Gemeinsamer Kalkulationsirrtum („Brockeneisenfall“)


mittel

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V verkauft K einen auf seinem Lagerplatz liegenden Haufen Altmetall. V und K schätzen unabhängig voneinander die Menge auf 40 Eisenbahnwaggons und setzen daraufhin den Gesamtpreis fest (€10.000). Beim Abtransport stellt sich heraus, dass die Menge 80 Waggons beträgt. V verlangt von K €20.000. K weigert sich mehr zu zahlen.

Einordnung des Falls

Gemeinsamer Kalkulationsirrtum („Brockeneisenfall“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Zwischen K und V ist ein Kaufvertrag über das gesamte Altmetall zu €10.000 zustande gekommen.

Ja!

Ein Vertrag kommt zustande durch zwei inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen: Angebot und Annahme (§§ 145, 147 BGB), die hier vorlagen. Die Parteien haben sich hier auch wechselseitig nach dem jeweiligen objektiven Empfängerhorizont (§ 157 BGB) auf einen bestimmten Preis für den gesamten Haufen Altmetall geeinigt. V und K haben die Berechnung für den Preis nicht offengelegt. Es liegen weder eine falsa demonstratio noch ein versteckter Dissens vor.

2. V kann seine Willenserklärung wegen eines „Kalkulationsirrtums“ anfechten (§§ 142 Abs. 1 Alt. 1, 119 Abs.1 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

V kann wegen Inhaltsirrtums anfechten, wenn Wille und Erklärung auseinander fallen. Allerdings hat V genau den Preis erklärt, den er auch erklären wollte. Die geschätzte Menge des Altmetalls war bloßer Beweggrund und Geschäftsgrundlage von K und V. Es handelt sich um einen beiderseitigen Irrtum der Parteien über die subjektive Geschäftsgrundlage (gemeinsamer Kalkulationsirrtum). Der Irrtum betrifft nicht die Willenserklärung, sondern die Willensbildung (Motivirrtum), weshalb eine Anfechtung ausgeschlossen ist. Ein solcher Fall wird nach den Regelungen über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) behandelt.

3. Eine Verdoppelung des Kaufpreises lässt sich im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ermitteln (§ 157 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Ergänzende Vertragsauslegung setzt eine ausfüllungsbedürftige Lücke im Vertrag voraus. Sie liegt vor, wenn bei Vertragsschluss ein bestimmter Umstand nicht oder falsch berücksichtigt wurde und dadurch die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wäre. Zwar besteht in dem Fehlen einer Vereinbarung für den Fall, dass die Mengenschätzung von K und V nicht stimmt, eine vertragszweckgefährdende Lücke im Vertrag. Allerdings ist dem hypothetischen Parteiwillen nicht zu entnehmen, dass sie den doppelten Kaufpreis für denselben Haufen Altmetall vereinbart hätten. Eine Lückenfüllung scheidet aus.

4. Vorliegend ist eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage dahingehend vorzunehmen, dass ein doppelter Kaufpreis gilt (§ 313 Abs. 1, 2 BGB).

Nein!

Zwar haben V und K eine bestimmte Mengenangabe zur Geschäftsgrundlage gemacht, die sich später als falsch herausstellte (reales Element). Auch hätten sie sich bei Kenntnis der richtigen Menge sicherlich auf einen höheren Preis geeinigt (hypothetisches Element). Zudem trägt V nicht grundsätzlich allein das Risiko, dass eine zu geringe Menge geschätzt wird und er somit deutlich unter Wert verkauft. Ein Festhalten am unveränderten Vertrag ist ihm also nicht zumutbar (normatives Element). Allerdings ist die Zahlung des doppelten Kaufpreises wiederum für K unzumutbar, sodass eine Verdoppelung des Kaufpreises gem. § 313 Abs. 1, 2 BGB ausscheidet.

5. V kann vom Vertrag zurücktreten (§ 313 Abs. 3 BGB).

Genau, so ist das!

Die Voraussetzungen für eine Vertragsanpassung nach dem Institut der Störung der Geschäftsgrundlage liegen grundsätzlich vor, nur ist eine solche für K unzumutbar. In diesem Fall kann V gem. § 313 Abs. 3 BGB vom Vertrag zurücktreten. Die empfangenen Leistungen (Kaufpreis und Altmetall) sind Zug-um-Zug zurückzugewähren (§§ 346 Abs. 1, 348 BGB), wenn V den Rücktritt erklärt.

