Strafrecht

BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung u.a.

Schwere Körperverletzung, § 226 StGB

Nr. 2: Wichtiges Glied - individuelle Verhältnisse: Vorschäden

Nr. 2: Wichtiges Glied - individuelle Verhältnisse: Vorschäden

3. Juli 2025

9 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Die Reiterinnen T und O zanken sich darum, wer welches Schulpferd in der Reitstunde reiten darf. T schlägt mit einer Mistgabel so auf O ein, dass der rechte Ringfinger der O endgültig versteift. Bei einem früheren Reitunfall hatte O schon den rechten Zeige- und Mittelfinger verloren.

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Einordnung des Falls

Nr. 2: Wichtiges Glied - individuelle Verhältnisse: Vorschäden

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Ringfinger der O ist ein "Glied des Körpers" (§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Genau, so ist das!

Der Begriff des Gliedes ist umstritten. (1) Die engste Ansicht zählt dazu nur äußerliche Körperteile, die eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus haben und mit dem Körper durch ein Gelenk verbunden sind (z.B. Arme, Hände, Finger(-glieder), Beine, Knie, Füße, Zehen). (2) Nach einer mittleren Ansicht, die von einer Verbindung durch Gelenke absieht, sind auch Nase, Ohr(-muschel) und äußere Genitalien erfasst. (3) Die weiteste Auffassung bezieht sogar auch innere Organe wie die Niere mit ein. Dies lehnt die Rspr. und h.L. ab. Der Ringfinger ist nach allen Ansichten ein "Glied des Körpers".
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2. Der rechte Ringfinger der O ist nach Ansicht des BGH und h.L. ein "wichtiges Glied des Körpers" (§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Ja, in der Tat!

Die Wichtigkeit des Gliedes bestimmt sich nach seiner generellen Bedeutung für den Gesamtorganismus. Wesentliche Körperfunktionen müssen beeinträchtigt sein. Ob darüber hinausgehend individuelle Verhältnisse des Opfers zu berücksichtigen sind, ist umstritten. Der BGH differenziert: Individuelle soziale Bezüge (z.B. Beruf) sind nicht zu berücksichtigen, die individuelle körperliche Verfassung (z.B. Rechts-/Linkshändigkeit, Vorschäden) dagegen schon. Geschützt sind die körperlichen Mindestfähigkeiten. Da der O bereits zwei Finger fehlen und ihr allein der Ringfinger als Greifmöglichkeit blieb, stellt dieser im Rahmen der individuellen körperlichen Verfassung auch ein wichtiges Glied dar.

3. O hat den Ringfinger "verloren" (§ 226 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 StGB).

Nein!

Verlust meint die völlige, möglicherweise erst durch ärztlich indizierte Amputation geschehene Abtrennung des Gliedes vom Körper. Os Ringfinger wurde von ihrem Körper nicht physisch losgetrennt.

4. O kann ihren Ringfinger "dauernd nicht mehr gebrauchen" (§ 226 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB).

Genau, so ist das!

Ein Glied ist nicht mehr gebrauchsfähig, wenn so viele Funktionen des Glieds ausgefallen sind, dass es nicht mehr bestimmungsgemäß eingesetzt werden kann. Gebrauchsunfähigkeit setzt keinen völligen Funktionsverlust des Glieds voraus. Es kommt im Einzelfall auf eine wertende Gesamtbetrachtung an. Dauernd meint die endgültige oder chronische Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit für einen unbestimmt langwierigen Zeitraum. Da Os Ringfinger versteift und nicht mehr bewegungsfähig ist, kann sie ihn auch nicht mehr bestimmungsgemäß einsetzen (z.B. Greifen). Auch muss O unabsehbar lange mit dieser Gebrauchsunfähigkeit leben.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CLAUD

Claudia

7.12.2021, 16:18:41

Bin ich die Einzige, die immer die Mindermeinung vertritt? 😀

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.12.2021, 18:42:20

Nicht verzagen, Claudia. Solange Du Deine Auffassung in der Klausur begründen kannst, hat sie ihre Berechtigung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Tekkie

Tekkie

18.3.2022, 18:51:24

Keine Angst Claudia, du bist nicht alleine. 😁 Bin hier auch ein großer Freund der Mindermeinung.

PR

Prokurist

30.11.2022, 00:35:06

@ Claudia: Mir bereitet die hM hier auch öfter mal Bauchschmerzen, aber man muss bedenken, dass der Täter bei Verneinung des § 226 ja nicht straflos bleibt und das Grunddelikt zudem einen Strafrahmen von bis zu 5 Jahren ermöglicht.

Inkognito

Inkognito

20.5.2025, 13:12:57

Ich vertrete in aller Regel die täterunfreundlichste Variant, daher ist es bei mir sehr variabel, tendiere aber wegen der oft sinnvollen praktischen Erwägungen zur Rechtsprechung. Ich kann mir aber in aller Regel sowieso nicht merken, wer was vertritt sondern nur die Meinungen an sich. Bisher hat mich das in den Klausuren noch nie wirklich Punkte gekostet.

TI

Tinki

10.12.2024, 12:27:14

Könnte jemand nochmal erklären, was der Hintergrund der Differenzierung des BGH ist? Verstehe nicht so ganz, warum, wenn der BGH sagt, dass es bzgl. der Wichtigkeit des Gliedes auf "den" im Sinne von einem Körper und nicht "seines" im Sinne des Körpers des Opfers ankommen soll, Vorschäden berücksichtigt werden...

GALA

galapagosgarry

9.2.2025, 16:38:01

Der BGH stellt auf die Greiffähigkeit ab. Diese ist in der Regel bei jedem Körper noch gegeben, wenn Zeigefinger und Daumen einsatzfähig sind. Sie ist bei jedem Körper nicht mehr gegeben, wenn der letzte "Gegenfinger" des Daumens unbrauchbar wird. Diese Bewertung ist für den BGH unabhängig vom Individuum für jeden Körper gültig. Der Beruf hingegen ist individuell.

Sege

Sege

10.2.2025, 14:24:09

Finde den BGH an der Stelle etwas inkonsistent. Normalerweise wird abstrakt die Wichtigkeit des Glieds begründet. Hier wird jetzt auf einmal auf subjektive Kriterien beim Opfer acht genommen. Warum dann nicht gleich von Anfang an auch diese heranziehen?

LUKA

Lukas_Schulle

26.5.2025, 16:08:42

Hier muss weiter differenziert werden. Wenn es allein um die Betrachtung der persönlichen Situation des Opfers geht, dürfen etwa der Beruf keine Rolle spielen (Wortlautargument "des Körpers"). Sehr wohl können aber medizinisch, bzw. körperlich vorgegebene Einschränkungen die "Wichtigkeit" beeinflussen. So ist entscheidend, ob es sich bei dem Opfer um einen Rechts- oder Linkshänder handelt, sofern es um den Verlust eines Fingers geht. Auch hier ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass eine Individualisierung stattfindet. Diese bezieht sich jedoch auf körperlich unmittelbare Begebenheiten und nicht auf der "freien" Entscheidung, einen bestimmten Beruf zu erlernen.


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