Eigenbedarfskündigung bei Härtefällen

21. November 2024

4,8(24.056 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E lebt mit seiner Familie in einer kleinen Wohnung. 2015 erwirbt er eine größere Wohnung, die seit 1974 an M vermietet ist. E erklärt die Kündigung wegen Eigenbedarfs. Die 79-jährige M widerspricht mit Verweis auf ihre Verwurzelung in der Umgebung, ihre Demenz und fehlenden Ersatzwohnraum.

Diesen Fall lösen 77,5 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Eigenbedarfskündigung bei Härtefällen

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Hessen 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E könnte einen Anspruch auf Herausgabe der Wohnung gemäß §§ 546 Abs. 1, 985 BGB haben. Voraussetzung ist, dass das Mietverhältnis wirksam beendet wurde.

Ja!

Der Eigentümer hat einen schuldrechtlichen Anspruch auf Rückgabe der Mietsache gemäß § 546 Abs. 1 BGB, sobald das Mietverhältnis beendet ist. Auch ein sachenrechtlicher Herausgabeanspruch gemäß § 985 BGB besteht ab diesem Zeitpunkt, da der Mieter sein Recht zum Besitz verliert. Ein Mietverhältnis kann unter anderem durch Kündigung beendet werden. Ein Mietverhältnis kann ferner etwa durch Aufhebungsvertrag oder Ablauf der vereinbarten Dauer bei einem befristeten Mietvertrag beendet werden.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Voraussetzung einer ordentlichen Kündigung ist ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses. Der Eigenbedarf ist ein solches berechtigtes Interesse.

Genau, so ist das!

Der Vermieter kann nur ordentlich kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat, § 573 Abs. 1 S. 1 BGB. Ein berechtigtes Interesse liegt unter anderem dann vor, wenn der Vermieter die Räume als Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Angehörige seines Haushalts benötigt, § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Achte beim Mietrecht immer darauf, ob es sich in der Klausur um eine Wohnung oder Gewerberäume handelt. Die hierbei unterschiedlich anwendbaren Normen solltest Du nicht verwechseln.

3. Der Vermieter benötigt die Mieträume i.S.d. § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB, wenn er aus einer objektiven Not heraus auf die Räume angewiesen ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Vermieter benötigt eine Wohnung bereits dann i.S.d. § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB, wenn sein Nutzungswunsch ernsthaft verfolgt wird und auf vernünftigen und nachvollziehbaren Gründen beruht. Es ist keine objektive Notlage des Vermieters erforderlich. E wohnt bislang mit seiner Familie in einer kleinen Wohnung und will deshalb in die erworbene größere Wohnung umziehen. Angesichts dessen ist sein ernsthafter Wunsch, mit seiner Familie in die von M gemietete größere Wohnung zu ziehen, vernünftig und nachvollziehbar.

4. Trotz Vorliegen der Voraussetzungen ist eine Kündigung rechtsmissbräuchlich und unwirksam, wenn eine vermietete Wohnung ausschließlich mit dem Ziel erworben wird, sodann wegen Eigenbedarfs zu kündigen.

Nein!

Eine Kündigung ist auch dann möglich, wenn der Eigentümer das Kündigungsrecht selbst herbeiführt. Denn Art. 14 Abs. 1 GG gibt dem Eigentümer die Befugnis, im Rahmen der gesetzlichen Grenzen frei über sein Eigentum zu verfügen. Eine Gesetzesauslegung, die dem Eigentümer das Kündigungsrecht allein deshalb nimmt, weil er den Eigenbedarf bewusst verursacht, wäre mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar (RdNr. 15). Es ist nicht rechtsmissbräuchlich, dass E die Wohnung in Kenntnis der Vermietung an M erworben hat und unmittelbar danach die Kündigung wegen Eigenbedarfs ausgesprochen hat. Die Kündigung ist trotz dieser Tatsache also wirksam.

5. Trotz gerechtfertigter ordentlicher Kündigung kann der Mieter unter bestimmten Umständen die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen.

Genau, so ist das!

§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB ermöglicht es dem Mieter, der Kündigung zu widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses zu verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. In Ausnahmefällen hat der Mieter somit trotz gerechtfertigter Kündigung einen Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.

6. Aufgrund der langjährigen Miete ist die betagte M tief verwurzelt in ihrer Umgebung. Das reicht für sich genommen aus, um eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB zu begründen.