6. Eine Vertragsanpassung kann grundsätzlich wegen Störung der Geschäftsgrundlage erfolgen (§ 313 Abs. 1, 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Die Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage setzt voraus, dass (1) Umstände, die zur Vertragsgrundlage geworden sind, sich nach Vertragsschluss schwerwiegend verändern oder als falsch herausstellen (§ 313 Abs. 2 BGB) (reales Element), (2) die Parteien den Vertrag in diesem Fall nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten (hypothetisches Element) und (3) einem Teil das Festhalten am unveränderten Vertrag aufgrund der gesetzlichen oder vertraglichen Risikoverteilung nicht zugemutet werden kann (normatives Element). Als Rechtsfolge kann Anpassung des Vertrags (Abs. 1), bei dessen Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit Rücktritt/Kündigung verlangt werden (Abs. 3).

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Helena

Helena

13.2.2022, 17:10:10

Ich bin etwas verwirrt hier, wieso die Vertragsanpassung nicht zumutbar ist. Die Verdopplung des Kaufpreises ist ja nicht die einzige Anpassung des Vertrags. Hätte eine einvernehmliche Abrede zu einem erhöhten Kaufpreis nicht auch Vorrang vorm Rücktritt? (Z. B. Kaufpreis Erhöhung auf 17.000 €)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.2.2022, 18:38:05

Hallo Helena, wann einen Anpassung unzumutbar ist und insofern nur der Rücktritt in Betracht kommt, ist leider wieder extrem einzelfallabhängig. In der zugrundeliegenden Originalentscheidung war das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage von der Rechtsprechung überhaupt noch nicht übernommen werden. Sofern eine einvernehmliche Abrede hier in Betracht gekommen wäre, lägen in der Tat die Voraussetzungen des Rücktritts nicht mehr vor. Wir haben zur Klarstellung die Weigerung des K mit aufgenommen. Im Hinblick darauf, dass er mit deutlich geringeren Kosten gerechnet hat, ist diese auch berechtigt, weshalb dann wiederum auch der Rücktritt des V zulässig ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

1.3.2022, 09:17:31

Ich kann keine Unzumutbarkeit für V erkennen. Wer einen Vertrag auf Grundlage einer Schätzung schließt, geht ganz bewusst das Risiko ein, dass sich die Schätzung als falsch erweist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.3.2022, 11:34:10

Hallo QuiGonTIm, das lässt sich gut hören. Das Merkmal der Unzumutbarkeit ist letztlich sehr wertungsoffen und einzelfallabhängig. Insofern kann man hier mit den entsprechenden Argumenten auch zu einer abweichenden Lösung kommen. Beste Grüße, Lukas -für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

3.4.2022, 18:44:10

Ist das tatsächlich ein geänderter Umstand, der nicht Vertragsbestandteil geworden ist?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.4.2022, 13:56:44

Hallo Isabell, Vertragsinhalt war ja primär, dass der Haufen Altmetall gegen einen Gesamtpreis von 10.000€ verkauft werden sollte. Der genaue Umfang wurde nicht explizit Vertragsinhalt, sondern war lediglich Geschäftsgrundlage. Beide gingen aber davon aus, dass es sich hierbei um etwa 40 Eisenbahnwaggons handelte. Hier stellte sich diese Geschäftsgrundlage spöter als falsch heraus (§313 Abs. 2 BGB). Denn tatsächlich waren es ja 80 Wagen. Insoweit kann man heutzutage die Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage anwenden (das RG hatte damals noch zurückverwiesen, um prüfen zu lassen, ob nicht doch eine Anfechtung in Betracht kommt. Denn die Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage waren da noch nicht in der Rechtsprechung verankert. Diese wurden erst mit der Hyperinflation in den 1920er Jahren von der Rechtsprechung übernommen und erst 2002 gesetzlich kodifiziert). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

4.4.2022, 14:03:36

Danke dir. Ich finde die Begriffe und die Definition aus diesem Regelungskreis so sperrig. Da bekomme ich immer Knoten ins Hirn.

RAP

Raphaeljura

19.5.2023, 07:23:24

Aber wenn die Leistung bereits erbracht wurde erscheint mir der Rücktritt nur bedingt zufriedenstellend.

