeln gerechtfertigt?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Notwehr (§ 32 StGB) setzt sich aus objektiven (Notwehrlage und Notwehrhandlung) und einem subjektiven Element (h. M.: Verteidigungsabsicht) zusammen. Die Notwehrlage erfordert einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff (§ 32 Abs. 2 StGB). Ein Angriff ist jedes Verhalten, welches rechtlich geschützte Interessen bedroht oder verletzt.P wollte R festnehmen, sodass eine gegenwärtige Gefahr für die Freiheit des R vorlag. Diese war jedoch nicht rechtswidrig, da sich P auf § 127 Abs. 2 StPO berufen konnte. Folglich war der Angriff nicht rechtswidrig und es lag keine Notwehrlage vor. R handelte nicht in Notwehr (§ 32 StGB).

3. R handelte in rechtfertigendem Notstand (§ 34 StGB). War sein Handeln gerechtfertigt?

Nein!

Der Notstand (§ 34 StGB) setzt sich aus objektiven (Notstandslage, Notstandshandlung, Interessenabwägung, Angemessenheit) und einem subjektiven Element (h. M.: Rettungsabsicht) zusammen. Die Notstandslage erfordert eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut.Vorliegend fehlt es jedoch bereits an einem schutzwürdigen Rechtsgut, da die Rechtsgutsgefährdung von Rechts wegen hinzunehmen ist. § 127 II StPO berechtigt nicht nur den Festnehmenden, sondern erlegt dem Betroffenen zugleich eine Duldungspflicht auf. R war folglich nicht durch Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt.

4. R ging davon aus, er müsse sein Leben gegen einen Killer verteidigen. Unterlag R daher einem Erlaubnistatbestandsirrtum?

Genau, so ist das!

Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände für gegeben hält, die, sollten sie tatsächlich vorliegen, die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes erfüllen und sein Handeln rechtfertigen würden.R ging davon aus, ein Anschlag auf sein Leben stünde unmittelbar bevor und der Gebrauch der Waffe sei nötig, um sich zu verteidigen. Unterstellte man die Vorstellungen des R als gegeben, so lägen eine geeignete Notwehrlage und eine gebotene Notwehrhandlung samt Verteidigungswillen vor. Folglich wäre R nach § 32 StGB gerechtfertigt gewesen. R unterlag also einem Erlaubnistatbestandsirrtum.

5. Lässt die Rechtsprechung beim Erlaubnistatbestandsirrtum den Vorsatz entfallen?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist gesetzlich nicht geregelt. 1) Nur nach der strengen Schuldtheorie ist eine Bestrafung aus einem Vorsatzdelikt möglich. Sie wendet (streng) § 17 StGB an und lässt die Schuld nur entfallen, wenn der Irrtum unvermeidbar war. Die Theorie ist abzulehnen, weil der Täter beim Erlaubnistatbestandsirrtum (anders als beim Verbotsirrtum) keine falsche Auffassung von Recht und Unrecht hat. Er hält nur für erlaubt, was die Rechtsordnung auch wirklich erlaubt. 2) Nach allen anderen Theorien scheidet eine Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts aus: a) Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen lässt den Vorsatz entfallen (§ 16 Abs. 1 StGB). b) Die eingeschränkte Schuldtheorie genauso, nur in analoger Anwendung des § 16 Abs. 1 StGB. c) Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie (Rspr.) lässt nicht den Tatbestandsvorsatz, aber die „Vorsatzschuld“ entfallen (§ 16 Abs. 1 StGB analog).

6. Hat sich R durch den Schuss durch die geschlossene Tür einer fahrlässigen Tötung (§§ 222, 16 Abs. 1 S. 2 StGB) strafbar gemacht?

Nein!