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Nur solche mit einem Umzug verbundenen Nachteile kommen als Härtegründe in Betracht, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben (RdNr. 28). Die Faktoren einer langjährigen Mietdauer und damit einhergehenden Verwurzelung in der Umgebung begründen nicht zwingend eine Härte. Denn andernfalls wäre es bei jeder langjährigen Miete irgendwann unmöglich, das Mietverhältnis zu kündigen. Es müssen deswegen die im Einzelfall sich ergebenden Folgen eines Umzugs darauf geprüft werden, ob diese deutlich über die typischen Unannehmlichkeiten hinausgehen. Allein Ms langjährige Miete und tiefe örtliche Verwurzelung reichen für eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB nicht aus.

7. Die Demenzerkrankung der M kann zu einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB führen.

Ja!

Ist dem Mieter aufgrund seiner schweren Erkrankung ein Umzug unmöglich, stellt dies für sich genommen einen Härtegrund dar. Das Gleiche gilt, wenn zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands bei einem Wohnungswechsel besteht. Diese Prognose muss regelmäßig durch ein Sachverständigengutachten untermauert werden. Es ist möglich, dass die Demenzerkrankung der M für eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB ausreicht. Dafür muss aber gerichtlich festgestellt werden, dass eine gravierende Gesundheitsverschlechterung bei einem Umzug zu befürchten ist.

8. Ist es einem Mieter unter zumutbaren Bedingungen nicht möglich, eine angemessene Ersatzwohnung zu beschaffen, handelt es sich auch hierbei um einen Härtegrund.

Genau, so ist das!

Fehlender angemessener Ersatzwohnraum ist der einzige explizit im Gesetz genannte Härtegrund, § 574 Abs. 2 BGB. BGH: Angemessen ist eine Ersatzwohnung, wenn sie den Bedürfnissen des Mieters entspricht und sie finanziell für ihn tragbar ist (RdNr. 50). Die Bedürfnisse richten sich nach der persönlichen Lebensführung des Mieters. Die Ersatzwohnung muss der bisherigen Wohnung nicht gleichen, insbesondere nicht hinsichtlich ihrer Größe oder Miethöhe (Häublein, in: MüKo BGB, 8.A.2020, § 574 RdNr. 12ff.).

9. Handelt es sich bei dem Wohnort der M um einen angespannten Wohnungsmarkt im Sinne von § 556d Abs. 1 BGB, ist dies Beweis dafür, dass angemessener Ersatzwohnraum nicht beschafft werden kann.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein angespannter Wohnungsmarkt ist allenfalls Indiz für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 BGB. Zusätzlich muss ein Mieter konkret ergriffene Maßnahmen darlegen, mit denen er sich ernsthaft und nachhaltig um eine angemessene Ersatzwohnung bemüht hat. Mögliche Bemühungen, die der BGH im Rahmen der Wohnungssuche verlangt, sind die Inanspruchnahme der Hilfe von Verwandten und Bekannten oder öffentlichen und privaten Stellen sowie Recherche in geeigneten Medien (z.B. Zeitungsannoncen, Internet) (RdNr. 53).

10. Selbst wenn kein Umstand allein einen Härtegrund darstellt, kann sich aufgrund einer Gesamtschau der verschiedenen Umstände eine Härte ergeben.

Ja!

Eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB kann sich aus einer Gesamtwürdigung von Faktoren ergeben. Erforderlich ist, dass sich das Gericht nicht bloß ein oberflächliches Bild von den Umständen verschafft. Vielmehr ist eine umfassende Sachverhaltsaufklärung und konkrete Feststellung der möglichen Folgen eines Wohnungswechsels im Einzelfall erforderlich. Hier wirst Du in der Klausur die Dir gegebenen umfassenden Sachverhaltsinformationen würdigen müssen. Im Ausgangsfall konnte der BGH aufgrund der unzureichenden Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend bewerten, ob eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB vorlag. Der BGH hat die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

11. Sobald ein Härtegrund besteht, hat der Mieter Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.

Nein, das ist nicht der Fall!

Besteht ein Härtegrund, erfolgt daraufhin eine Interessenabwägung. Der Mieter hat nur dann Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses, wenn die mit der Beendigung des Mietverhältnisses verbundene Härte die berechtigten Interessen des Vermieters überwiegt, § 574 Abs. 1 S. 1 BGB. Das Bestandsinteresse des Mieters muss also gewichtiger sein als das Erlangungsinteresse des Vermieters

12. In der Interessenabwägung ist zulasten des E zu berücksichtigen, dass er die vermietete Wohnung mit dem Ziel der Eigennutzung erworben hat.