TI

Timurso

19.5.2023, 09:26:59

Wieso das? V kann dann versuchen, dass Metall für 20.000€ an jemand anderen zu verkaufen

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.5.2023, 15:18:43

Hallo Raphaeljura, danke für deine Anmerkung. Das Rücktrittsregime, das ja nicht nur bei Störung der Geschäftsgrundlage Anwendung findet, sondern über die Verweise auch im Kaufrecht, Werkvertragsrecht und Co. sieht die Rückabwicklung Zug um Zug vor. Das kann man fragwürdig finden, macht aber im Ergebnis Sinn. So besteht die Möglichkeit, sich bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen vom Vertrag relativ leicht lösen zu können und anschließend die kostengünstigste Rückabwicklung absolvieren zu können. Wenn man überlegt, um welche Wertsummen es z.T. geht ist nachvollziehbar, dass die Parteien die nicht mehr an den Vertrag gebunden sein (wollen)/sind auch mit dem Vertragsobjekt nichts mehr zu tun haben wollen. Statt damit belastet zu werden, es doch noch weiterzuverkaufen und ggfs. schon vorher eine hohe Wertersatzschuld begleichen zu müssen werden die Leistungsgegenstände zurückausgetauscht und eine Abwicklung kann stattfinden. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

MAUR

Maurice66

3.7.2023, 17:42:25

Müsste sich hier der Verkäufer nach erklärtem Rücktritt an einem Kaufvertrag über 40 Waggons für 10.000€ festhalten lassen?

Richter Alexander Hold

Richter Alexander Hold

14.11.2023, 15:11:41

Nein, der Rücktritt führt gem. § 346 I BGB zur Aufhebung der beiderseitigen Vertragspflichten und zum Rückgewährschuldverhältnis.

NI

Niro95

29.3.2024, 08:27:14

Könnte man mittlerweile (nicht nach Rspr des RGs) nicht ggf. auch von einem

Eigenschaftsirrtum

ausgehen, weil hier ein Irrtum über die Quantität einer Sache vorliegt, ähnlich, wie wenn man von einem geringeren Goldanteil bei einem Schmuckstück ausgeht? Das Gewicht des Altmetalls ist ja eine verkehrswesentliche Eigenschaft und verrechnet haben sie sich hier nicht, nur die Eigenschaft der Sache falsch eingeschätzt. Was meint ihr?

Gruttmann

Gruttmann

29.3.2024, 10:37:14

Hallo, grundsätzlich problematisch ist das Konkurrenzverhältnis im Fall des beiderseitigen Motivirrtums. Nach einer Ansicht soll hier ausnahmsweise allein

§ 313 BGB

einschlägig sein. Begründet wird dies damit, dass es sonst vom Zufall abhinge, welche Partei im Fall des beiderseitigen Irrtums zuerst die Anfechtung erkläre und sich damit nach § 122 BGB schadensersatzpflichtig mache. Eine Anfechtung nach § 119 II BGB führe also zu unbilligen Ergebnissen. Nach herrschender Auffassung bleibt es hingegen beim Vorrang der Anfechtung. Denn welche Partei den Vertrag anficht, hängt nicht vom Zufall ab. Vielmehr wird dies regelmäßig nur diejenige Partei tun, für die der geschlossene Vertrag nachteilig ist. In diesem Fall erscheint es jedoch nicht unbillig der anderen Partei das negative Interesse nach § 122 BGB zu ersetzen. Für

§ 313 BGB

verbleibt der Anwendungsbereich somit nur für solche Irrtümer, die nicht zugleich ein Anfechtungsrecht begründen In diesem Fall ging man davon aus, dass ein Irrtum nicht allein aufgrund einer Schätzung vorliegt, sondern dass es darauf ankommt, ob die Schätzung zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Erklärungen gemacht wurde und ob die tatsächlichen Umstände eine solche Annahme rechtfertigen. Es wird betont, dass Versehen bei der Preisberechnung, die nicht Gegenstand der Verhandlungen waren, keinen Irrtum über den Vertragsinhalt begründen können. Ich denke mit der richtigen Argumentation kann man auch einen anfechtbaren Irrtum annehmen. Liebe Grüße, Gruttmann.

Pilea

Pilea

3.6.2024, 09:33:17

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