Indem R durch die Tür schoss, führte er den tatbestandlichen Erfolg kausal herbei. Zudem müsste eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen. Dies bestimmt sich nach dem objektiven Horizont eines besonnenen Menschen in der konkreten Lage bei einer ex ante Betrachtung. Dagegen spricht, dass R nachts geweckt wurde und in Panik um sein Leben fürchtete. Der vermeintliche Killer stand bereits vor der Tür und reagierte nicht auf die Rufe des R. Auch ein besonnener Dritter hätte in dieser Situation nicht weiter abgewartet und seine Chancen verschlechtert. Folglich war der Irrtum für R nicht vorhersehbar und vermeidbar. Ein Fahrlässigkeitsvorwurf kommt nicht in Betracht.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?

  1. Notwehrlage
    1. Angriff
    2. Gegenwärtigkeit
    3. Rechtswidrigkeit
  2. Notwehrhandlung
    1. Erforderlichkeit
    2. Gebotenheit
  3. Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")

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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

25.6.2020, 01:26:51

Die Abkürzung ETI für den Erlaubnistatbestandsirrtum kenne ich nicht. Überall ließt man eigentlich "ETBI".

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

28.6.2020, 11:27:23

Hi, danke für die Anmerkung! Wir versuchen solche Art von Abkürzungen ohnehin zu vermeiden, um nicht den Eindruckt zu verstärken, dass Jura eine schwer zugängliche Geheimsprache ist. Wir haben das auch hier jetzt ausgeschrieben. Besten Gruß, - Christian

LO

lonin

13.5.2021, 13:25:20

Was ist das eigentlich für ein dummer Name? Nach der herrschenden orthodox-katholischen Auslegung ist dies ein Widerspruch in sich, nicht vertretbar und damit dumm.

LO

lonin

13.5.2021, 13:25:56

Konstruktiver Verbesserungsvorschlag: „Fallen Angels“

Tigerwitsch

Tigerwitsch

13.5.2021, 13:44:17

So heißt nunmal der Motorrad- und Rockerclub 😉 Der Name stammt ursprünglich aus einem Titel eines Howard-Hughes-Films, („Hell's Angels“) über Flugpioniere der Royal Flying Corps im Ersten Weltkrieg. Danach wurde im Zweiten Weltkrieg eine Bomberstaffel der US Army Air Force sowie wenigstens ein B-17F Flying Fortress Bomber benannt. Das hat der Club aufgegriffen.

YAN

yangbo

13.4.2023, 12:48:27

Hinsichtlich der Frage zur Position der Rechtsprechung heißt das im Ergebnis aber, dass der eingeschränkten Schuldtheorie gefolgt wird, der Vorsatz deswegen bestehen bleibt und man aber rechtsfolgeseitig über § 16 analog geht?

Benny0707

Benny0707

7.5.2024, 12:00:14

Hi @[yangbo](208159) . So siehts aus. Wie ich das verstanden habe, will die Rspr. damit der berechtigten Kritik der entgegenkommen, dass man bei der eingeschränkten Schuldtheorie durch das Entfallen lassen des Vorsatzes, einen eventuellen Teilnehmer privilegieren würde. Sprich: der Haupttäter handelt nach der eingeschränkten Theorie ohne Vorsatz und ist deswegen straffrei. Gibt es nun einen Teilnehmer, würde dieser ebenfalls straffrei bleiben, weil es schon an einer „vorsätzlichen“ rechtswidrigen Haupttat fehlt. Also wird der Teilnehmer trotz eventuell begangenem Unrecht nicht belangt. Wendet man nun über die Ansicht der Rspr. § 16 I StGB analog an, entfällt die sog. „Vorsatzschuld“ = Vorsatz (+), aber Schuld (-). Damit bleibt der Haupttäter immer noch straffrei, aber der eventuelle Teilnehmer könnte durch das Vorliegen einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Tat des Haupttäters belangt werden. Ich hoffe, dass ich diesen komplizierten Zusammenhang verständlich aufarbeiten und helfen konnte. LG Benny :)


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