Enklaventheorie | größere, leicht transportierbare Sachen (1)


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Klassisches Klausurproblem

T nimmt in einem Selbstbedienungladen einen Schokoriegel aus dem Regal und steckt ihn in ihre Jackentasche. An der Kasse wird sie von dem Hausdetektiv D gestellt, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte.

Einordnung des Falls

Enklaventheorie | größere, leicht transportierbare Sachen (1)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Als der Schokoriegel noch im Regal lag, hatte der Inhaber des Ladengeschäfts Gewahrsam.

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Genau, so ist das!

Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Ob und wessen Gewahrsam besteht, ist nach den Umständen des Einzelfalles und den Anschauungen des Verkehrs oder des täglichen Lebens zu beurteilen. Die Besitzregeln des BGB, das auch Besitz ohne tatsächliche Herrschaft kennt, gelten insoweit nicht. Der Herrschaftswille braucht sich nicht auf einzelne Sachen zu erstrecken. Er kann auch allgemein bekundet werden. Die in Geschäftsräumen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf einem Bahnsteig zurückgelassenen Sachen stehen im Gewahrsam des Unternehmens.

2. T erlangt den Gewahrsam über den Schokoriegel erst, wenn sie das Ladengeschäft verlässt.

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Nein, das trifft nicht zu!

Nach allgemeiner Ansicht ist das Fortschaffen vom Tatort kein geeignetes Abgrenzungskriterium. Der Täter begründet auch innerhalb einer fremden Gewahrsamsphäre Gewahrsam, wenn er die Sache in eine Gewahrsamsenklave verschafft. Eine solche entsteht, wenn der Täter die Sache so eng in seine höchstpersönliche Sphäre bringt, dass nach der Verkehrsauffassung selbst im fremden Machtbereich der alte Gewahrsam schon beseitigt wird. Bei kleinen, leicht fortzuschaffenden Gegenständen begründet der Täter Gewahrsam, wenn er diese in seiner Kleidung oder einem mitgebrachten Behältnis verbirgt. T erlangt also bereits im Laden Gewahrsam, wenn er eine Gewahrsamsenklave schafft.Ob ihn das Personal dabei beobachtet oder nicht, ist irrelevant. § 242 StGB setzt Heimlichkeit nicht voraus.

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RAP

Raphaeljura

18.10.2023, 01:53:16

Es gibt Unverpackläden. Leute packen da Einkaufssachen in eigens mitgebrachte Behältnissen noch bevor Sie an der Kasse sind. Wie kann man das denn lösen? Manchmal sieht man auch im Supermarkt Leute die Sachen in eigenen Taschen zur Kasse bringen. Wie kann man das so lösen, dass keine Gewahrsamsenklave entsteht?

SE.

se.si.sc

18.10.2023, 07:50:50

Zunächst mal: Ob ein Gegenstand überhaut schon im Laden in eine Gewahrsamsenklave verschafft wird, hängt wie gesagt von der Verkehrsanschauung ab. ZB das bloße Stecken in eine mitgebrachte Einkaufstüte dürfte dafür jedenfalls nicht pauschal ausreichen. Unabhängig davon: Warum sollte es ein "Problem" sein, dass ein Gegenstand in eine Gewahrsamsenklave verbracht wird, dh warum sollte man Fälle so lösen, dass das nicht der Fall ist? Rein tatsächlich wird es dem Ladeninhaber und einem eventuellen Kaufhausdetektiv weitgehend egal sein, wie man einen Gegenstand zur Kasse transportiert, sofern man ihn denn auch bezahlt. Und rein rechtlich begründet selbst eine vollendete Wegnahme nur dann die Strafbarkeit, wenn der Gewahrsamsinhaber nicht einverstanden ist und auch entsprechender Vorsatz zur Wegnahme vorliegt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.10.2023, 11:47:55

Nur eine kleine Ergänzung aus der Praxis: Gerade der Wegnahmevorsatz ist hier von großer Bedeutung, weswegen ein Zugriff in der Regel erst nach dem Kassenbereich erfolgt. Denn bis dahin wird der entsprechende Vorsatz regelmäßig schwer nachzuweisen sein. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

B🐝

Bienenschwarmvereinigung 🐝🐝🐝

21.1.2024, 16:23:38

In dem einen Vertiefungshinweis steht, an Bahnhöfen, Supermärkten etc habe das jeweilige Unternehmen Gewahrsam. Ich dachte eine jur. Person könne kein Gewahrsam haben sondern nur der jeweilige Inhaber?

Skra8

Skra8

26.1.2024, 11:47:05

Leider finde ich den hier angesprochenen Vertiefungshinweis nicht. Allerdings ist das trotzdem ein guter Hinweis, wozu mich die Antwort auch interessieren würde, denn selbige Konstellation bietet sich bei der Subsumtion der ersten Frage ("Als der Schokoriegel noch im Regal lag, hatte der Inhaber des Ladengeschäfts Gewahrsam."). Hier steht, dass die in Geschäftsräumen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf einem Bahnsteig zurückgelassenen Sachen im Gewahrsam des Unternehmens stehen, während gerade die Aufgabe versucht Gegenteiliges klarzustellen.

Cosmonaut

Cosmonaut

1.2.2024, 18:19:53

@[Skra8](184520) @[unkreativ](190386) Folgendes ergibt sich aus der einschlägigen Kommentarliteratur: „Gewahrsamsinhaber können wegen des Erfordernisses eines Herrschaftswillens (→ Rn. 18) nur natürliche Personen sein, nicht aber juristische Personen (zB GmbH, AG; s. Fischer Rn. 13), Personengesellschaften (zB OHG, KG) oder Behörden (RGSt 60, 271). Bei diesen Personenvereinigungen können Gewahrsamsinhaber Organe, aber auch sonstige, tatsächliche Herrschaftsmacht über die Sache ausübende, natürliche Personen sein.“ (BeckOK StGB/Wittig, 59. Ed. 1.11.2023, StGB § 242 Rn. 19)

Skra8

Skra8

1.2.2024, 23:16:48

Hi @[Cosmonaut](188718), dieses Rechtsverständnis ist mir und, soweit ich das beurteilen kann, auch dem Kollegen @[unkreativ](190386) bekannt. Diesem Rechtsverständnis setze ich auch mit meiner Frage nichts entgegen. Zumal Jurafuchs in der hier vorliegenden Sektion das von dir Zitierte ebenfalls vertritt und entsprechend vermittelt. Vielmehr wundern sich der Kollege und ich darüber, dass in der hier angesprochenen Aufgabe Gegenteiliges zu deiner Recherche steht: Laut der Subsumtion der ersten Frage haben Unternehmen an in Geschäftsräumen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf dem Bahnsteig zurückgelassenen Sachen Gewahrsam. Hattest du bezüglich dieser Abweichung auch etwas in der Literatur gefunden?

Cosmonaut

Cosmonaut

4.2.2024, 13:36:02

@[Skra8](184520) Danke ob der Klarstellung! Nein, dazu habe ich nichts gefunden. M.E. wird aufgrund der Faktizität des Gewahrsamsbegriffs und dem mangelnden Vermögen von juristischen Personen Realakte zu vollziehen (-> Herrschaft innehaben / -> (Herrschafts-)Willen bilden) auch keine seriöse Quelle vergleichbares guten Gewissens vertreten können. In dubio pro reo sei dem JF-Team dann ein rhetorischer Griff unterstellt in Gestalt einer Metonymie des „Unternehmen“-Begriffs stellvertretend für die für das Unternehmen handelnden (menschlichen) Organe, wie der GF etc..


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