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Die Gerichte müssen die vom Vermieter und Mieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich respektieren und ihrer Rechtsfindung zugrunde legen. Eine vermietete Wohnung zu erwerben, um sodann die Eigenbedarfskündigung auszusprechen, ist Teil der Lebensplanung des E, die das Gericht nicht negativ bewerten darf. Ebenso ist Ms Lebensplanung, trotz ihres Alters in der großen Wohnung zu bleiben, zu respektieren. Bei der Interessenabwägung ist auch Art. 14 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen, der sowohl das von E erworbene Eigentum an der Wohnung, als auch das Besitzrecht der M schützt. Die widerstreitenden Wertentscheidungen des Art. 14 Abs. 1 GG sind in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.

13. Überwiegen die Interessen des Mieters gegenüber denen des Vermieters, wird das Mietverhältnis automatisch um ein Jahr verlängert.

Nein!

Gemäß § 574a Abs. 1 BGB kann der Mieter verlangen, dass das Mietverhältnis eine angemessene Dauer lang fortgesetzt wird. Einigen sich der Vermieter und Mieter nicht und ist ungewiss, wann die zur Härte führenden Umstände wegfallen, kann das Mietverhältnis durch Urteil auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden (§ 574a Abs. 2 BGB). Im Ausgangsfall hat der BGH den medienwirksamen Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen, da dessen Urteil sowohl bei der Feststellung der Härtegründe, als auch bei der Interessenabwägung Rechtsfehler aufwies. Dieser Fall bietet sowohl rechtlich als auch tatsächlich viel Raum für Argumentation. Mach Dir diese Spielräume in der Klausur zunutze und schreib nicht über die Probleme hinweg.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dominik

Dominik

15.2.2022, 18:44:34

Lief heute im 1. Examen in Hessen

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.2.2022, 19:19:32

Vielen Dank für den Hinweis, Dominik!

PLE

Pleodontorus

22.5.2022, 09:52:48

Lief auch ähnlich im Dezember 21 Durchgang in Hamburg

evamarie

evamarie

15.2.2022, 20:22:53

Müsste man 577a BGB hier eigentlich auch thematisieren? Demnach gilt doch eine Sperrfrist von drei Jahren nach dem Eigentümerwechsel bevor wegen Eigenbedarf gekündigt werden kann oder habe ich da was falsch verstanden?🙈

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.2.2022, 21:06:24

Hallo evamarie, hier musst Du aufpasssen. § 577a BGB ist nur in dem besonderen Fall anwendbar, dass eine Wohnung nach Überlassung an den Mieter in Wohnungseigentum (=Sondereigentum) umgewandelt wurde (vgl. § 3 bzw. § 8 WEG). Im Regelfall - so auch hier - ist dies indes bereits vor Überlassung an den Mieter erfolgt. Dann kommt es auf die Frist in § 577a BGB nicht an. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

KI

kithorx

13.3.2023, 17:28:44

Ich finde die zweite Frage missverständlich. Wie geschildert, wäre ja ein Benötigen i.S.v. 573 II 2 anzunehmen. Nur überschreitet die Situation die Mindestsnforderungen der Norm, auf die die Aufgabe offenbar abstellt.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

14.3.2023, 12:33:33

Hallo kithorx, danke für deine Anmerkung. Grundsätzlich zielt die Frage auf die grundsätzlichen Voraussetzungen der Norm ab, bevor sich die Aufgabe der konkreten Situation widmet. Es ist das Prinzip von Jurafuchs vom Allgemeinen zum speziellen zu gehen, genauso wie es auch in einer Klausur zu handhaben wäre. Es wird oftmals Fälle geben, in denen die Voraussetzungen nicht genau oder gerade so erfüllt sind, sondern sogar ein Mehr gegeben ist. Der Sachverhalt ist lebensnah, so wie es Klausuren auch sind. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

KI

kithorx

14.3.2023, 15:05:56

@[

Nora Mommsen

](178057) danke für die Rückmeldung! Das verstehe ich. Mir ging es hauptsächlich um die Formulierung, da es frustrierend ist, die Frage falsch zu beantworten, nur weil man sie falsch deutet 😊


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen